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Arbeiterklasse und Revolution

Thesen zum Marxistischen Klassenbegriff

Markus Lehner, Revolutionärer Marxismus 28, wiederveröffentlicht Revolutionärer Marxismus 42, Oktober 2010

V. Nicht für den kapitalistischen Produktionsprozeß funktionelle Klassen

 

In den "Theorien über den Mehrwert" spricht Marx über eine Tendenz zur Vermehrung der für jede Form von Einzelkapital unproduktiven Arbeit, die paradoxerweise in der allgemeinen Steigerung der industriellen Produktivität angelegt ist:

"Daher der Arbeiter die Entwicklung der Produktivkräfte seiner eignen Arbeit als ihm feindlich, und mit Recht, betrachtet; andererseits der Kapitalist ihn als ein beständig aus der Produktion zu entfernendes Element betrachtet. (...) Was er (Ricardo) vergißt hervorzuheben, die beständige Vermehrung der zwischen workmen auf der einen Seite, Kapitalist und landlord auf der andren Seite, in der Mitte stehenden und sich in stets größrem Umfang, großteils von der Revenue direkt fed Mittelklassen, die als eine Last auf der working Unterlage lasten und die soziale Sicherheit und Macht der upper ten thousand vermehren" (74).

Unproduktive Klasse

An anderer Stelle im selben Kapitel verwendet Marx auch die Begriffe "Mittelstufe zwischen Arbeiter und Kapitalist" (75), bzw. "unproduktive Klassen, Staat, Zwischenklassen" (76).

Mit dem Fortgang der Akkumulation, dem Steigen der Profitmassen bei gleichzeitigem Wachsen von organischer Zusammensetzung des Kapitals, Sinken der Profitraten, schließlich Überakkumulation, mit beständiger Reduktion der Belegschaften und Rationalisierung von Überkapazitäten, entwickelt sich eine Situation, in der das Volumen des gesamtgesellschaftlichen variablen Kapitals stagniert oder abnimmt (Verbilligung der in die Ware Arbeitskraft eingehenden Reproduktionskosten und Stagnation oder Verminderung der Arbeitsbevölkerung), gleichzeitig aber die aus Kapitalprofiten gespeisten Revenuen beständig wachsen. Dies ist für Marx die ökonomische Basis für eine Reihe von "Klassen", die für den kapitalistischen Produktionsprozeß an sich "nicht funktional" sind.

"Dies [das Wachsen der organischen Zusammensetzung des Kapitals] verhindert aber nicht, daß die Revenue beständig wächst, dem Wert und der Quantität nach. Aber deswegen wird nicht in demselben Verhältnis ein großer Teil des Gesamtprodukts in Arbeitslohn ausgelegt. Die nicht von der Arbeit lebenden Klassen und Unterklassen vermehren sich, leben besser als früher, und ebenso vermehrt sich die Zahl der unproduktiven Arbeiter". (77)

Worauf Marx hier anspielt, ist die Differenz von Produktionsprozeß und Reproduktionsprozeß: Im kapitalistischen Produktionsprozeß gibt es nur zwei große "funktionell bestimmte ökonomische Gesellschaftsklassen" - Kapital und Lohnarbeit (78). Im Gesamtreproduktionsprozeß erscheinen diese Klassen wieder in Form der Sektion 1 (Produktionsmittelindustrie - Produktion und Reproduktion des konstanten Kapitals) und der Sektion 2 (Konsumgüterindustrie - Reproduktion der Ware Arbeitskraft).

Es wäre jedoch eine unzulässige Vereinfachung, den gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozeß auf diese beiden Sektoren zu beschränken: eine konkrete kapitalistische Gesellschaftsformation wird dominiert vom kapitalistischen Produktionsverhältnis, ordnet sich jedoch verschiedene z.T. historisch bedingte Produktions- und Eigentumsverhältnisse unter, die sich in den Reproduktionsprozeß des Gesamtkapitals einordnen, bzw. ihm unterworfen werden. Die Reproduktion dieser Bereiche beruht unter der Dominanz des Kapitalverhältnisses auf der Verausgabung von Revenue aus den beiden industriellen Sektoren für was auch immer diese nicht unmittelbar kapitalistischen Sektoren an tatsächlichen oder angeblichen Diensten leisten.

Für die sich als Klassenverhältnisse darstellenden Verteilungsverhältnisse, sind daher nicht nur die Verhältnisse in der Produktion, sondern auch die historisch bestimmten Reproduktionsverhältnisse bestimmend: "Die sogenannten Verteilungsverhältnisse entsprechen also und entspringen aus historisch bestimmten, spezifisch gesellschaftlichen Formen des Produktionsprozesses und der Verhältnisse, welche die Menschen im Reproduktionsprozeß ihres menschlichen Lebens untereinander eingehen". (79)

Grundeigentum

Ein wesentliches Beispiel, das Marx im 3. Band des Kapitals sehr ausführlich behandelt, ist das Grundeigentum. Er bemerkt hierzu, daß es kein Wunder ist, daß frühbürgerliche Ökonomen, wie Ricardo "von der Zweiteilung zwischen Kapitalist und Lohnarbeiter ausgehn, und den Grundrentner erst später als eine spezielle superfetation hereinbringen, so entspricht dies ganz dem Standpunkt der kapitalistischen Produktion. (...) Kapitalist und Lohnarbeiter sind die einzigen Funktionäre und Faktoren der Produktion, deren Beziehung und Gegenübertreten aus dem Wesen der kapitalistischen Produktionsweise entspringt. (...) Die Produktion (...) könnte daher ungestört fortgehn, wenn der Grundrentner verschwände und der Staat an seine Stelle träte. Er ist kein notwendiger Produktionsagent - der Privatgrundeigentümer - für die kapitalistische Produktion, obgleich es nötig für sie ist, daß das Grundeigentum jemanden, nur nicht dem Arbeiter (...) gehöre. Diese im Wesen der kapitalistischen Produktionsweise - und im Unterschied zur feudalen, antiken, usw. - gegründete Reduktion der unmittelbar in der Produktion beteiligten Klassen, also auch der unmittelbaren Teilnehmer an dem produzierten Wert und weiter an dem Produkte, worin dieser Wert sich realisiert, auf Kapitalisten und Lohnarbeiter mit Ausschluß des Grundeigentümers (der erst post festum hineinkommt infolge nicht aus der kapitalistischen Produktionsweise hervorgewachsener, sondern ihr überlieferter Eigentumsverhältnisse an Naturkräften), so weit entfernt ein Fehler bei Ricardo usw. zu sein, macht sie zum adäquaten theoretischen Ausdruck der kapitalistischen Produktionsweise, drückt ihre differentia specifica aus". (80)

Diese Tendenz zur Reduktion der Klassenverhältnisse auf funktionelle Klassen ist allerdings nicht auf frühbürgerliche Theoretiker beschränkt, sondern auch unter "Marxisten" stark ausgeprägt.

An anderen Stellen macht Marx klar, worauf dieses Überleben nicht-funktioneller Klassen beruht: auf spezifisch-historischen Klassenkompromissen, die die Kapitalistenklasse aufgrund von Klassenkampfverhältnissen eingehen muß:

"Der Grundeigentümer, ein so wesentlicher Funktionär der Produktion in der antiken und mittelaltrigen Welt, ist in der industriellen a useless superfetation. Der radikale Bourgeois ... geht daher theoretisch zur Leugnung des privaten Grundeigentums fort ... In der Praxis fehlt jedoch die Courage, da der Angriff auf eine Eigentumsform - eine Form des Privateigentums an Arbeitsbedingungen - sehr bedenklich für die andre Form würde". (81)

Haltung der Kapitalistenklasse zu nicht-funktionalen Klassen

Daher reicht es dem Kapital, wenn dem Grundeigentum eine kapitalistische Form, die Grundrente gegeben wird, die der kapitalistische Betreiber des landwirtschaftlichen Betriebs dem Grundeigentümer zahlt. Tatsächlich ist die Umwandlung des feudalen Grundbesitzes in kapitalistisches, eine wesentliche Voraussetzung für die ursprüngliche Akkumulation und die Entstehung des "freien" Lohnarbeiters - und damit "funktional" für den Kapitalismus dieser Epoche.

