Arbeitermacht
Liga für die fünfte Internationale

Nord & Südamerika Europa Asien & Australien


google.de arbeitermacht.de

Replik der Gruppe Arbeitermacht auf das Griechenland-Statement von Horst Hilse (NaO-Köln)

Revolutionärer Bruch oder zentristischer Eiertanz?

Hannes Hohn, Infomail 827, 24. Juni 2015

Horst Hilse (i.w. HH) betrachtet seinen Text „Die Regierung Tsipras verteidigen“ (http://nao-prozess.de/die-regierung-tsipras-verteidigen) als „kritische(n) Auseinandersetzung mit dem Aufruftext der Berliner NaO zur Solidaritätsdemo am 20. Juni“ (Kompromissloser Widerstand gegen die Troika-Erpresser! http://nao-prozess.de/kompromissloser-widerstand-gegen-die-troika-erpresser). Fälschlicherweise sieht HH die Forderung nach „Hinauswurf der ´bürgerlichen Minister´ des nationalistischen Koalitionspartners ANEL“ als im „Vordergrund“ stehend an. Das ist falsch! Die Betonung des Berliner Aufrufs liegt u.a. auf der Ablehnung der Troika-Politik und der Solidarität mit Griechenland. Es wird auch klar gesagt, dass wir die Tsipras-Regierung gegen die Angriffe der Troika verteidigen. HHs Vorwurf geht also ins Leere. Würde die ANEL-Frage tatsächlich im Vordergrund stehen, wäre das in der gegenwärtigen Situation - und zudem in einem Demo-Aufruf - allerdings eine falsche Schwerpunktsetzung. Doch dem ist eben nicht so. HH baut einen Popanz auf.

Allerdings sah die NaO Berlin es für antikapitalistisch-revolutionäre Linke als notwendig an, auch auf einige relevante Fragen der Politik von Syriza und der politischen Taktik ihr gegenüber einzugehen. Schließlich geht es auch um die Frage des „revolutionären Bruchs“, also darum , wo sich solche Bruchlinien auftun und wie das NaO sich dazu verhalten muss. Diese grundlegende Intention ist auch im NaO-Manifest - der aktuellen politischen Grundlage der NaO - klar formuliert.

Diese Aufgabe stellt sich schon deshalb, weil in der griechischen Linken und in Syriza selbst eine heftige Debatte und politische Polarisierung zu beobachten ist. Wer - wie leider die rechteren Teile der NaO - meint, dass sich die NaO dazu nicht äußern könnte oder sollte, liefert damit eine politische Bankrotterklärung und beweist, dass ihr Internationalismus letztlich eine hohle Phrase ist und sich auf das „Üben von Solidarität“ (was richtig ist) beschränkt.

Es ist recht eigentlich erheiternd, dass HH selbst mögliche Szenarien für Griechenland und die Syriza-Regierung aufzählt - es dann aber ablehnt, konkret Stellung zu beziehen und Vorschläge zu machen. Hier schimmert die verbreitete Haltung in der deutschen Linken durch, dass man anderen Ländern „nichts vorschreiben“ solle und könne, weil das „autoritär“ wäre. Das ist so, als würde das Haus brennen und dem Nachbarn wäre es egal, welche Methode der Brandbekämpfung geeignet ist, und lediglich meint, dass das Löschen an sich richtig wäre. Das Problem ist jedoch, dass die Brandbekämpfung von reformistischen oder zentristischen Kräften meist unwirksam ist und die Löschtrupps eher behindern.

Was HH einzig und wirklich Sorge bereitet, ist die Angst, dass die Syriza-Regierung scheitern könnte. Warum? Weil es danach nur noch schlechter werden kann. Das ist durchaus möglich. Doch die Frage für uns muss eine ganz andere sein: Was können die Linke und die Arbeiterklasse in Griechenland und anderswo tun, damit die Krise in Griechenland und die damit verbundene Krise von Syriza (als Partei und als Regierung) revolutionär gelöst werden kann. Dass diese Frage im Papier von HH noch nicht einmal aufgeworfen, geschweige denn beantwortet wird, sagt eigentlich schon alles darüber aus, was sie taugt.

Was sind für HH die zentralen politischen Aufgaben?

„Unsere Aufgabe in Deutschland ist es in erster Linie, eine Solidaritätsbewegung gegen die EU Sparpolitik aufzubauen und Aufklärung über das EU-Ausplünderungsmodell in jeder Form zu betreiben.“ Aufklärung und Solidarität also. Völlig richtig.

