Arbeitermacht
Liga für die fünfte Internationale

Nord & Südamerika Europa Asien & Australien


google.de arbeitermacht.de

Antwort der Gruppe Arbeitermacht

Liebe Genossinnen und Genossen,

wir wollen mit diesem Schreiben auf Eure Antwort auf unseren Brief vom 20.12.95 eingehen. Da Euer Brief uns leider erst im letzten Moment vor dem damaligen Treffen zuging, war es uns damals schwer möglich, sofort eine ausführliche Antwort auf die in Eurem Schreiben behandelten wichtigen Fragen zu geben. Daher wollen wir das in dieser Form "nachholen".

Zu Anfang Eures Briefs schreibt ihr, daß unser Brief vom 20.12. den Eindruck erweckt, "defensiv Differenzen zur Abgrenzung hervorzuheben, als eine wirkliche Klärung herbeiführen zu wollen." (S.1)

Wir gehen dagegen davon aus, daß in unseren Diskussionen neben partiellen Gemeinsamkeiten v.a. sehr klare programmatische und insbesondere methodische Differenzen deutlich geworden sind. Insofern konnte unser Brief diese Diskussionsergebnisse nur noch einmal darstellend zusammenfassen und illustrieren. Es ist selbstverständlich, daß eine ernsthafte Diskussion gerade die Unterschiede im Herangehen von Organisationen und deren Konsequenzen aufzeigen muß, wenn sie sich nicht darin ergehen soll, übereinstimmende Allgemeinplätze breitzutreten. Wir meinen, daß die Diskussionen gezeigt haben, daß trotz teilweiser Übereinstimmungen die Politik beider Organisationen auf prinzipiell unterschiedlichen Methoden beruht, die nicht nur zu oft sehr verschiedenen Analysen führen, sondern, und das ist wesentlich, auch zu gegensätzlichen Positionen im Klassenkampf (so z.B. die Positionen zur deutschen Wiedervereinigung).

Nach mehreren Diskussionen und dem intensiven Studium von Dokumenten Eurer Organisation kamen wir zu der Einschätzung, daß Politik und Methode Eurer Organisation im Wesen nicht revolutionär, sondern zentristisch sind, d.h. zwischen revolutionären und reformistischen Positionen schwanken. Die Einschätzung, daß eine Fusion unserer Organsationen unter diesen Umständen unmöglich ist, folgt daraus zwingend und wird ja auch von Euch geteilt. Wir halten es nur für konsequent, daß die Diskussion zwischen SL und GAM nach diesem Ergebnis (auch aus Gründen der begrenzten organisatorischen und personellen Möglichkeiten der Gruppen) nicht mit gleicher Intensität fortgeführt werden kann wie bisher.

Das bedeutet aber keineswegs, wie Ihr anklingen laßt, daß wir die Diskussion nur zum Zwecke der Schuldzuweisung oder aus irgendeinem Abgrenzungswahn geführt hätten. Wir haben in unserem Schreiben klar gesagt, daß die Zusammenarbeit in Einheitsfronten weitergeführt werden soll und auch Diskussionen zu speziellen Themen durchgeführt werden können. Das Verhalten der GAM in den letzten Monaten zeigt eigentlich deutlich, daß wir dazu auch in der Praxis stehen.

Wir wollen in diesem Schreiben nicht auf alle Fragen eingehen, die Ihr aufwerft (z.T. wurde das ja schon in unserem letzten Schreiben unternommen), sondern uns auf einige zentrale Fragen konzentrieren, die mit den Problemen Partei und Programm zusammenhängen.

Ihr geht zu Anfang Eures Schreibens noch einmal auf die Fragen des Programms und des Parteiaufbaus ein. In der Tat sehen auch wir sehr wesentliche Differenzen in diesen Fragen.