Das Prinzip der Grundrente jedoch, Verhinderung des Ausgleichs der Profitraten für Agrarprodukte gegenüber Industrieprodukten, daher Bezahlung des Agrarprodukts zu ihrem Wert statt zum Durchschnittspreis, daher Verteilung des Mehrwerts in Form von Durchschnittsprofit für den Pächter und Rente für den Grundbesitzer, stellt eine Form von historischem Kompromiß dar, basierend auf einer Art Kartellbildung der Besitzer von natürlichen Rohstoffen, die die Kapitalistenklasse der Klasse der Grundeigentümer zugestanden hat. Die Form solcher Klassenkompromisse hat sich im Lauf der Entwicklung des Kapitalismus gewandelt, doch ist speziell der Agrarsektor fast überall ein Feld der Klassenkompromisse geblieben, ob mit unproduktiven, besitzenden Klassen oder ob mit Kleineigentümerklassen, die vor Verdrängungswettbewerb und Ausgleich der Profitraten geschützt werden. Ohne Einbeziehung solcher historisch-politischer Bedingungen, läßt sich die Entstehung konkreter Klassenlagen und Klassenkonflikte nur abstrakt-leer herleiten.

Doch bezieht sich diese Tendenz zu Klassenkompromissen mit nicht-funktionalen Klassen nicht bloß auf den Agrarsektor. Marx zitiert mit einiger Begeisterung Adam Smith: "'So sind zum Beispiel der Souverain mit allen seinen Justizbeamten und Offizieren, die ihm unterstehen, die ganze Armee und Flotte unproduktive Arbeiter. Sie sind Diener der Gesellschaft und werden von einem Teil des jährlichen Produkts des Fleißes anderer Leute erhalten ... In die gleiche Klasse gehören ... Geistliche, Juristen, Ärzte, Literaten und Gelehrte aller Art; Schauspieler, Possenreißer, Musiker, Opernsänger, Balettänzer usw.' Dies ist die Sprache der noch revolutionären Bourgeoisie, die sich die ganze Gesellschaft, Staat, etc., noch nicht unterworfen hat. Diese transzendenten Beschäftigungen, altehrwürdig, Souverain, Richter, Offiziere, Pfaffen etc. die Gesamtheit der alten ideologischen Stände, die sie erzeugen, ihre Gelehrten, Magister und Pfaffen werden ökonomisch gleichgestellt dem Schwarm ihrer eignen Lakaien und Lustigmacher... Sie sind bloße servants of public, wie die anderen ihre servants sind. Sie leben von dem produce of other people's industry, müssen also auf das unvermeidliche Maß reduziert werden. Staat, Kirche etc. bloß berechtigt, soweit sie Ausschüsse zur Verwaltung oder Handhabung der gemeinschaftlichen Interessen der produktiven Bourgeoisie sind; und ihre Kosten, da sie an und für sich zu den faux frais de production [Nebenkosten der Produktion] gehören, müssen auf das unentbehrliche Minimum reduziert werden". (82)

Diese Perspektive der radikalen Säuberung der "altehrwürdigen Stände" ändert sich, sobald die Bourgeoisie die Macht erobert hat: "Sobald die Bourgeoisie dagegen das Terrain erobert hat, teils selbst des Staates sich bemächtigt, teils ein Kompromiß mit seinen alten Inhabern gemacht, ditto die ideologischen Stände als Fleisch von ihrem Fleisch erkannt und sie überall in ihre Funktionäre, sich gemäß, umgewandelt hat; sobald sie selbst nicht mehr als Repräsentant der produktiven Arbeit diesen gegenübersteht, sondern sich ihr gegenüber die eigentlichen produktiven Arbeiter erheben und ihr ebenfalls sagen, daß sie von other people's industry lebt; sobald sie gebildet genug ist, nicht ganz in der Produktion aufzugehen, sondern auch "gebildet" konsumieren zu wollen; sobald mehr und mehr der geistigen Arbeiten selbst in ihren Dienst sich vollziehen, in den Dienst der kapitalistischen Produktion treten, wendet sich das Blatt, und sie sucht 'ökonomisch' von ihrem eignen Standpunkt aus zu rechtfertigen, was sie früher kritisch bekämpfte". (83)

Hier wird deutlich, daß der kapitalistisch organisierte Staat, in den eine Reihe mehr oder weniger privilegierte Stände integriert werden, zum zentralen Mechanismus im Reproduktionsprozeß wird, über den Revenue an nicht-funktionale Klassen verteilt wird. Obwohl der Staat im Kapitalismus eine bestimmte nützliche Funktion hat, heißt dies nicht, daß alle seine Bereiche auch direkt kapitalistisch organisiert sein müssen! Die Rolle des Staates und seiner Beschäftigten erfordert eine genauere Analyse.

Die öffentliche Gewalt und ihre sozialen Verkörperungen

Einerseits bedarf jede Klassengesellschaft, die auf Privateigentum beruht und Warenproduktion beinhaltet, in allen Epochen einiger übergreifender Institutionen: Dies betrifft vor allem die Form der öffentlichen Gewalt, die das Privateigentum in allen seinen Formen verteidigt (Polizei und Militär), Eigentumsrechte beglaubigt oder Streitigkeiten um Eigentumsrechte regelt und austrägt (Richter, Notare, Anwälte). Wie Engels im "Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates" zeigt, ist es wesentlich, daß sich diese "öffentliche Gewalt" vom Rest der Gesellschaft absondert, nicht mehr die "selbständig bewaffnete Organisation der Gesamtbevölkerung" ist, oder die Rechtsbarkeit des ganzen Stammes darstellt:

"Im Besitz der öffentlichen Gewalt und des Rechts der Steuereintreibung, stehn die Beamten nun da als Organe der Gesellschaft über die Gesellschaft. Die freie, willige Achtung, die den Organen der Gentilverfassung gezollt wurde, genügt ihnen nicht, selbst wenn sie sie haben könnten; Träger einer der Gesellschaft entfremdeten Macht, müssen sie in Respekt gesetzt werden durch Ausnahmegesetze, kraft deren sie einer besondren Heiligkeit und Unverletzlichkeit genießen. Der lumpigste Polizeidiener des zivilisierten Staates hat mehr 'Autorität' als alle Organe der Gentilgemeinschaft zusammengenommen". (84)

Daraus ergibt sich, daß diese speziellen Vertreter der öffentlichen Gewalt besondere Kasten bilden, die zwar in verschiedenen Klassengesellschaften unterschiedliche Formen annehmen, die sich aber in ihnen allen durch Sonderrechte und Absonderung vom Rest der Bevölkerung hervortun. Alle bisherigen Revolutionen übernahmen von ihren Vorgängern diesen Staatsapparat, paßten ihn den Bedürfnissen der neuen herrschenden Klasse an, verfeinerten den Unterdrückungsapparat. Daher gilt dies nicht für die Revolution, die der Klassenherrschaft an sich das Ende setzt:

"Aber die Arbeiterklasse kann nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen und diese für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen. Die zentralisierte Staatsmacht, mit ihren allgegenwärtigen Organen - stehende Armee, Polizei, Bürokratie, Geistlichkeit, Richterstand, Organe, geschaffen nach dem Plan einer systematischen und hierarchischen Teilung der Arbeit - stammt aus den Zeiten der absoluten Monarchie, wo sie der entstehenden Bourgeoisherrschaft als eine mächtige Waffe gegen den Feudalismus diente. (...) In dem Maß, wie sich der Fortschritt der modernen Industrie den Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit entwickelte, erweiterte, vertiefte, in demselben Maß erhielt die Staatsmacht mehr und mehr den Charakter einer öffentlichen Gewalt zur Unterdrückung der Arbeiterklasse, einer Maschine der Klassenherrschaft". (85)

Der Gegensatz des Klasseninteresses der Arbeiterklasse und der Interessen der Kasten, die die öffentliche Ordnung repräsentieren, ist daher offensichtlich. Einerseits zielt das objektive Interesse der Arbeiterklasse auf die Zerschlagung der bürgerlichen Staatsmaschinerie, auf die Auflösung der Sonderrechte der verschiedenen sie repräsentierenden Kasten durch die selbstverwaltete Kommune mit zeitweilig ernannten Funktionären, die verbleibende Staatsfunktionen erfüllen, andererseits sind die Repräsentanten der bürgerlichen Staatsmacht das unmittelbare Instrument zur Unterdrückung des proletarischen Klasseninteresses.