Und weiter: „Auch der brain drain durch die vielen jungen Auswanderer ist von uns zu thematisieren!“ Und „Die Frage der Schulden aus den deutschen Nazijahren ist immer wieder aufzugreifen und den Schäubles und co. Vorzuhalten!“

All das ist richtig - doch das Schicksal Griechenlands wird nicht durch Aufklärung, ja noch nicht einmal durch Solidarität bestimmt, sondern v.a. davon, was die Linke, was die ArbeiterInnenklasse in Griechenland selbst tun oder nicht tun. Dass das Gros der deutschen Linken diesen u.a. Fragen (z.B. Palästina) ausweicht, lässt sich allein schon an der weitgehenden praktischen Untätigkeit und dem fast völligen Fehlen politisch-programmatischer Alternativen ablesen. HH haut in die gleiche Kerbe. Da nützt es auch nichts, „Die Teilnahme von griechischen Faschisten der Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte) an Nazitreffen in Deutschland und Russland“ anzuprangern. Selten wurde so deutlich, dass man dem Hauptkriegsschauplatz ausweicht, indem man sich auf Nebenkriegsschauplätze orientiert. So kann man vielleicht einer verbreiteten linken Mentalität gerecht werden - den Klassenkrieg kann man so nicht gewinnen.

Aber von solchen politischen Dimensionen ist HH ohnehin meilenweit entfernt. Denn, wie er schreibt, „gibt (es) jede Menge zu tun“ - allerdings alles „noch vor der sozialistischen Revolution in Europa …“. Das ist wohl wahr, doch in welcher Beziehung steht denn unsere aktuelle Politik mit der Revolution? Wie kann das revolutionäre Potential vergrößert, wie kann der „revolutionäre Bruch“ vorangetrieben werden?

Wie ist die Lage in Griechenland zu charakterisieren?

Dieser Fragen entledigt sich HH ganz elegant, indem er meint, dass zwar „In Griechenland derzeit ein verschärfter Klassenkampf statt(findet), der aktuell mit einer 'revolutionären Situation' nicht adäquat beschrieben ist.“

Das NaO-Flugblatt, gegen das sich HHs Bemerkung richtet, spricht - nebenbei bemerkt - gar nicht davon, dass wir zur Zeit eine revolutionäre Situation in Griechenland hätten, es spricht nur davon, unter welchen politischen Voraussetzungen sich eine solche Zuspitzung ergeben würde:

„Mit dieser Kompromiss-Politik der Syriza-Mehrheit muss jetzt konsequent gebrochen und der Widerstand in Griechenland verbreitert werden: Betriebsbesetzungen, ArbeiterInnenkontrolle gerade auch über den Außenhandel, entschädigungslose Enteignung der Banken, Schluss mit den Schuldenzahlungen – der Phantasie der Lohnabhängigen sollten keine Grenzen gesetzt sein. Der immer stärker werdende Widerstand innerhalb Syrizas muss sich der Politik und der Regierung Tsipras konsequent widersetzen, den Rauswurf von Anel einfordern, im Parlament gegen alle Austeritätsprogramme stimmen und sich auf der Straße und in den Betrieben mit den revolutionären Kräften außerhalb Syrizas in einer konsequenten, antikapitalistischen Organisation vereinigen. Eine solche revolutionäre Zuspitzung der Lage würde unserer Ansicht nach die Notwendigkeit einer sozialistischen Regierung auf die Tagesordnung setzen, die die Wirtschaft auf Basis eines demokratischen Plans reorganisiert, den bürgerlichen Staatsapparat zerschlägt und durch Arbeiter, Bauern- und Soldatenräte ersetzt.“

Doch ein genaues Eingehen darauf, was die Berliner NaO-Mehrheit bzw. ihre UnterstützerInnen sagen, erspart sich Hilse lieber. V.a. aber weicht er der Frage aus, wie die aktuelle Lage und die gegenwärtige Periode einzuschätzen sind.

Wie wird die Situation von HH eingeschätzt, wenn nicht als revolutionär oder vor-revolutionär - die  Antwort ist: gar nicht. Hier zeigt sich das ganze Dilemma, die ganze Oberflächlichkeit und Substanzlosigkeit; ein revolutionärer Marxist (und als solcher versteht sich ja wohl auch HH), der eine solche Situation nicht klar analysiert und sich nicht wenigstens um eine solche Analyse bemüht … ja, was ist dessen Analyse wert?! Nichts!

Wenn es irgendwo in Europa eine politische und ökonomische Zuspitzung gibt, die nur revolutionär oder konterrevolutionär gelöst werden kann, dann in Griechenland. Und wenn es dort (noch) keine Revolution gibt, dann nur deshalb, weil es keine revolutionäre politische Kraft gibt, die das will und dafür politisch auch gerüstet ist. Wo und wann soll sich denn ein „revolutionärer Bruch“ vollziehen, wenn nicht in Situationen wie jetzt in Griechenland?! Wozu das ganze Palaver vom „revolutionärer Bruch“, wenn es dann, wenn es drauf ankommt, nicht dazu führt, ihn zu vollziehen?!