Auf Seite 2 schreibt ihr zum angeblichen Programmverständnis der LRKI, das dieses unter einer "Überbetonung der Ideologie (nicht des Programms)" leide und das "Programm nicht in erster Linie als Anleitung zum Handeln für die Massen, sondern als enzyklopädische(r) Bauchladen von Erklärungen und Kommentaren für alle Eventualitäten des Klassenkampfes ..." diene. Insofern bestünde unser Geheimrezept im Aufbau von Propagandazirkeln gegen den Zentrismus. Dieses Verständnis, führt Ihr weiter aus, drücke eine Unterschätzung des Klassenkampfes und eine Überbetonung der Handlungsmöglichkeiten konterrevolutionärer Apparate aus. Auch gehe dies "einher mit einer Anpassung an den Skeptizismus und Elitismus von die Arbeitermassen geringschätzenden kleinbürgerlichen Sektoren." Ergebnis dieses Herangehens sei "eine propagandistische Politik, die anstelle eienes systematischen Eingreifens in Kämpfe vor allem der Arbeiterklasse bestenfalls exemplarische Aktivitäten in Betracht zieht."

In Euren Ausführung zeigen sich mehrere Mißverständnisse des Charakters der Politik unserer internationalen Strömung als auch ein fehlerhaftes Verständnis von der Funktion des Programms im Klassenkampf und von der Dynamik des Kampfes selbst.

Es stimmt, das unser Ziel in der gegenwärtigen Phase der Entwicklung der LRKI der Auf- bzw. Ausbau von Propagandagruppen ist. Diese Stufe der Parteientwicklung muß der Schaffung von Kader- oder gar Massenparteien vorausgehen und deren programmatische Grundlagen sowie Führungskerne entwickeln. Dieser Entwicklungsschritt ist jedoch nicht eine willkürliche Abkehr von den Massen, wie Ihr meint, sondern Ausdruck von objektiven Entwicklungsumständen: dem Vorhandensein starker reformistischer Organisationen in der Arbeiterbewegung, der eigenen, aus der historischen Degeneration der IV. Internationale resultierenden, Schwäche.

Wenn Ihr Euer eigenes Wirken realistisch sehen würdet, müßtet Ihr eingestehen, daß Eure Versuche, "direkt" in den Massen zu arbeiten, keinesfalls massenhafte Wirkungen haben und sich (she. SIEMENS oder AfB) auch nur mit z.T. sehr kleinen Sektoren der Arbeiterbewegung beschäftigen (können). Ihr begeht den Fehler, den letzten Schritt vor dem ersten zu machen, d.h. ohne eine genügend entwickelte eigene Organisation, die wirklich in wichtigen Sektoren der Arbeiterbewegung verankert ist, in die Massen zu intervenieren. Dabei entstehen fast immer zwei Fehler: entweder man versucht, "große Partei" zu spielen und eine Kraft vorzutäuschen, die man real nicht hat (was die Massen meistens merken und deshalb diese Versuche nicht ernst nehmen), oder aber man kaschiert die eigene Schwäche, indem man seine eigene Politik an einer Spielart des Reformismus oder Zentrismus orientiert und sich dem aktuell vorherrschenden Massenbewußtsein anpaßt. Dieser zweite Fehler ist oft in Eurer Politik zu beobachten. Wir haben dafür schon in unserem letzten Brief Beispiele aus Euren Publikationen angeführt. Hier sei nur Euer Kniefall vor der Vereinigungseuphorie 1990 erwähnt (Wiedervereinigung ohne Wenn und Aber), der eine Kapitulation vor dem reaktionären Bewußtsein von großen Teilen der Bevölkerung und dem strategischen Ziel des deutschen Imperialismus war und dem trotzkistischen Programm völlig widerspricht.

Euer methodischer Fehler besteht offenbar darin, daß Ihr unter Orientierung auf die Arbeiterklasse in der Praxis (wenn auch nicht in der Theorie) versteht, das Programm dem aktuellen Bewußtsein und dem aktuellen Stand der Bewegung anzupassen. In der Praxis bedeutet das, demokratische oder ökonomische Ziele einer Bewegung, die durchaus eine progressive Dynamik haben können, zu übernehmen, jedoch auf weiterführende Forderungen, die im aktuellen Bewußtsein weniger präsent sind, zu verzichten. Das Programm setzt dann nicht am aktuellen Bewußtsein an, um damit weiterführende sozialistische Losungen und militante revolutionäre Forderungen zu verbinden, sondern es reduziert sich darauf.