Selbst wo diese Funktionen in Form produktiver Lohnarbeit verrichtet werden sollten (z.B. bei privaten Werkschutz oder Wachdiensten), bindet diese Schichten ihr Sonderinteresse und ihre Funktion an die herrschende Klasse und macht sie in jedem Fall zum Gegner, niemals zum Bestandteil der Arbeiterklasse. Dies trifft auch auf die Bediensteten der Polizei zu: Auch wenn diese zumeist durchschnittlich bezahlte Lohnabhängige sind, sind sie einerseits nicht in irgendeinem Sinn produktive Arbeiter, andererseits durch Sonderrechte mit Autorität ausgestattet, die sie gegen den Rest der Bevölkerung, insbesondere gegen die Arbeiterklasse stellt. Der erste Punkt heißt vor allem auch, daß ihr Arbeitsverhältnis nicht durch irgendeine Form von kapitalistischen Verwertungs- und Effizienzbedingungen bestimmt ist, sondern durch ein internes Kastenregime, das Position und Aufstiegsmöglichkeiten regelt. Ihrem sich stets steigerndem Sicherheitsbedürfnis opfert die Bourgeoisie einen beträchtlichen Teil ihrer Revenue, ohne allzu strenge Kostenkriterien zur Bedingung zu machen.

Die Bürokratie als soziales Phänomen

Ein zweites Element, das sich mit der erwähnten wachsenden Zentralisierung des Staatswesens und der im Kapitalismus gestiegenen ökonomischen Funktion des Staates entwickelt, ist die Bürokratie. Sie stellt eine spezifische Form von gesellschaftlicher Arbeitsteilung dar, durch die ökonomische und Ordnungsfunktionen des Staates angeleitet und koordiniert werden in Form einer staatlichen Verwaltung. Max Weber hat in "Wirtschaft und Gesellschaft" eine aufschlußreiche Analyse bürokratischer Herrschaft geliefert, die auch für eine marxistische Weiterentwicklung gute Dienste leisten kann.

Darin charakterisiert er Bürokratie durch die Durchsetzung von "formaler Rationalität" - der zweckfreien, regelgeleiteten Lösung irgendwelcher, von irgendwem aus irgendeinem Grund vorgegebenen Aufgaben - im Gegensatz zu traditionalem Handeln - von der Tradition anerkannte Zwecke werden entsprechend traditioneller Handlungsweisen erreicht - und "materialer Rationalität" - Zweck/Mittel-Optimierung und die Hinterfragung des "Sinns" der Gesamthandlung sind kombiniert:

"Die bürokratisch-monokratische aktenmäßige Verwaltung (...) ist nach allen Erfahrungen die an Präzision, Stetigkeit, Disziplin, Straffheit und Verläßlichkeit, also: Berechenbarkeit für den Herrn wie für den Interessenten, formal universeller Anwendbarkeit auf alle Aufgaben, rein technisch zum Höchstmaß der Leistung vervollkommenbare, in all diesen Bedeutungen: formal rationalste Form der Herrschaftsausübung" (86). Bürokratische Herrschaftsausübung beruht auf:

einer genau geregelten Arbeitsteilung zwischen verschiedenen Ämtern (und deren Unterabteilungen) mit festgelegten Kompetenzen;

einer festgelegten Anweisungshierarchie, die jedem Amt etc. einen eindeutigen Zweckgeber bestimmt (monokratische Verwaltung);

auf der Anstellung hauptamtlicher Bediensteter, die der Amtspflicht unterworfen sind und ihre Tätigkeiten aktenmäßig dokumentieren;

darauf, daß sich die "Legitimität" der einzelnen bürokratischen Handlung "letztlich" aus der Rechtmäßigkeit der kommandierenden politischen Spitze, der "Legislative" ergibt, die die Zwecke vorgibt.

Mit zunehmender Bürokratisierung sieht Weber allerdings die Tendenz zur Verselbständigung der bürokratischen Apparate: In den Verwaltungsregelungen materialisieren sich unterschiedliche gesellschaftliche Interessen, so wie die Ämter auch heterogenen Einflüssen und nicht bloß einer Hierarchie ausgesetzt sind. Die Regelungen halten mit den gesellschaftlichen Entwicklungen nicht stand, das Gesamtsystem wird unüberschaubar, reagiert mit unerwarteten Handlungsweisen, etc. Um Entscheidungen fällen zu können, die sich in diesen Apparaten überhaupt noch umsetzen lassen, braucht es selbst wieder bürokratische Experten etc. Schließlich werden die politischen Spitzen zu bloßen Verkäufern von Entscheidungen, die irgendwo im Verwaltungsapparat entstanden sind. Natürlich erkennt Weber nicht die tatsächlichen Ursachen der bürokratischen Wucherungen (die in kapitalistischen Staaten und degenerierten Arbeiterstaaten auch ganz unterschiedlich analysiert werden müssen), um die es hier auch gar nicht geht. Wesentlich ist sicher die empirisch untermauerte Tatsache der Herausbildung einer bestimmten, mit der Entfaltung der bürokratischen Herrschaft unter kapitalistischen Bedingungen verbundenen Gesellschaftskaste.

Rolle des Beamten

Die Träger dieser Bürokratie, die Beamten, zeichnen sich durch eine spezielle Form von "Fachwissen" aus. "Das große Mittel der Überlegenheit der bürokratischen Verwaltung ist: Fachwissen, dessen völlige Unentbehrlichkeit durch die moderne Technik und Ökonomik der Güterbeschaffung bedingt wird." (87).

Im Gegensatz zur Kopfarbeit im unmittelbaren Produktionsprozeß ist bürokratisches Fachwissen aufs engste mit der Position des betreffenden Bürokraten im Organisationsgefüge verknüpft. Es ist vor allem Wissen darüber, welche Anweisungen, Anfragen, finanzielle Anforderungen etc. gegenüber anderen Organisationselementen auszugeben sind, um vorgegebene Aufgaben zu lösen. Verliert also ein Bürokrat seine Position, so ist für ihn dieses Wissen zumeist vollkommen wertlos (anders als für einen Produktionsarbeiter, der seine Qualifikation auch anderswo anwenden könnte).

Der Bürokrat wird daher wesentlich nicht nach den Reproduktionskosten seiner Ware Arbeitskraft entlohnt, sondern nach seiner Position in der Organisationsstruktur, so wie auch nicht unmittelbar kapitalistische Kosten/Nutzen-Kriterien für die Beurteilung seiner Arbeit gelten, sondern bloß die pflichtgemäße Erfüllung bestimmter Aufgaben, die an sich völlig unsinnig sein könnten. Ein Produktionsarbeiter, der genial und effizient eine Ware produziert, die dann aber niemand kauft, wird im wirklichen kapitalistischen Produktionsprozeß hier ganz anders behandelt.