Unserer Auffassung nach haben wir es in Griechenland seit Jahren mit einer vor-revolutionären Situation zu tun. Das „alte“ Gleichgewicht zwischen den Klassen ist zerbrochen, was sich in mehreren vor-revolutionären und auch revolutionären Zuspitzungen seit 2008, dem Zusammenbruch der PASOK, der Krise des gesamten politischen Systems und seiner tradierten Repräsentanten, ja nicht zuletzt auch im Aufstieg von Syriza zeigt.

Der griechische Kapitalismus ist einer tiefen, historischen Krise, der nur gesellschaftlichen Niedergang bringt und bringen kann. Doch die Politik der Parteien der ArbeiterInnenklasse bleibt weit hinter diesen Anforderungen zurück, was auch dazu führt, dass die Zuspitzung der Lage von Seiten der ArbeiterInnenklasse weit hinter dem eigentlich Möglichen und Notwendigen zurückbleibt. Die Lage gleicht, bei allen Unterschieden, jener, die Trotzki in Frankreich in der Periode der Volksfront analysiert hat.

„Die Situation ist so revolutionär, wie sie bei einer nicht-revolutionären Politik der Arbeiterparteien nur sein kann. Genauer: die Situation ist vor-revolutionär. Damit diese Situation reif werde, ist sofortige, kühne und unermüdliche Mobilisierung der Massen unter den Losungen der Machteroberung im Namen des Sozialismus notwendig. Unter diesen Bedingungen allein wird die vorrevolutionäre Situation zu einer revolutionären werden. Im entgegengesetzten Fall, d.h. wenn man weiter auf der Stelle tritt, wird sich die vorrevolutionäre Situation unabwendbar in eine konterrevolutionäre verwandeln und der Sieg des Faschismus ist unvermeidlich.

Die rituelle Phrase von der ‚nichtrevolutionären Situation’ dient heute einzig und allein dazu, die Arbeiter zu verdummen, ihre Willenskraft zu brechen und dem Klassenfeind die Hände zu lösen. Unter der Hülle solcher Phrasen sammelt sich auch bei den Spitzen des Proletariats Konservativismus, Schlappheit, Stumpfheit, Feigheit und Katasprophe bereitet sich vor wie in Deutschland“ (Trotzki, Nochmals, wohin geht Frankreich?, in: Trotzki, Wohin geht Frankreich, Broschüre des Spartacusbund, Ergebnisse und Perspektiven Verlag, S. 30)

Zurecht bestimmt Trotzki den Charakter der „Situation“ in Frankreich Mitte der 30er Jahre nicht danach, ob in jeder einzelne Stunde die Revolution aktuell ansteht, sondern danach, dass eine Lage entstanden ist, die durchaus einige Jahre andauern kann, in der ein bestehendes Kräfteverhältnis zwischen den Klassen, die Ordnung der Gesellschaft so erschüttert ist, dass sie nur durch einen Sieg der Revolution oder der Konterrevolution gelöst werden kann. Eine solche Lage oder Periode haben wir auch heute in Griechenland.

Was heißt das aktuell und konkret? In der Linken und auch in Syriza formieren (und stärken!!!) sich  die Kräfte, die mit dem Schlingerkurs von Tsipras nicht einverstanden sind und nach einer linken Alternative suchen. Diese Kräfte - und andere - sind es, die nun mit der Tsipras-Politik brechen müssen und eine andere, wirklich antikapitalistische Politik durchsetzen müssen. Sollte das in Syriza nicht möglich sein (wovon wir ausgehen) müssen sie den Schritt gehen, mit Syriza zu brechen und eine neue, revolutionäre Partei aufzubauen und zu versuchen, die subjektiv revolutionären Kräfte außerhalb Syrizas zu gewinnen (v.a. in Antarsya). Wie die Krise weitergeht, auf welche Höhen und Tiefen, in welche Umwege und Sackgassen sie führen mag, wissen wir nicht; doch selbst wenn eine revolutionäre Lösung ausbleibt, würde es ein immenser Erfolg und ein Wechsel für die Zukunft sein, wenn eine solche Kraft entstehen würde. Es wäre ein Fanal für die weltweite Linke, mit der Nachtrab- Anpassungs- und Unterordnungspolitik unter die diversen Flügel des Reformismus endlich zu brechen. HHs Politik steht nicht für den „revolutionären Bruch“, sondern für den politischen Bankrott der Linken. Das sind harte, aber notwendige Worte, doch wir können unsere Einschätzung auch belegen.