Wenn Ihr z.B. ein "freies Kurdistan" fordert, entspricht das sicher dem Bewußtsein der Mehrheit der Kurdinnen und Kurden. Doch was bedeutet ein "freies" Kurdistan? Für Marxisten ist es klar, daß diese Frage untrennbar mit der sozialen Frage, d.h. dem Wesen der gesellschaftlichen Ordnung gepaart ist. Welche Klasse herrscht? Während Trotzki in der Frage der Ukraine eben gerade nicht die Losung einer "freien" Ukraine aufstellte, sondern eine "unabhängige Sowjetukraine" forderte und damit die Forderung nach Überwindung der nationalen Unterdrückung durch die Moskauer Stalinbürokratie mit der Forderung nach Beibehaltung der nachkapitalistischen Errungenschaften und dem Wiedererringung der politischen Macht des Proletariats verband, ist Eure Freiheit im Fall Kurdistan offenbar klassenunspezifisch. Ihr verbindet in Eurer Methode eben gerade nicht sozialistische Forderungen mit den Bedürfnissen der Massen nach Demokratie und nationaler Selbstbestimmung, sondern reduziert Euer Programm auf bürgerlich-demokratische Forderungen. Statt die Illusionen der Massen in Ihre letztlich untauglichen Führungen zu kritisieren, bestärkt Ihr sie, indem Ihr so tut, als wären die Probleme der Kurden im Rahmen eines bürgerlich-demokratischen Regimes lösbar. So opfert Ihr das Programm der Bewegung, anstatt die Bewegung damit anzureichern und vorwärts zu bringen. Das bewahrt Euch sicher vor Sektierertum, allerdings bewahrt es die Arbeiterklasse auch davor, revolutionäre Positionen kennzulernen ...

Wir sind hingegen der Meinung, daß eine revolutionäre Politik darin bestehen muß, das revolutionäre Programm in die Massen zu tragen und seine Inhalte durch Übergangsforderungen so mit dem aktuellen Bewußtsein zu verbinden, daß die Massen konkret danach handeln können und der Klassenkampf in Richtung Machteroberung führt. Sicher werdet Ihr dem abstrakt auch zustimmen, doch was nützt das, wenn es von Euch nicht auch so praktiziert wird!

Die dramatische Entfernung zwischen Marxismus und Massen bedeutet gegenwärtig, daß nicht die Massen, sondern nur deren Vorhut (und meistens sogar nur die Vorhut der Vorhut) der Arbeiterklasse erreicht werden kann. Deshalb hat die Propaganda (Vieles für Wenige) gegenwärtig auch besondere Bedeutung. Was Ihr als unser "Geheimrezept" gegen den Zentrismus seht, ist Ausdruck dieses objektiv gestörten Verhältnisses zwischen Klasse und revolutionärer Vorhut. Es ist sicher auch Eure Erfahrung, daß die Vorhutelemente des Proletariats oft schon politisch organisiert oder zumindest ideell von Reformismus oder Zentrismus geprägt sind. Insofern ist es unabdingbar, mit Mitteln der Propaganda auf diese Elemente einzuwirken. Wie sollen die Massen gewonnen werden, wenn nicht die Vorherrschaft von nichtrevolutionären Ideologien und Agenturen in der Vorhut der Klasse überwunden wird? Wir haben den Eindruck, daß Ihr oft ein workeristisches Verständnis von Klassenkampf habt und militante Bewegungen sich per se zu revolutionären Subjekten entwickeln seht. Das ist auch möglich, aber gerade dadurch, daß Revolutionäre in diese Bewegungen intervenieren und Teile daraus auf die Höhe eines revolutionären Programmes führen, anstatt davon ausgehen, daß das von selbst passieren würde oder das eigene Programm der Bewegung angepaßt werden muß.