Da letztlich die Kapitalistenklasse ein dominierendes Interesse an einer kostenoptimalen Verwaltung ihrer Gemeininteressen hat, wird sich das Kapitalverwertungs-interesse letztlich auch in der Verwaltung als "Kostendruck" überdeutlich machen. Das Kapitalverhältnis wirkt hier aber nur indirekt und durch viele, in Jahrhunderten entwickelte bürokratische Abwehrmechanismen abgefedert. Dies macht deutlich, daß die staatliche Verwaltung ein besonderes Arbeitsverhältnis darstellt (wenn auch den kapitalistischen Produktionsverhältnissen untergeordnet), das die Basis für kastenmäßige Sonderinteressen der in ihr Beschäftigten bildet.

Gerade weil das objektive Interesse der Arbeiterklasse an der Zerschlagung des bürgerlichen Staates die Abschaffung der Hauptamtlichkeit der Ausführung von Gemeinschaftsfunktionen und die Selbstverwaltung der Produzenten/Konsumen-ten genauso beinhaltet, wie die Beseitigung der materiellen Privilegierung von Bürokraten und Experten, sind die objektiven Interessen von Bürokratie und Arbeiterklasse in einem Gegensatzverhältnis (Bemerkung: Ein Gegensatzverhältnis ist an sich noch kein Widerspruchsverhältnis; es gibt viele gesellschaftliche Gegensatzverhältnisse, die nicht den Charakter wesentlicher dialektischer Widersprüche haben!).

Bürokratie als herrschende Kaste

Die besonderen Kasteninteressen der Bürokratie wurden in spezifischer Weise in den degenerierten Arbeiterstaaten deutlich. Trotzki beschreibt in seiner Analyse des Sowjetthermidors ausführlich den sozialen Charakter der Bürokratie in unterschiedlichen Gesellschaftsformationen. Kurz zusammengefaßt erklärt er Ähnlichkeiten und Unterschiede in folgender Stelle:

"In ihrer vermittelnden und regulierenden Funktion, ihrer Sorge um die Erhaltung der sozialen Rangstufen und der Ausnutzung des Staatsapparates zu Privatzwecken ähnelt die Sowjetbürokratie jeder anderen Bürokratie, besonders der faschistischen. Aber es gibt auch Unterschiede: Unter keinem anderen Regime, mit Ausnahme der UdSSR hat die Bürokratie einen solchen Grad an Unabhängigkeit von der herrschenden Klasse erlangt. In der bürgerlichen Gesellschaft vertritt die Bürokratie die Interessen der besitzenden und gebildeten Klasse, die über unzählige Mittel verfügt, ihre Verwaltung zu kontrollieren. Die Sowjetbürokratie jedoch erhob sich über eine Klasse, die, eben erst aus Elend und Dunkel befreit, im Herrschen und Kommandieren keine Tradition besitzt. Während die Faschisten, nachdem sie die Futterkrippe erreicht haben, mit der Großbourgeoisie gemeinsame Interessen-, Freundschafts-, Ehebande usw. knüpften, macht sich die Bürokratie in der UdSSR die bürgerlichen Sitten zu eigen, ohne eine nationale Bourgeoisie als Partner zu haben". (88)

Was die Bürokratie auch hier noch zu einer Kaste - also nicht einer herrschenden Klasse - macht, ist die Tatsache, daß die bürokratische Kaste nicht in der Lage ist, eigene Eigentumsverhältnisse an Produktionsmitteln durchzusetzen, sondern auf Staatseigentum gegründet ist, also Produktionsziele befolgen muß, die vorgeblich dem Interesse der Gesamtbevölkerung entsprechen (eine wichtige Ausnahme stellt allerdings auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung der Produktivkräfte die asiatische Produktionsweise dar).

Die ökonomischen Funktionen des kapitalistischen Staates

Das Wesen des Kapitalismus, die Akkumulation von Mehrwert, ergibt sich aus der Analyse des Reproduktionsprozesses des Kapitals im allgemeinen - also unabhängig von der Betrachtung von Einzelkapitalen und ihrer Konkurrenz untereinander. Im Gegenteil, die Konkurrenz und ihre Wirkungen ergeben sich als logische Folge der Wirkung der Akkumulation, sobald die Analyse zur Stufe des vereinzelten Kapitals weitergeht (denn die Verengung des Marktes durch die auf die einzelnen Kapitale aufgeteilte Akkumulation des Gesamtkapitals wirft diese erst in verschärfte Konkurrenz).

 Andererseits ist es in der konkreten Wirklichkeit wiederum die Erscheinungsform - die Konkurrenz der Einzelkapitale - die sich als das bewegende Element herausstellt, das das Wesen erst manifest werden läßt: Erst durch die Konkurrenz "wird als äußerliche Notwendigkeit für das einzelne Kapital gesetzt, (...) was dem Begriff des Kapitals entspricht. (...) Was in der Natur des Kapitals liegt, wird nur herausgesetzt als äußere Notwendigkeit durch die Konkurrenz, die weiter nichts ist, als daß die vielen Kapitale die immanenten Bestimmungen des Kapitals einander aufzwingen und sich selbst aufzwingen". (89)

Einerseits ist daher Kapital nur vorstellbar als "viele Kapitale", es besteht eine Tendenz zur Totalisierung der Kapitalbestimmung auf alle ökonomisierbaren Bereiche, d.h. eine Tendenz zur Organisierung aller gesellschaftlichen Bereiche über die Konkurrenz von Privatkapitalien. Andererseits drückt die Akkumulationstendenz gleichzeitig das beständige Hinaustreiben des Kapitals über seine beschränkte Form als quantitativ begrenztes Einzelkapital aus. Rosdolski (90) erinnert hier zurecht an Hegels Dialektik von "Endlichem" und "Unendlichem", wenn er von Marx Behandlung des Verhältnisses von Einzel- und Gesamtkapital spricht: Das real existierende Kapital kann nur als Einzelkapital existieren, das gleichzeitig als sein Wesen, ein nie erreichbares, absolut zentralisiertes Kapital hat, das sich wie der Grenzwert im Unendlichen zum Ausdehnungsdrang der Einzelkapitale verhält.

In verschiedenen Stufen seiner Entwicklung bringt das Kapital daher immer wieder Formen von verallgemeinerterem Kapital hervor, Abbilder des Gesamtkapitals, z.B. im Kreditwesen, Aktiengesellschaften, Kartelle, Monopole etc., um dann um so heftiger wieder in neue Konkurrenzverhältnissen auf höherer Ebene zu enden; bringen damit den zugrundeliegenden Widerspruch von Tendenz zur zunehmenden Vergesellschaftung und Konzentration des Produktionsmitteleigentums in immer weniger Händen zum Ausdruck:

"Sobald es anfängt sich selbst als Schranke der Entwicklung zu fühlen und gewußt zu werden, nimmt es zu Formen Zuflucht, die, indem sie die Herrschaft des Kapitals zu vollenden scheinen, durch Zügelung der freien Konkurrenz zugleich die Ankündigung seiner Auflösung und der Auflösung der auf ihm beruhenden Produktionsweise sind". (91)

Eine dieser widersprüchlichen Erscheinungsformen des imaginären Gesamtkapitalisten ist auch der im kapitalistischen Reproduktionsprozeß fungierende Staatssektor. Auch er drückt einerseits die Tendenz zur Überwindung des beschränkten Einzelkapitalstandpunkts unter kapitalistischen Bedingungen aus; andererseits ist er aber genau diesem untergeordnet, hat für diesen bestimmte Funktionen zu erfüllen. Diese beiden Seiten geraten beständig in Konflikt, wobei die allgemeine Natur des Kapitalismus stets das Gewicht des Einzelkapitalstandpunkts bevorrechtet.