Zunächst zur Einschätzung der Lage. HH schreibt: „In den drei Jahren von 2010 – 2013 wurden massive Zerstörungen aller Sozialsysteme unter dem verharmlosenden Namen von „Sparprogrammen“ durchgesetzt. Die griechische Arbeiterbewegung wurde trotz massenhafter Abwehrkämpfe um Jahrzehnte zurückgeworfen.“

Das ist falsch. Die Arbeiterbewegung hat zwar Niederlagen, ja bittere Niederlagen eingesteckt, doch andererseits hat sie gekämpft, sie hat sich politisch nach links gewendet, sie hat viele (nicht alle) Illusionen in den Euro, in die EU, ja in den Kapitalismus verloren. „Um Jahrzehnte zurückgeworfen“ wäre sie vielleicht dann, wenn sie aktuell geschlagen würde, doch soweit ist es noch nicht. Dass HH trotzdem zu seiner Einschätzung des „Zurückgeworfenseins um Jahrzehnte“ kommt, liegt daran, dass er ein ökonomistisches und undialektisches Verständnis von Klassenkampf und Bewusstseinsentwicklung der Klasse hat. Nicht nur das Auf und Ab des Kampfes, sondern auch (und in letzter Instanz vor allem) das Bewusstsein davon sind entscheidend für die Formierung der Klasse als revolutionäres Subjekt. Ein revolutionäres Bewusstsein bildet sich aber nie allein oder „automatisch“ dadurch, dass es „erfolgreiche“ Klassenkämpfe gibt. Dazu braucht es auch eine bewusste und organisierte revolutionäre Vorhut, wie schon Marx und Lenin es betonten und praktizierten. An einer solchen Vorhut fehlt es in Athen und überall auf der Welt. Allerdings gibt es in Griechenland dafür bessere Ansätze als je zuvor in den letzten Jahrzehnten.

Einschätzung Syrizas

Zur Einschätzung Syrizas. HH schildert die Partei als „neue(s) erfolgversprechende(s) linke(s) Parteiprojekt“. Was ist lt. HH der Klassencharakter von Syriza? Fehlanzeige. Syriza ist eine reformistische Partei, eine bürgerliche Arbeiterpartei - bürgerlich in Politik, Führung und Struktur, proletarisch hinsichtlich ihrer sozialen Basis. Das „links“ sagt überhaupt nichts aus. Eine Leerformel. Warum eine solche Partei „erfolgversprechend“ sein soll, weiß nur HH. „Erfolgversprechend“ für wen und für was?!

Eine ganz andere Frage ist, dass aus Syriza heraus - wenn die objektiven Widersprüche der Lage in dieser Partei durchschlagen und in ihr den Graben zwischen letztlich unvereinbaren Klasseninteressen vertiefen und zu politischer Polarisierung bis hin zur Spaltung führen können - sich eine revolutionäre Alternative bilden kann. In dieser und nur in dieser Hinsicht kann Syriza „erfolgversprechend“ sein. Davon ist bei HH jedoch eben gerade nicht die Rede.

Zu den aktuellen Entwicklungen. HH führt aus: „Das erklärt auch die nach der Wahl so rasant angestiegene Zustimmung der Bevölkerung zu dieser Regierung, obwohl bisher nur wenige Wahlversprechen eingelöst wurden: Bei heutigen Neuwahlen würde Syriza locker die Stimmenzahl verdoppeln.“ Eine kühne Behauptung. Natürlich sind solche Wendungen möglich, doch in beiderlei Richtung. Sollte nämlich Syriza an der Troika-Klippe zerschellen, würden sich die Massen schlagartig von ihr abwenden. Dasselbe ergibt sich mit Notwendigkeit, wenn sich Tsipras und Co. der Troika unterwerfen.

Andererseits verwickelt sich HH auch in einen kompletten Widerspruch. Wenn Syriza bei Neuwahlen so gut abschneiden würde - warum kündigt Tsipras dann die Koalition mit ANEL nicht sofort auf?! Und selbst wenn dann Syriza formell, nach der parlamentarischen Arithmetik in der Minderheit bliebe - warum soll man dann nicht, gestützt auf die riesige Zuwendung der Massen, weiterregieren und die gesellschaftliche Basis des Regierungshandels auf Organe der Massen außerhalb des bürgerlichen Staates legen?! HH bleibt die Antwort auf eine Frage, die er im Prinzip selbst aufwirft, schuldig. Allerdings hat er sehr wohl eine Antwort parat: Unterstützung von Syriza um jeden Preis! Doch auf diese „Krönung“ der revolutionären Politik von HH kommen wir noch zurück.

Zunächst zurück zur aktuellen Lage. HH meint: „Für die Menschen sind auch die bisherigen geringen Veränderungen wichtig: So wurden die Steuerpflichten den 300.000 ärmsten Haushalte erlassen; so dürfen Tarifverträge nicht mehr durch einseitige Willenserklärung der Unternehmerverbände außer Kraft gesetzt werden; so darf die Polizei bei Demonstrationen keine scharfen Waffen mehr tragen; so wurden die Putzfrauen der Ministerien wieder eingestellt und die ganze Führung der Faschistenbanden verhaftet.“ Dazu wollen wir im Sinne Brechts fragen: Gut, das ist der Pfennig, aber was ist mit der Mark? Oder: Was ist mit der Macht, was ist mit dem Eigentum usw. usf. Auch hier flaniert HH programmatisch in der Etappe und hält sich fern von den Brennpunkten des Klassenkampfes.