Denn ein Programm, und da haben wir offenbar verschiedene Positionen, ist nicht nur Anleitung zum Handeln für die Massen (das ist gewiß der Idealfall), sondern es drückt auch (ganz unabhängig vom Stand der Bewegung) eine objektive Analyse des Klassenkampfes etc. aus. Oder es kann Situationen geben, in denen es objektiv nur für eine Minderheit Anleitung zum Handeln sein kann. Was Ihr bei uns für einen "enzyklopädischen Bauchladen" haltet, ist der Versuch, aus der Analyse der realen Widersprüche des Klassenkampfes, seiner möglichen Wendungen taktische Antworten darauf zu formulieren. Das heißt unserer Meinung nach, dem Proletariat zu sagen "was ist". Ihr dagegen "löst" das Problem oft genug dadurch, daß Ihr einen andauernden Optimismus verbreitet und den Klassenkampf quasi als ständig anschwellenden Strom beschreibt. Dieses Herangehen wurzelt fraglos in der Methode des Morenismus selbst, der dadurch bei der Einschätzung der Dynamik des internationalen Klassenkampfes schon oft genug fatal danebenlag, was jedoch nicht Grund für eine kritische Überprüfung der eigenen Methode war, sondern lediglich Anlaß, einen erneuten unmotivierten politischen Schwenk zu unternehmen. Eine dialektische Sichtweise hingegen wird Siege und Niederlagen, wird alle kämpfenden Seiten betrachten, wird Perioden der Ebbe, aber auch der Flut im Klassenkampf berücksichtigen.

Ohne hier eine neue Debatte über den Charakter der Periode beginnen zu wollen, liegt es doch auf der Hand, daß Eure Einschätzung der Ereignisse von 1989/90 in Osteuropa und der DDR als "fortschrittlich" so wichtige Aspekte wie die schon erfolgte oder bevorstehende Zerstörung der Arbeiterstaaten, die fast ausnahmslos konterrevolutionären Führungen der Bewegung und deren prokapitalistische Orientierung und das Fehlen von authentischen Machtorganen der Arbeiter von Euch einfach "übersehen" werden. In Wahrheit verwechselt Ihr demokratische Ziele und Errungenschaften mit revolutionärer Politik! Ihr stutzt das Programm und stellt dann natürlich fest, wie revolutionär und progressiv die Massen gemessen an diesem opportunistischen Maß schon sind.

Diese falsche Methode wird dann scheinbar noch dadurch bestätigt, daß seit einigen Monaten die Klassenkämpfe tatsächlich an Schärfe zunehmen (she. Frankreich). Doch während Ihr uns unterstellt, wir wären pessimistisch und überschätzten die Möglichkeiten des Klassenfeindes, haben wir in Wirklichkeit gerade darauf hingewiesen, daß die konterrevolutionäre Phase ab 1990 und die Etablierung der imperialistischen neuen Weltordnung keine globale Stabilität bringen, sondern im Gegenteil eine neue Welle des Klassenkampfes hervorrufen werden. Übrigens ist das v.a. auch durch die Verwertungsprobleme der kapitalistischen Ökonomie bedingt und nicht nur durch die Vorgänge auf der politischen Bühne. Während Ihr ein nichtvorhandenes gleichmäßig aufsteigendes Kontinuum des Klassenkampfes zu sehen glaubt, haben wir immer auf diesen Umschwung in der Konjunktur des Klassenkampfes hingewiesen. Ohne Frage kann eine revolutionäre Organisation nicht erfolgreich sein, wenn sie nicht in der Lage ist zu analysieren, ob der Klassenkampf vom Proletariat defensiv oder offensiv geführt wird bzw. geführt werden kann. Erfolge entstehen nicht dadurch, daß man Mißerfolge oder Teilerfolge zu Siegen stilisiert.