Die ökonomischen Aufgaben des Staates sind daher keine fixen, sondern relativ, gemessen an dem Entwicklungsstand des Kapitalismus. Aus verschiedenen Gründen kann das Kapital zeitweise gezwungen sein, wirtschaftliche Funktionen an den Staat abzugeben. Dies ist z.B. zumeist der Fall bei der Schöpfung und Ausgabe von Geld als Grundlage des Zirkulationsprozesses. Aber selbst dies kann auch durch Privatbanken erfüllt werden (z.B. Schweizer Nationalbank). Auch Sektoren aus dem Produktionsbereich, wie Straßenbau, Energiesektor, Transportwesen (Bahn, städtische Transportunternehmen), Post- und Telekommunikation, etc. können zeitweise vom Staat übernommen werden, wenn eine privatkapitalistische Führung dieser Bereiche zu viel Kapital im Verhältnis zur Entwicklung des inländischen Privatkapitalsektors erforderte etc. Die Bedeutung dieser Bereiche im Rahmen der gesamtkapitalistischen Produktion- und Reproduktion erfordert dann eine gesamtwirtschaftliche Instanz, die genug Mittel aufbringen kann, um die betreffenden Risiken und Kosten zu übernehmen. Ebensolches gilt auch für den Reproduktionsbereich, z.B. für das Gesundheits-, Ausbildungswesen und kommunale Versorgungseinrichtungen.

Nichtproduktive Arbeit im Staatssektor

Arbeit, die im Staatssektor geleistet wird, ist im eigentlichen Kapital-Sinn nicht produktiv, so nützlich sie in irgendeiner Form auch sei:

"Nur der Arbeiter ist produktiv, der Mehrwert für den Kapitalisten produziert, oder zur Selbstverwertung des Kapitals dient. Steht es frei, ein Beispiel außerhalb der Sphäre der materiellen Produktion zu wählen, so ist ein Schulmeister produktiver Arbeiter, wenn er nicht nur Kinderköpfe bearbeitet, sondern sich selbst abarbeitet zur Bereicherung des Unternehmers. Daß letzterer sein Kapital in einer Lehrfabrik angelegt hat, statt in einer Wurstfabrik, ändert nichts an dem Verhältnis. Der Begriff des produktiven Arbeiters schließt daher keineswegs bloß ein Verhältnis zwischen Tätigkeit und Nutzeffekt, zwischen Arbeiter und Arbeitsprodukt ein, sondern auch ein spezifisch gesellschaftliches, geschichtlich entstandenes Produktionsverhältnis, welches den Arbeiter zum unmittelbaren Verwertungsmittel des Kapitals stempelt". (92)

Die Arbeit im Staatssektor ist nicht produktiv, da sie nicht der Verwertung eines konkreten Kapitals dient. Hier kommt der eigentümliche Charakter des Staates als "imaginärer Gesamtkapitalist" zum Vorschein: Einerseits ist der Staat notwendig, um die Verwertung des Gesamtkapitals zu ermöglichen, andererseits ist er selbst aber kein wirkliches Kapital, dem seine Gesetzmäßigkeiten durch Konkurrenz mit anderen Einzelkapitalen aufgezwungen würde. Dies muß natürlich modifiziert werden, sobald der Weltmarkt und die Rolle des Staates in der ursprünglichen Akkumulation betrachtet wird: Es kann in schwächeren kapitalistischen Ländern oder in speziellen industriellen Sektoren staatliche Unternehmen geben, die wesentlich für Export- oder Import-Substitution arbeiten. Hier tritt dann der Staat auch tatsächlich als Einzelkapital auf. In jenen Staatsindustrien, wo die Lohnarbeit der Kapitalbildung dient, sind die Beschäftigten üblicherweise produktive Arbeiter.

Damit tritt die paradoxe Situation auf, daß Arbeit, die keinen Wert schafft - wie kommerzielle Lohnarbeit -, durchaus für das Einzelkapital produktiv sein kann (weil sie Kapital verwertet), während Arbeit, die an sich verkaufbaren Wert schafft - z.B. in einer staatlichen Industrie (mit den erwähnten Ausnahmen) - unproduktiv ist, da sie nicht Mehrwert FÜR EIN Kapital schafft. Arbeit im staatlichen Sektor erscheint für das Kapital immer als "Nebenkosten der Produktion", in Form von Steuern, Abgaben, Gebühren etc., die die Revenue schmälern, und daher so gering als möglich zu halten sind.

Hier wird die Verwaltung des bürgerlichen Staates zum entscheidenden Instrument der Interessen des Gesamtkapitals: Ihre Aufgabe ist die größtmögliche Reduktion dieser Nebenkosten. Sofern sich die Arbeit im Staatssektor daher als Warenproduktion organisieren läßt (die einzelnen Leistungen und Dienste werden als Ware verkauft - z.B. Gebühr für ein einzelnes Telefongespräch oder eine einzelne Transportleistung, statt Pauschalgebühr), ist es möglich, eine Berechnung der Bilanz von Kostpreissumme zu realisierter Preissumme durchzuführen.

Lohnarbeit in der öffentlichen Verwaltung

Der vom Kapital über die staatliche Verwaltung ausgeübte Druck, Verluste in dieser Rechnung zu minimieren, bzw. möglichst einen Gewinn zu erzielen, führt dazu, daß das von der Verwaltung angestellte lohnabhängige Personal wie variables Kapital behandelt wird: Es kommt darauf an, so viel als möglich Mehrarbeit aus ihm heraus zu pressen, um die Kostenminimierungsziele zu erreichen, während die Entlohnungshöhe vor allem von den Reproduktionskosten der Arbeitskraft, wie sie für Lohnabhängige mit ähnlichen Qualifikationen in der Privatindustrie gelten, abhängt, und nicht von einer davon unabhängigen Beurteilung der Arbeitsleistung.

Für viele Länder gilt dies für das "untere" Personal in Krankenhäusern, staatlichen Post- und Telefongesellschaften, Bahn etc.  Wenn auch in vermittelter Form gilt für nicht-Verwaltungspersonal in solcher Art Staatsbetrieben in analoger Form wie in der Privatindustrie das langfristige Schicksal der Arbeiterklasse: Lohndrückerei, beständige Tendenz zur Verschlechterung von Arbeitsbedingungen, Arbeitsplatzun-sicherheit. Diese Schichten integrieren sich daher natürlicherweise in die Arbeiterklasse (organisatorisch, milieumäßig etc.), gehören oft sogar zu ihren besonders gut organisierten Teilen.

Unterschied in der Organisation des Arbeitprozesses

Allerdings gibt es im staatlichen Sektor wesentliche Unterschiede, was die Form der Organisierung des Arbeitsprozesses betrifft. Einerseits ist die Verwaltung eines staatlichen Betriebes - anders als die eines Privatbetriebs - wesentlich stärker nach dem bürokratischen Prinzip der Arbeitsteilung und -bewertung organisiert und privilegiert. Sie geht letztlich mit der Bürokratie der hoheitlichen Staatsverwaltung in die bürokratische Kaste auf.

Dies wird besonders deutlich bei Privatisierungen, bei denen besonders die Verwaltungsbereiche von enormen "Umstrukturierungen" betroffen sind, und die "Amtsleiter" an der Spitze der Betriebe durch wirkliche Bourgeoisie/Manager ersetzt werden. Andererseits werden speziell in Staatsbetrieben oft ständische Privilegien bestimmter Beschäftigtengruppen besonders zählebig konserviert. Dies kann sich in verschiedenen Formen von Absicherung des Arbeitsplatzes (z.B. in Deutschland durch den Beamtenstatus), Schutz vor Rationalisierungen und weit über dem Durchschnitt liegenden Löhnen äußern (z.B. Piloten staatlicher Luftlinien, Krankenhausärzte). Solche Schichten können von der Bürokratenkaste durchaus getrennte eigene Mittelschichten bilden.