Geradezu peinlich wird es dann, wenn HH folgendes zu ANEL schreibt: „Grade unter dem nationalistischen Innenminister Anel wurden für die Flüchtlinge wichtige Veränderungen erzielt: die Küstenwache darf keine Flüchtlingsboote mehr aufs Meer schleppen und ist zur Hilfe verpflichtet, eine regelmäßige medizinische Betreuung und Ernährung der Flüchtlinge wurde sichergestellt. Das wurde möglich, weil der Minister von einem „Kranz“ von Staatssekretären eingerahmt wurde, die oftmals dem linken Parteiflügel zugehören.“

Was würde HH wohl sagen, wenn er über die Politik der Bolschewiki 1917 lesen würde, dass diese nicht den Rauswurf der bürgerlichen Minister aus der Kerenski-Regierung gefordert hätten, sondern deren „Einrahmung“ durch linke Staatssekretäre? Was bedeutet denn die Aussage von HH „Grade unter dem nationalistischen Innenminister (...)? Sind gewisse „Verbesserungen“ für Flüchtlinge trotz oder wegen ANEL erfolgt?! Hätte Syriza das nicht auch oder sogar besser ohne ANEL machen können?! In Wahrheit zeigt sich an diesem Beispiel, wie schwach die Position von ANEL in Wirklichkeit ist. Was folgt für HH daraus, etwa, dass Syriza gar nicht auf ANEL angewiesen wäre und sich stattdessen v.a. auf die Massen, auf deren Strukturen und Mobilisierungen stützen sollte? Keineswegs! Lenin hätte HHs Position als „parlamentarischen Kretinismus“ bezeichnet. Und wir bezeichnen uns als Leninisten.

Wer meint, wir täten HH hier unrecht, der lese folgende Zitat aus dem Text der Kölner NaO: „Die Massenbewegung ist von den Straßen verschwunden und viele engagieren sich in vielen verschiedenen Projekten, was den linken Syriza- Flügel stärkt.“ Wir dachten immer, dass es gut ist, wenn die Massen in Bewegung geraten, sich organisieren, Druck ausüben und ihre sozialen und politischen Interessen artikulieren. Nun lehrt uns HH, dass sie lieber zuhause bleiben sollen. Warum  das dann auch noch den linken Flügel in Syriza stärken soll, kann man dann ja vielleicht beim Orakel von Delphi erfahren.

Hinter der ganzen linken Fassade scheint hier ganz unvermittelt auch noch ein sozialer Zynismus durch, der uns schlicht die Sprache verschlägt: „viele engagieren sich in vielen verschiedenen Projekten“. Was heißt das konkret? Nichts anderes, als dass die Massen gezwungen sind, die Not durch Eigeninitiative etwas zu lindern. Nicht nur HH glaubt offenbar, dass diese Entwicklung weg von der Straße Richtung Privatsphäre und unmittelbare ökonomische Existenzsicherung (die durchaus nicht freiwillig, sondern durch die Not erheischt ist), dass die Abkehr von den Aktionen der Klasse, dass das Zurückgeworfensein vom Schicksal des Landes auf die Probleme des engeren sozialen Milieus ein Fortschritt wäre. Hält dieser Zustand an, wird er unvermeidlich dazu führen, dass die Klasse sozial, moralisch und politisch zermürbt wird. Diese Elemente von sozialer Selbstorganisation werden nicht zum Ausbau eines größeren, allgemeineren sozialen Systems in Griechenland führen, sondern ganz simpel zum Sieg der Konterrevolution und zur Beseitigung jeder Form von Selbstorganisation. Linke Sozialromantik ist keine Antwort auf die Frage der Macht.

Kommen wir zum letzten und entscheidenden Punkt, um den die gesamte Debatte und auch das Papier von HH kreist: die Regierungsfrage. Davon abgesehen, dass dem Aufruf der Berliner NaO (der nicht einfach identisch ist mit der Position von Arbeitermacht dazu, sondern die Mehrheitsmeinung der Berliner NaO ausdrückt) fälschlicherweise Positionen unterstellt werden, die er gar nicht enthält, offenbart das Papier von HH eine völlig falsche, zentristische und unmarxistische Position zur Regierungsfrage. Wir wollen jene Punkte, die wir schon oben dargelegt haben, nicht wiederholen, sondern hier nur darauf eingehen, welche Position wir dazu einnehmen  und was an HHs Ansicht falsch ist. Wir wollen hier auch nicht auf HHs etwas wirre und willkürliche Griechenland-Szenarien eingehen.