Doch kehren wir zur Frage der Partei und des Programms zurück. Ihr unterstellt uns mit dem Verweis auf das "Propagandagruppenkonzept" der LRKI abstrakten Propagandismus und sektiererhaftes Verhalten zur Arbeiterklasse. Vielleicht entspringt diese Einschätzung der Unkenntnis unserer Taktik des Parteiaufbaus, die u.a. in den "Thesen zum Parteiaufbau" niedergelegt sind. Wir benutzen dort den Begriff der "kämpfenden Propagandagruppe". Dieser Terminus bedeutet aber gerade, daß nicht abstarkter Propagandismus Ziel unserer Arbeit ist, sondern daß diese Propaganda mit praktischen Interventionen im Klassenkampf verbunden werden muß. Erst dadurch kann sich die Richtigkeit einer Politik in der Praxis erweisen und ein Programm in den Klassenkampf hineinwirken. Nicht zuletzt ist es unser Ziel, Kader zu erziehen, die in der Lage sind, Kämpfe zu führen und nicht nur darüber zu schreiben.

Allerdings erfaßt unser Konzept der kämpfenden Propagandagruppe auch die reale Problematik der krassen Trennung zwischen Klasse und revolutionärer Vorhut: zum einen ergibt sich daraus das Primat der Propaganda, durch das zunächst die programmatische Grundlage einer Organisation, ihrer Kader und deren praktischer Politik gelegt werden muß; zum anderen folgt daraus die objektiv bedingte (nicht etwa gewollte) Beschränkung der Intervention auf exemplarische Arbeit. Was Ihr in Eurem Brief ironisch mit "bestenfalls exemplarisch" beschreibt, entspringt Eurer Auffassung (nicht unserer), daß exemplarisch "hin und wieder" bedeutet. Doch das ist damit keineswegs gemeint. Es geht vielmehr darum, daß eine Gruppe wie unsere oder auch Eure aufgrund Ihrer begrenzten organisatorisch-personellen Möglichkeiten objektiv nicht oder höchstens ausnahmsweise in der Lage ist, breitere Kämpfe zu führen oder gar selbst zu initiieren. Es wird sich meist um kleinere Aktionen oder Einheitsfronten handeln, die nur einen Bruchteil der Arbeiterbewegung und oft sogar nur Teile der Vorhut umfassen. In diese Bewegung aktiv einzugreifen und sie weiterzutreiben, die Akteure für revolutionäre Positionen zu gewinnen, ihnen die revolutionäre Methode darzustellen und sie für den Aufbau einer marxistischen Partei gewinnen - das ist die Aufgabe, der wir uns stellen.

Was ist daran sektiererisch oder gar skeptizistisch gegenüber der Arbeiterklasse? Die GAM, wie die anderen Sektionen der LRKI, unterscheiden sich u.a. darin von vielen anderen Linken, daß sie die Arbeiterklasse nach wie vor als revolutionäres historisches Subjekt begreifen und die Bedeutung der Massenorganisationen der Arbeiter (Sozialdemokratie, Gewerkschaften) und eines Kampfes in ihnen und um ihren Massenanhang immer wieder betont. Auch die Praxis der GAM beweist, daß wir auch mit oft extrem schwachen Kräften in gewerkschaftliche Kämpfe eingreifen und sie voranzubringen versuchen.

Allerdings - und da teilen wir Eure Sichtweise nicht - umfaßt unser taktisches Arsenal (wie auch das Trotzkis) die Möglichkeit des Entrismus z.B. in der PDS. Was Ihr als "Nachtrabpolitik hinter der PDS" (S.3) bezeichnet, war eine notwendige Taktik gegenüber einer bürgerlichen Arbeiterpartei im Osten Deutschlands, die sich in einem inneren Konflikt befand und ohne Frage auch tausende subjektiv ehrliche Sozialisten organisierte, die für eine revolutionäre Alternative gewonnen werden konnten. Unsere Intervention war ein konsequenter fraktioneller Kampf auf Basis revolutionärer Positionen und alles andere als Nachtrabpolitik. Wenn Euch die Arbeiterklasse so wichtig ist, dann ist es erstaunlich, daß Ihr die PDS als eine ihrer Organisationen glatt überseht, obwohl diese u.a. zahlreiche Betriebsräte und Gewerkschaftsaktivisten im Osten stellt! Euer Vorwurf des Sektierertums erweist sich hier einfach als Pappkamerad.