Einen besonderen Bereich bildet der staatliche Ausbildungssektor, da er selten mit einer der Warenproduktion entnommenen Kostenrechnung verbunden ist. In vielen Ländern ist dieser Bereich auch traditionell mit einer Privilegierung der in ihnen vertretenen ideologischen Stände (Lehrer, Universitätslektoren etc.) verbunden, sowohl was Arbeitsplatzsicherheit, gute Bezahlung und hohes Maß an Selbstbestimmung über die Arbeitsbedingungen betrifft. Allerdings sind durch die "Industrialisierung" von Teilen dieses Bereichs in der Form von Institutionen der Massenbildung viele dieser Privilegien zumindest bei Teilen dieser Schichten im Verschwinden begriffen. In solchen Bereichen kann auch mit Kostenrechnungen gearbeitet werden, wo die Schulverwaltungen durch Reduktion von Personal, Schaffung schlechtbezahlter, befristeter Posten, Ausdehnung von Lehraufgaben (z.B. höhere Schülerzahlen), unter schlechter werdenden Bedingungen (was Ausgaben für Lehrmittel und Gebäude betrifft), Steuermittel für die Massenbildung zu sparen versuchen.

Wie auch bei Technikern und Ingenieuren ist die Klassenposition von Lehrern daher differenziert zu betrachten, nach Besonderheiten verschiedener Länder, der Entwicklung der Arbeitsbedingungen durch Umstrukturierungen des Lehrprozesses in verschiedenen Schultypen, des Abbaus von Sonderprivilegien, etc.. Es kann dabei durchaus sein, daß ein Bestandteil des produktiven Gesamtarbeiters, z.B. ein Lehrer einer Privatschule durch Sonderprivilegien zu den Mittelschichten zu zählen ist, während ein im Kapitalsinne unproduktiver, schlechtbezahlter, befristet angestellter Lehrer einer Grundschule in natürlicher Weise der Arbeiterklasse angehört. Es muß bei Lehrern allerdings noch ein weiterer Aspekt betrachtet werden: Ihre Herkunft aus den "ideologischen Ständen".

Die ideologischen Stände und die Kopfarbeiter der herrschenden Klasse

Die Entstehung des gesellschaftlichen Bewußtseins einer Epoche wird von Marx als eigenartige Form von Produktion aufgefaßt: "Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zur Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind". (93)

Zu diesem Zweck entwickelt sich jedoch ein eigener "Produktionszweig":

"Die Teilung der Arbeit, die wir schon oben als eine der Hauptmächte der bisherigen Geschichte vorfanden, äußert sich nun auch in der herrschenden Klasse als Teilung der geistigen und materiellen Arbeit, so daß innerhalb dieser Klasse der eine Teil als Denker dieser Klasse auftritt (die aktiven konzeptiven Ideologen derselben ...) während die Andern sich zu diesen Gedanken und Illusionen mehr passiv und rezeptiv verhalten, weil sie in der Wirklichkeit die aktiven Mitglieder dieser Klasse sind und weniger Zeit dazu haben, sich Illusionen und Gedanken über sich selbst zu machen". (94)

In der Wirklichkeit sind diese ideologischen Arbeiten zumeist mit für das Gesamtkapital auch praktisch nützlichen Arbeiten verbunden. So z.B. die Arbeit der Zeitungsproduktion, die nicht nur der Verbreitung von Ideologie, sondern auch z.B. von Nachrichten beinhaltet, die für das Funktionieren der Zirkulation oder Unternehmensplanung wichtig sein können; oder die Universitäten, die ja auch für das Kapital verwertbare Forschungsergebnisse hervorbringen und nicht nur die Überlegenheit der Marktwirtschaft zu verkünden haben.

Auch Schulen haben wichtige ideologische Funktionen: Nicht nur in dem Sinn, daß den Schülern bestimmte ideologische Inhalte eingetrichtert werden, sondern auch deswegen, da sie Kinder generell an Arbeitsdisziplin gewöhnen, und daran, daß das Erlernen sinnlosen Fachwissens und die Erledigung sinnloser Tätigkeiten in dieser Gesellschaft äußerst positiv bewertet wird, wenn es nur von den richtigen Leuten angeschafft wird.

Die Wichtigkeit der ideologischen Funktion bestimmter Berufe kann dazu führen, daß ihre Träger vom Kapital privilegiert werden, materiell oder durch Ausstattung mit besonderer Autorität und sozialem Status. Ein Weg, in dem dies in vielen Ländern geschah, war die Integration überkommener "ideologischer Stände" in die bürgerliche Gesellschaft und ihre kapitalkonforme Umfunktionierung (siehe Zitat oben).

In diesem Sinne hat die Bourgeoisie-Klasse in unterschiedlichen Ländern bestimmte Kompromisse mit solchen Institutionen wie Kirche und Universität durchgeführt. Allerdings hat die Bourgeoisie auch eigene ideologische Stände hervorgebracht, die auf das engste mit der Entstehung der bürgerlichen Klasse selbst verbunden sind: die bürgerlichen Journalisten sowie hauptamtliche Berufspolitiker und Verbandsfunktionäre. Beide sind zugleich wesentliche Elemente, durch die bürgerliche Klasseninteressen gegenüber den Eigengesetzlichkeiten des Staatsapparats durchgesetzt werden.

Schließlich muß noch erwähnt werden, daß die geistig-ideologische Produktion selbst auch der Kapitalverwertung dienen kann, wie die moderne Medienindustrie beweist. Einerseits wird dabei eine wachsende Masse an Lohnabhängigen beschäftigt, andererseits gibt es Tendenzen der Proletarisierung auch bei ideologischen Ständen (z.B. Journalisten).

Das traditionelle Kleinbürgertum

Neben den für den kapitalistischen Produktionsprozeß funktionalen Klassen und den erwähnten Mittelschichten gibt es in entwickelten kapitalistischen Ländern auf der Grundlage spezifischer historischer Entwicklungen und Gegebenheiten zwei weitere Klassen in jeweils spezifischer Gestalt: das städtische und das ländliche Kleinbürgertum.

Auf der Grundlage der einfachen Warenproduktion- und Zirkulation beruhend, entwickeln sich diese Klassen in "Nischen" des Kapitalismus, in denen die Individualarbeit nicht durch fortschreitende Vergesellschaftung und Akkumulation von Mehrwert auf immer höherer Stufenleiter geprägt ist - in denen sich also das Kapitalverhältnis nur beschränkt entwickelt. Im Unterschied zur Mittelbourgeoisie, deren untere Teile es nicht einmal zur vollentwickelten industriellen Arbeitsteilung gebracht haben müssen, ist die ökonomische Tätigkeit von Kleinhändlern, Gastwirten, kleinen Handwerksbetrieben oder dem bäuerlichen Familienbetrieb nicht primär auf die ständige Ausweitung des eigenen Betriebes auf der Grundlage der Mehrwertaneignung gegründet. Wo dies der Fall ist, zeigt sich zumeist schon der Übergang zum akkumulierenden Kapitalisten.

Das Interesse am Schutz des Privateigentums vereinigt diese Schichten mit der Bourgeoisie, so wie sie auch wichtige Träger der Ideologie vom auf eigene, private Leistung begründetem Reichtum sind. Andererseits ist ihre gesellschaftliche Stellung durch die Entwicklung der Akkumulation, besonders durch die voranschreitende Vergesellschaftung und Industrialisierung aller Produktions- und Zirkulationsarbeiten wesentlich bedroht. Das kleinbürgerliche Eigentumsverhältnis definiert daher eine eigene Klassenlage, die durch den Behauptungskampf ihrer Träger gegen die existentiellen Bedrohungen durch die beiden gesellschaftlichen Hauptklassen zu speziellen Klassen geformt wurden.