Was ist das Verhältnis von RevolutionärInnen zur Syriza-Regierung?

Eine Syriza-Alleinregierung wäre eine bürgerliche Arbeiterregierung. Sie betreibt bürgerliche Politik und geht nicht über den Rahmen des Kapitalismus hinaus (das heißt allerdings nicht, dass alles, was sie konkret macht, per se falsch ist). Syriza greift keine einzige Grundlage der Klassengesellschaft an: weder das Privateigentum, noch will sie etwa den bürgerlichen Staat zerschlagen.

Die Syriza-ANEL-Regierung ist eine Volksfront-Regierung, weil sie eine offen bürgerliche Partei einschließt und sich insofern auch auf die von dieser repräsentierten Teile des Kapitals stützt und weil sie das in einer Lage tut, in der die Frage von Revolution oder Konterrevolution steht. ANEL an der Regierung ist daher nicht nur ein besonders reaktionärer, nationalistischer und antisemitischer Koalitionspartner. Sie ist auch ein Signal, dass Syriza keinen Bruch mit den bürgerlichen Parteien (und damit auch dem bürgerlichen System) will, sondern der herrschenden Klasse vielmehr einen Sitz (oder mehrere) im Kabinett reserviert. Die Volksfrontregierung ist in dieser Lage ein Garant gegen die Revolution. Sie bleibt für die herrschende Klasse so lange eine Option, wie sie dem Kapital zweckmäßig erscheint. Ändert sich die Lage, wird Syriza auch schnell wieder abserviert: der nützliche Idiot hat seine Schuldigkeit getan.

Für RevolutionärInnen ist eine solche Regierung vom Typ „bürgerliche Arbeiterregierung“ bzw. „Volksfrontregierung“ generell keine Lösungsoption und sie können daher zu ihr nur ein taktisches Verhältnis einnehmen und sie als vorübergehendes Phänomen einschätzen.

Das bedeutet: Verteidigung dieser Regierung (v.a. durch Klassenkampfaktionen) gegen Angriffe von Rechts (Kapital, Troika, rechte Umsturzversuche, faschistische Ausmärsche usw.) Aufforderung an die Regierung (genauer: an die bürgerliche Arbeiterpartei), die Klasse zum Kampf zu mobilisieren, ihre Wahlversprechen einzuhalten usw.

Die andere Seite der Medaille ist aber: keine Einstellung des Kampfes gegen unsoziale Maßnahmen der Regierung (auch auf die „Gefahr“ ihres Sturzes hin), keine Einstellung der politischen Kritik an ihr und der revolutionären Propaganda, Aufforderung zum Bruch mit offen bürgerlichen Parteien wie ANEL.

Diese Maßnahmen - aber auch andere Gründe - können dazu führen, dass die Regierung ihre „Macht“, ihre Mehrheit verliert oder zerbricht. Dann muss diese Situation genutzt werden, um eine „wirkliche“ Arbeiterregierung zu etablieren, die sich auf die Organisationen der Klasse und deren Mobilisierungen stützt: auf Räte, Milizen, Streikkomitees, Nachbarschaftskomitees usw. In diesem Prozess kann es sich ergeben, dass eine Syriza-Minderheitsregierung entsteht, die sich ebenso auf die Massen stützen sollte und könnte. Die Aufforderung des Bruchs mit ANEL würde genau zu einer solchen Konstellation führen. Welche Sprengkraft eine solche Orientierung hätte, erhellt schon allein daraus, dass die KKE aufgefordert wäre - durch die objektive Situation, nicht nur durch Propaganda - sich dazu zu verhalten. Eine Fortführung ihrer bisherigen Sektierer-Politik wäre dann sehr schwer möglich. Das hätte zwei mögliche Folgen: entweder, die KKE koaliert mit Syriza, was ein großer Schritt vorwärts für den Widerstand und die Arbeiterbewegung sein könnte oder aber die KKE verweigert sich, dann würden sich relevante Teile der Basis von ihr abwenden, was auch positiv wäre, weil es die Überwindung des Einflusses des Stalinismus erleichtern würde.

Wie sieht der Vorschlag der NaO Köln aus? Verteidigung von Syriza um jeden Preis! Keine öffentliche Kritik! Keine Aufforderung zum Bruch mit ANEL.

Was bedeutet diese Politik? Sie kettet die Linke und die ArbeiterInnenklasse an das Schicksal dieser Regierung und an deren bürgerliche Politik. Stürzt diese Regierung oder kapituliert sie vor der Troika, so wird sie gesamte Klasse in den Abwärtsstrudel gerissen. Anstatt Alternativen aufzuzeigen und sich auf alle Eventualitäten einzustellen (nicht in dem Sinn, wie es HH tut, nämlich „Szenarien“ durchzuspielen, sondern, indem ein antikapitalistisches Programm aufgestellt und durchgekämpft wird) - wird nach dem Motto des (vermeintlich) „kleineren Übels“ verfahren. Statt revolutionärer Politik gilt hier: Mitgehangen - mitgefangen.