Auch der Vorwurf, wir hätten es versäumt, in der Betriebsrätekonferenz zu intervenieren, verrät Euer oberflächliches Verständnis von Klassenkampf und Arbeiterbewegung. Zum einen war es aufgrund unserer Kräfte kaum möglich, auf allen Hochzeiten zu tanzen, zum anderen ist Eure Einschätzung der Betriebsrätekonferenz wie so oft etwas zu optimistisch. 1. war die Betriebsrätekonfernz nicht identisch mit den "fortgeschrittensten Arbeitern Ostdeutschlands" wie Ihr behauptet. Die Auseinandersetzungen in ihr belegen stattdessen, daß es ein sehr heterogenes Gremium war, dessen Akteure durchaus nicht durchgängig militante Klassenkämpfer waren. Trotzdem war es richtig, darin zu intervenieren. Da stimmen wir mit Euch überein. Doch der Umstand, daß es sich bei den Kämpfen nach 1990 in Ostdeutschland um defensive, in politischer wie organisatorischer Hinsicht begrenzte Aktionen handelte, bedeutete, von einer Perspektive des Abflauens, nicht des Anwachsens der Kämpfe auzugehen. So richtig es war, in diesen Kämpfen und Bewegungen zu intervenieren, so überzogen ist Eure Einschätzung von der Bedeutung und der Perspektive dieser Betriebsräteinitiative. Die seitdem vergangene Zeit sagt wohl genug darüber aus, wie die Entwicklung der Arbeiterkämpfe in Ostdeutschland aussah. Angesichts der strategischen Niederlage der ostdeutschen Arbeiterklasse mit der Wiedervereinigung, des unerhörten sozialen Drucks durch Schließungen, Entlassungen etc. ist das auch nicht verwunderlich. Trotz dieser unbestreitbaren Fakten spracht ihr von einer andauernden revolutionären Periode seit 1989.

Es ist selten, daß die Arbeiterklasse in einer angeblich revolutionären Phase ihre Positionen einbüßt, keine neuen erringt und die Mehrzahl der Kämpfe (z.B. in Bischofferode) Niederlagen erleiden. Wir haben von revolutionären Phasen eine andere Vorstellung. Aber immerhin kann man ja die eigenen Ansprüche so niedrig hängen, daß jeder Vergleich gut ausfällt ...

In diesem Zusammenhang konstruiert Ihr einen scheinbaren Widerspruch zwischen unserer Einschätzung der konterrevolutionären Phase ab 1990 und der Tatsache, daß viele Kampfaktionen in Ostdeutschland stattfanden. Zunächst: die GAM gehörte nicht zu dem Teil der Linken, die diese Kämpfe ignoriert haben, was ein Blick auf unsere Publikationen erhellt. Die GAM hat auch nie behauptet, daß es in einer konterrevolutionären Phase keine oder weniger Klassenkämpfe geben würde. Wir haben allerdings im Unterschied zur SL nicht vergessen, das Wesen der Entwicklung zu bestimmen. Wenn nicht die Zerstörung von nachkapitalistischen Errungenschaften, wenn nicht massive Illusionen in den Kapitalismus, wenn nicht die Ausweitung des Zugriffs des kapitalistischen Weltsystems (z.B. Golfkrieg), wenn nicht die Spaltung und Schrumpfung der Arbeiterklasse in Ostdeutschland und die Zerstörung der produktiven Basis, wenn nicht nationalistische Völkergemetzel in den ehemaligen multinationalen Arbeiterstaaten konterrevolutionär sind - was dann?! Doch wenn der Blick auf die Realität positiv genug ist, kann sogar der Papst als Sozialist gelten ...