Sowohl Bauern, wie auch städtisches Kleinbürgertum entwickelten dabei feste Milieus, politische Organisationen und Ideologien, die diesen Klassen lange Zeit eine gegenüber den anderen Mittelschichten getrennte Ausdrucks- und Erscheinungs-form gaben. Diese Deutlichkeit, in der diese beiden Schichten als gesellschaftlich handelnde Subjekte auftraten, liefert auch die Rechtfertigung für ihre Bezeichnung als "Klassen", im Unterschied zu bloß an sich bestehenden Schichten. Ihre feste materielle Fundierung bewirkte dabei auch eine führende ideologische Rolle dieser Klassen in den Mittelschichten.

Zu den wesentlichen klassensoziologischen Veränderungen dieses Jahrhunderts gehört der Rückgang dieser zentralen Bedeutung des traditionellen Kleinbürgertums in den Mittelschichten in den imperialistischen Ländern. Dies ist einerseits bedingt durch die fortschreitende Durchkapitalisierung aller Lebensbereiche, die sich sowohl in der Ausweitung der industriellen Produktion als auch der Ausdehnung von kommerziellem Kapital und Finanzkapital äußert. Damit werden viele Bereiche, die früher von Kleinstbetrieben geprägt waren, von mittlerem oder großem Kapital dominiert (z.B. Entwicklung von Großkaufhäusern).

Dies ist weiters bedingt durch die damit zusammenhängende starke Ausdehnung des öffentlichen Sektors, der viele ehemals kleinbürgerliche Schichten in sich aufsog. Schließlich bedeuten Produktivitätsfortschritte in der Lebensmittelproduktion, Ausdehnung des Welthandels mit Agrarprodukten und die zunehmende Bedeutung von Finanzkapital und öffentlichem Sektor in der Landwirtschaft, daß die Bauernschaft extrem geschrumpft ist, sich zunehmend differenziert und ihre früheren politischen Spielräume mehr und mehr verliert.

In Zahlen drückt sich das in einer Abnahme der "selbständig Beschäftigten" an der Gesamtbevölkerung aus (waren in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts noch über 30% der Bevölkerung in Deutschland unter der Kategorie "Selbständige und mithelfende Familienangehörige" zu finden, so sind dies heute knappe 10%). Insgesamt sind daher das städtische Kleinbürgertum und die Bauern sich in Auflösung befindliche Klassen, die ihre zentrale Stellung unter den Mittelschichten an andere, zahlenmäßig größere Schichten (z.B. Staatsbedienstete) verloren haben.

Auswirkungen des Kapitalismus als Weltsystem auf das Klassengefüge

Der Kapitalismus ist ein ökonomisches System, das sich seinem Wesen nach innerhalb von Nationalstaaten entwickelt. Sowohl die Wirkung der interdependenten Zirkulationssphären (Aufteilung der Welt in verschiedene Währungsbereiche) als auch der Zusammenhang nationaler Bourgeoisien mit ihrem speziellen bürgerlichen Staat bedingen, daß sich die kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten auf dem Weltmarkt in modifizierter Weise durchsetzen. Dies gilt insbesondere in der imperialistischen Epoche des Kapitalismus, in der sich die kapitalistische Entwicklung verschiedener Weltregionen nach dem Gesetz der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung durchsetzt, beherrscht von dem in imperialistischen Metropolen konzentrierten Finanz- und Monopolkapital.

Dies bedeutet klassenmäßig einerseits eine weitere Differenzierung auf der Seite von Bourgeoisie und Mittelschichten. In der Bourgeoisie verstärkt sich die Trennung von reinen Eigentümern, Rentiers, Dividendenkassierern etc. auf der einen Seite und Leitungsfunktionen ausführenden Kapitalfunktionären andererseits, genauso wie die Herausbildung einer mächtigen Teilschicht von Großfinanz- und Monopolkapitalisten gegenüber einer zurückfallenden Mittelbourgeoisie. Dies geht allerdings nicht so weit, daß man, wie bei einigen Theoretikern des Staatsmonopolkapitalismus von einer tatsächlichen Klassenspaltung reden könnte. Beide Teile der Bourgeoisie bleiben im wesentlichen denselben Gesetzmäßigkeiten (Akkumulationsgesetz, Ausgleich der Profitraten, Tendenz zum Fall der Profitrate) ausgesetzt, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Genauso eint sie letztlich die Gegnerschaft zur Arbeiterklasse und die gemeinsamen Interessen gegenüber anderen nationalen Bourgeoisien.

Der Parasitismus des Imperialismus, wie in Lenin in seiner "Imperialismus-Broschüre” (95) analysierte, und der sich auf der Grundlage einer durch imperialistische Weltmarktstellung ergebenden Ausdehnung der Revenue des Großkapitals ergibt, äußert sich aber auch in einer Ausdehnung der Staatsfunktionen und der davon lebenden Schichten und Kasten, z.B. Militärapparate, Rüstungsindustrie, Institutionen der kolonialen oder halbkolonialen Politik. Auch in den Betrieben selbst muß es Auswirkungen haben, da die Verwaltung weltweit agierender Konzerne weiterhin in den imperialistischen Metropolen konzentriert bleibt, während minder wichtige Teile der Produktion in größerem Maßstab in (halb-)koloniale Länder ausgelagert werden können.

Die imperialistische Weltmarktstruktur ist daher ein weiterer Grund für das relative Wachstum von Verwaltungs- und Vertriebstätigkeiten gegenüber unmittelbarer industrieller Produktion. Weiters bedingt der Versuch der Verstetigung des technischen Fortschritts zur Minimierung von Risiken von Monopolkapitalien die Industrialisierung von Forschung und Entwicklung, die ebenfalls in den imperialistischen Metropolen konzentriert bleibt. Schon Lenin zitierte spöttisch einen deutschen Professor, der besorgt meinte, daß Europa "die Arbeit überhaupt - zunächst die landwirtschaftliche und montane, sodann auch die gröbere industrielle Arbeit - auf die farbige Menschheit abschiebt und sich selbst auf die Rentnerrolle zurückzieht...". (96)

Doch auch die Arbeiterklasse ist von der Wirkung des Imperialismus betroffen: "Der Imperialismus hat die Tendenz, auch unter den Arbeitern privilegierte Kategorien auszusondern und sie von der großen Masse des Proletariats abzuspalten" (97). Die Faktoren, die Lenin hierbei anführt, sind: die mit den imperialistischen Extraprofiten möglich gewordene "Bestechung einer Oberschicht des Proletariats" und die Immigration von Arbeitern aus rückständigeren Ländern, die eine besonders unterdrückte Unterschicht der Arbeiterklasse bilden, die oft von den einheimischen "Arbeiteraristokraten" überwacht und angeleitet werden.

D.h. der Imperialismus ermöglicht es, in den Metropolen eine Schicht von Arbeitern zu schaffen, die lange Zeit über der Mehrwertrate bezahlt werden, gegenüber einer Unterschicht v.a. von Arbeitsimmigranten die systematisch unterhalb der Mehrwertrate bezahlt werden. Die Tätigkeit der Arbeiteraristokraten ist meist mit höherer Qualifikation und einem gewissen Umfang an Aufsichts- und Anleitungsfunktionen verbunden, was in Deutschland zumeist mit dem Begriff "Facharbeiter" verbunden ist. Aber auch in die Arbeiterklasse abgesunkene Techniker und Ingenieure gehören hier wohl ebenso dazu, wie andere ehemals ständisch privilegierte Lohnabhängigenschichten, z.B. im Finanzsektor. Zumindest die traditionelle Arbeiteraristokratie, deren Kern in vielen imperialistischen Ländern die Facharbeiterschaft ist, bildet auch die soziale Grundlage für die meisten reformistischen Organisationen der Arbeiterbewegung und ist eine der Hauptquellen der Verbürgerlichung derselben in den imperialistischen Metropolen.