Die von HH vertretene Politik und politische Methode unterscheidet sich nicht nur fundamental von unserer, sie widerspricht auch in Sinn und Anspruch dem NaO-Manifest. Dieses hat immerhin zwei programmatische Eckpfeiler formuliert: erstens keine Unterstützung oder gar politische Mitverantwortung für die Krise und deren bürgerliches Krisenmanagement, zweitens Betonung des „revolutionären Bruchs“. Beide Positionen des NaO-Manifests sind mit den hier dargelegten Positionen von HH bzw. der NaO Köln unvereinbar.

Was ist Reformismus?

Die Positionen von HH zu Syriza sind auch ein logischer Ausfluss eines bestimmten Verständnisses von Reformismus. Im Papier von HH steht dazu:

„Reformismus ist nicht gleich Reformismus

Reformismus ist dadurch definiert, dass er die Überwindung der bestehenden Machtverhältnisse mit untauglichen Mitteln ins Auge fasst: eine Kette von Reformen soll einen Übergang zu einer anderen Organisationsform der Gesellschaft gewährleisten.

Von diesem Reformismus als organisiertem politischen Projekt müssen wir einen spontanen Reformismus der Bewegungen unterscheiden. Er entsteht aus den gemachten Kampferfahrungen und speist sich aus der Überzeugung, dass die bestehenden Machtverhältnisse überwunden werden müssen.

Dabei bleibt die Fragestellung völlig ausgeblendet, auf welche Weise denn diese „Systemmacht“ überwindbar sein soll. Dieser Arbeiterreformismus konnte traditionellerweise immer mit dem organisierten politischen Reformismus in einer durchaus fruchtbaren Wechselbeziehung agieren.

Störungen in dieser Kommunikation traten nur in Zeiten außergewöhnlicher Katastrophen auf: Krieg und Zusammenbruch.“

Schon der erste Absatz zeigt, dass Reformismus hier nicht als bürgerliche Politik und Struktur in der Arbeiterbewegung verstanden wird, die sich v.a. auf Arbeiteraristokratie und Arbeiterbürokratie stützt und bei allen Unterschieden immer einen sozial-chauvinistischen Charakter hat. HH sieht ihn vielmehr nur als politische Richtung, die sich durch “Reformen Richtung Sozialismus“ auszeichnet. Das greift zu kurz. Der heutige Reformismus stellt sich meist nicht als sozialistische Kraft dar, sondern als „kleineres Übel“. Obwohl HH richtig feststellt, dass es einen Unterschied zwischen dem „organisierten“ und dem „spontanen“ Reformismus gibt, ist doch die Frage, worin dieser Unterschied besteht und welche Implikationen er hat. Und hier zeigt sich auch sofort, wo der Hase im Pfeffer liegt: „Dieser Arbeiterreformismus konnte traditionellerweise immer mit dem organisierten politischen Reformismus in einer durchaus fruchtbaren Wechselbeziehung agieren.“

So kann man das Dilemma freilich auch sehen. Besonders „fruchtbar“ an dieser Wechselbeziehung war v.a. die endlose Reihe von Niederlagen des Proletariats, welche ihm von seinen reformistischen Führungen in Moskau oder den Parteibüros der II. Internationale beschert wurden. Nun sitzt eine davon im Parteibüro von Syriza. Zugegeben: sie hat noch keinen August 1914 zu verantworten, gröbste und unverzeihliche Fehler im griechischen Klassenkampf der letzten Jahre und die Möglichkeit der Anbahnung der endgültigen Niederlage gegen die Troika allerdings schon.

Das grundlegende Problem von HH ist, dass er bei seinem falschen Reformismusbegriff gar nicht auf den Klassencharakter des Reformismus eingeht. Auch der „klassische“ Reformismus, der in seinen Programmen oder Sonntagsreden den „Sozialismus“ hochhielt und der Syriza gar nicht so unähnlich ist, war eine Form bürgerlicher Politik. Wie schon Rosa Luxemburg in ihrer Polemik gegen Bernstein nachweist, ist die Ablehnung des revolutionären Weges zum Sozialismus, seine Ersetzung durch eine Reihe gradueller Reformen, die uns Schritt für Schritt und ohne die Risiken und „Gewalttägigkeit“ der Revolution näher bringen sollen, unvermeidlich auch eine Abkehr vom Ziel, seine Verschiebung auf eine ferne Zukunft. Der „eratische Marxist“ Varoufakis ist hier geradezu „klassisch“. Zuerst muss der Kapitalismus gerettet werden, dann erst kann „langfristig“ an die sozialistische Umwälzung gedacht werden.