Gerade der Charakter der Kämpfe der ostdeutschen Arbeiter und dessen Slogans (Für Privatisierung!) zeigen den defensiven, isolierten, jeder weitergehenden Perspektive ermangelnden Inhalt der Bewegung. Unterstützen, weitertreiben - natürlich. Aber nicht gleichzeitig die Augen davor verschließen, welche Klasse den Kampf dominiert, die Arbeiter, die wenig erfolgreiche Rückzugsgefechte liefern oder die Bourgeoisie, die ganz Ostdeutschland in den Kapitalismus zurückwirft, Billiglöhne einführt usw. usf.!

Aber gerade der Fakt des Untergangs des degenerierten Arbeiterstaates DDR zeigt - und damit wollen wir schließen - wie falsch Eure Analyse, wie dürr Eurer Trotzkismus wirklich ist. Ihr schreibt dazu: "Eine revolutionäre Politik muß angeben, mit wem sie etwas zerstören (eine Diktatur, einen Staat) oder verteidigen will (die Planwirtschaft, sprich die Verwaltung von Schrott, ..." (S.4) So wäre also die Planwirtschaft eine "Verwaltung von Schrott"? Bezeichnend genug, wie Ihr damit in dieselbe Kerbe schlagt wie Kohl und Co.! Das unzureichende Niveau der Industrie der DDR gegenüber der der BRD war also für Euch ein Grund, die DDR nicht zu verteidigen! Davon abgesehen, daß die DDR durchaus kein Schrotthandel war, spielt das auch keine Rolle bei der Frage, ob man einen Arbeiterstaat verteidigt oder nicht. Nach Eurer Logik, hätte die junge Sowjetunion, deren Wirtschaft nach dem Bürgerkrieg tatsächlich Schrottqualität hatte, nicht verteidigt werden dürfen, weil es sich nicht lohnt. Das war bekanntlich nicht Trotzkis Position. Sicher ist die Frage, ob die Arbeiter Ihren Staat verteidigen oder nicht, wichtig für die Einschätzung der konkreten Möglichkeit der Verteidigung. Sicher waren die russischen Arbeiter zur Verteidigung der Errungenschaften des Oktobers bereit, während den DDR-Arbeitern die Bedeutung dieser Frage nicht klar war. Aber was folgt daraus? Das Programm auf den Müll zu werfen und mit den Wölfen zu heulen oder vor den Augen der Arbeiter den Gegner, wenn er schon nicht aufgehalten werden kann, wenigstens zu entlarven und seine Politik offen abzulehnen? Ihr habt die erste Möglichkeit gewählt ... Nebenbei bemerkt, ist es ja auch ein Ausdruck einer konterrevolutionären Phase, wenn Arbeiter ihre Errungenschaften nicht verteidigen wollen und ihr Heil in der Marktwirtschaft suchen.

Was ist Euer ganzer Trotzkismus wert, wenn Ihr im entscheidenden Augenblick, der Todeskrise der DDR, alle Grundsätze über Bord werft und die kapitalistische Widervereinigung predigt, weil die Massen dafür sind. Wie nobel, die Arbeiter zum Kampf gegen die notwendigen Auswirkungen dieser Vereinigung zu mobilisieren, nachdem man sie selbst befürwortet hat!

An Eurer Vereinigungsposition zeigt sich einmal mehr überdeutlich, daß die SL keine revolutionäre Politik betreibt, sondern das revolutionäre Programm mitunter bis zur Unkenntlichkeit aktuellen Bewegungen und Strömungen anpaßt, anstatt mittels des Programmes die Bewegung zu verändern. Mag er auch noch so auf die Massen orientiert sein und jedwedem Sektierertum abschwören - Zentrismus bleibt es trotzdem.

Wir hoffen, mit diesem Brief noch einmal einige wesentliche methodische Unterschiede zwischen unseren Organisationen verdeutlicht zu haben. Auch wenn aufgrund der programmatischen Differenzen die Basis für eine Fusion nicht gegeben ist, sind wir gern zu weiterer Diskussion mit Euch bereit. Natürlich wollen wir auch weiter mit Euch praktisch zusammarbeiten, wo es im Sinne gemeinsamer Praxis notwendig ist.

Mit solidarischen Grüßen
Gruppe Arbeitermacht,
Berlin, Mai 1996