Eine solche Politik läuft unwillkürlich auf die Verteidigung des Bestehenden, des kapitalistischen Systems und damit auf die allenfalls reformierten Existenzgrundlagen des griechischen Kapitalismus hinaus. Der Versuch von Tsipras, die Troika und den IWF von einer „vernünftigen Reformalternative“ für Griechenland zu überzeugen, ist daher nicht nur eine verfehlte Taktik - diese Politik folgt logisch aus den politischen Zielen der Syriza-Führung selbst. Wenn Varoufakis einen „Merkel-Plan“ zur Rettung Europas vorschlägt, ist das leider nicht nur Clownerie - er meint das vielmehr ernst.

Diese Politik ist nicht nur pro-kapitalistisch. Sie ist auch zutiefst utopisch. Sie führt dazu, dass die ArbeiterInnenklasse an das bürgerliche System gebunden wird. Das Gerede von der „fruchtbaren Wechselbeziehung“ zwischen den Massen und den reformistischen Parteien ist schon in „normalen Zeiten“ eine Beschönigung der Bindung der Massen an das bürgerliche System. In einer Krisenperiode ist es noch fataler. Es geht ja gerade darum, die Massen von den falschen, reformistischen Führern und ihrer utopischen reformistischen Politik zu brechen. Dass die „Wechselbeziehung“ durch den Gang der Ereignisse immer wieder gestört wird, ist dabei eine notwendige Voraussetzung dafür, dass revolutionäre Politik zu einer Massenkraft werden kann. Diese „Störung“ wollen wir befördern. Das ist nur möglich durch eine schonungslose Kritik an der reformistischen Führung, ihrer konkreten Politik wie ihrer strategischen Zielsetzung. Gegenüber den Massen erfordert das zugleich eine taktische Herangehensweise an die reformistischen Führungen, also Forderungen zu stellen, um den Ablösungsprozess zu erleichtern und zu beschleunigen. Dabei geht es auch darum, die Massen (und das heißt zuerst die Avantgarde) vom „spontanen Reformismus“ (der ja selbst eine Form bürgerlichen Bewusstseins darstellt) für eine  bewusste, revolutionäre Klassenpolitik zu gewinnen.

Die Situation in Griechenland ist dramatisch und könnte noch dramatischer werden. Der Spielraum  für die Manöver von Tsipras wird immer enger. Immer mehr Menschen in Griechenland und anderswo sind zu begreifen gezwungen, dass die Politik von Tsipras untauglich ist - sowohl in dem Sinn, dass sei keinen Ausweg aus der aktuellen sozialen Misere weist, wie auch in dem grundsätzlicheren Sinn, dass sie keinen Weg zum Sozialismus weist.

So verwundert es nicht, ja, es war voraussagbar, dass in der griechischen Linken innerhalb und außerhalb von Syriza die Einsicht wächst - und konkrete Schritte angebahnt werden - dass der Kurs geändert werden muss. Diese Linken müssen ermuntert und unterstützt werden, ihren Weg konsequent weiterzugehen und entweder die Politik und die Führung von Syriza und der Regierung zu ändern oder aber mit Syriza zu brechen. In keinem Land der Welt ist die Notwendigkeit, aber auch die Möglichkeit für einen „revolutionären Bruch“ so groß und so konkret wie derzeit in Griechenland.

Daran, welche Position sie einnimmt, welchen Beitrag sie leistet, muss sich auch der NaO-Prozess messen lassen! Hier geht es nicht nur um einige linke Streitereien - hier geht es darum, auf welcher Seite der Barrikade man steht (oder auch darum, ob man zwischen den Fronten auf der Barrikade rumturnt).

Leserbrief schreiben   zur Startseite

Wöchentliche E-News
der Gruppe Arbeitermacht

:: Archiv ::

Nr. 200, Juni 2015
*  Imperialistengipfel in Elmau: Nieder mit den G7!
*  Repression: Versammlungsfreiheit?
*  Kampf bei der Post: Urabstimmung und Vollstreik - jetzt!
*  Care Revolution Wien: Die Pflege steht auf
*  Schlichtung bei der Bahn: Abstellgleis statt Durchbruch
*  Griechenland: An einem Wendepunkt
*  Rassismus in den USA: Repression und Widerstand
*  Parlamentswahlen in der Türkei: HDP wählen - für den Aufbau einer ArbeiterInnenpartei!
*  Tod eines Widerstandskämpfers: Alexej Mosgowoi wurde ermordet
*  G7, Ökologie und Umweltbewegung: Heiße Luft
*  Solidarität mit Griechenland: Schuldenstreichung und Stopp der Spardiktate