Arbeiterbürokratie

Mit der Entwicklung des Klassenkampfes und der darauf basierenden Arbeiterbewegung wird auch der Staat zu einem Kampffeld der funktionalen Hauptklassen der kapitalistischen Produktionsweise. Es ist daher klar, daß - obwohl der bürgerliche Staat natürlich vor allem ein Instrument der Klassenherrschaft der Bourgeoisie ist - sich auch Interessen der Arbeiterklasse in ihm vergegenständlichen können. Das widersprüchliche Verhältnis der Arbeiterbewegung zum bürgerlichen Staat wird z.B. bei Arbeitsgesetzen deutlich, um deren Durchsetzung Marxisten durchaus kämpfen. So bemerkte Marx zum gesetzlichen Verbot von Kinderarbeit:

"Er [der Arbeiter] weiß, daß vor allem die Kinder und jugendlichen Arbeiter vor den verderblichen Folgen des gegenwärtigen Systems bewahrt werden müssen. Das kann nur erreicht werden durch die Verwandlung gesellschaftlicher Einsicht in gesellschaftliche Gewalt, und unter den gegebenen Umständen kann das nur durch allgemeine Gesetze geschehen, durchgesetzt durch die Staatsgewalt. Bei der Durchsetzung solcher Gesetze stärkt die Arbeiterklasse keineswegs die Macht der Regierung. Im Gegenteil, sie verwandelt jene Macht, die jetzt gegen sie gebraucht wird, in ihren eigenen Diener. Sie erreicht durch einen allgemeinen Gesetzesakt, was sie durch eine Vielzahl isolierter individueller Anstrengungen vergeblich erstreben würde". (98)

Der widersprüchliche Charakter des Lohnkampfes

Mit dieser Notwendigkeit, dem bürgerlichen Staat Zugeständnisse abzuringen, ihn zu gewissen Teilen auch in den Dienst der Arbeiterklasse zu stellen, wächst auch der Boden für bürgerliche Politik im Rahmen der Arbeiterbewegung, sobald sich das taktische Verhältnis zum bürgerlichen Staat in ein strategisches wandelt. Dies wird noch verstärkt durch rein-gewerkschaftliche Tendenzen in der Arbeiterklasse, die die Auseinandersetzung mit dem Kapital in den Grenzen des Lohnarbeitssystems und der Warenlogik selbst austragen. Beides ist Quelle einer eigenen Art von Bürokratenkaste, die als verbürgerlichte Schicht in das kapitalistische System integriert ist, andererseits ihre Position jedoch als "Vertreter" der Arbeiterklasse in der Antinomie Lohnarbeit/Kapital gewinnt.

Erfolgreich geführte Kämpfe führen zu einer Verbesserung der Lage von Teilen der Arbeiterklasse und zur Entstehung einer Arbeiteraristokratie, die, grob gesprochen, eine Voraussetzung für die Entstehung einer Arbeiterbürokratie ist. Diese Position der Bürokratie verstärkt sich noch durch die mit dem Imperialismus verstärkt auftretende Integration von Organen der Arbeiterbewegung in den bürgerlichen Staat selbst. D.h. der Imperialismus kann sich nicht bloß eine besser bezahlte Oberschicht von Arbeitern leisten, sondern auch eine ausgeprägtere "Sozialpolitik", die ein wichtiges Instrument zur Abmilderung von Klassengegensätzen ist.

Die oben angedeutete Dienstbarmachung des Staates für Arbeiterinteressen wird ausgedehnt durch Institutionen wie Sozialversicherungen, kommunale Masseneinrichtungen, ein umfangreicheres System der Massenbildung, soziale Wohnbaueinrichtungen etc. Alle diese Institutionen bieten einer großen Zahl von Arbeiterbürokraten (aus Gewerkschaften und reformistischen Parteien) die Möglichkeit des Aufstiegs in staatliche oder halbstaatliche Verwaltungsposten und hauptamtliche politische Tätigkeiten (z.B. als Kommunalpolitiker).

Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg, mit der Aufschwungphase des "fordistischen" Akkumulationsmodells, das auch auf einer Revolutionierung der Kosten des Massenkonsums beruhte, setzte eine neue Welle der Verbürgerlichung der Arbeiterklasse in den imperialistischen Metropolen ein. In noch nicht gekannter Weise wurde sowohl der "Wohlfahrtsstaat" ausgebaut, die Austragungsformen von Klassenkonflikten reguliert und die Arbeiterbürokratie noch weiter in den bürgerlichen Staat integriert. Trotzdem bleibt die Arbeiterbürokratie ein widersprüchlicher Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft: Einerseits ist sie in wachsendem Ausmaß abhängig vom bürgerlichen Staat und milieumäßig immer mehr verknüpft mit allen anderen Elementen von Ober- und Mittelschicht dieser Gesellschaft.

Andererseits bezieht sie ihre Stellung aus ihrem Verhältnis zur Arbeiterklasse und kann diese nur behalten, solange einerseits der Druck der Arbeiterklasse die Bourgeoisie überzeugt, daß diese parasitäre Schicht weiter nötig ist, und andererseits die Arbeiterklasse noch irgendein Vertrauen darin setzt, durch diese Schichten vertreten zu werden, oder zumindest keine Alternativen dazu sieht. Jedenfalls muß die Arbeiterbürokratie als eigene gesellschaftliche Kaste betrachtet werden, auch "getrennt" von der sonstigen Bürokratie, da sie sich auf eine andere Einkunftsquelle - nämlich die freiwilligen Beiträge der Arbeiter - stützt.

Wesentlich für ihren Zusammenhang als Kaste sind reformistische Parteien und die Gewerkschaftsbürokratie, die heute zum wesentlichen Transmissionsriemen des Zusammenhangs zur Arbeiterklasse geworden sind (während kulturelle und sonstige Arbeitervereine immer mehr an Bedeutung verlieren). Dabei sind die Übergänge zur Arbeiterklasse, besonders der Arbeiteraristokratie, fließend: Einfache Gewerkschaftsfunktionäre oder -angestellte oder nicht freigestellte Betriebsräte, die noch nicht systematisch durch ihre Tätigkeit und Lebensweise korrumpiert und in das Klassenverratssystem integriert sind, können an sich noch nicht der mittelschichtigen Arbeiterbürokratie zugerechnet werden. Erst der Aufstieg in der bürokratischen Kaste dieser Organisationen läßt sie mit ihrer ursprünglichen Klassenherkunft im Proletariat brechen, sofern sie überhaupt aus dieser Klasse hervorgingen.

Zusammengefaßt stellt sich die Klassenstruktur in den imperialistischen Ländern heute wie im Schaubild auf Seite 33 dar.

Ausgehend von Deutschland (z.B. den Untersuchungen von Wrigth, bzw. "Projekt Klassenanalyse") kann für die Klassenaufteilung daher grob folgendes gesagt werden: Die Nicht-Produktionsmittelbesitzer machen heute zumeist über 90% der Bevölkerung aus. Davon sind etwa 2/3 zur Arbeiterklasse zu rechnen und 1/3 zu den Mittelschichten. Dabei ist etwa ein Viertel der Arbeiterklasse zur Arbeiteraristokratie zu rechnen. Die an sich herrschende Großbourgeoisie selbst macht weniger als 1% der Gesellschaft aus.

Die Dynamik der Klassenstruktur in imperialistischen Ländern heute

Die marxistische Klassenanalyse gibt nicht nur eine statische Beschreibung einer auf Jahrzehnte hin angeblich festliegenden sozialen Strukturierung. Sie gibt vor allem ein dynamisches Bild einer sich verändernden gesellschaftlichen Struktur. Diese Dynamik vor allem wird durch den Charakter der dialektischen Grundwidersprüche erfaßt, läuft sie doch letztlich auf die Aufhebung der ganzen kapitalistischen Klassenstruktur selbst hin. Als Motor der Veränderungen wird die Wechselwirkung von Kapitalakkumulation und Klassenkampf gesehen, auf allen gesellschaftlichen Ebenen, von der Ökonomie bis zu Politik und Kultur.

Es sind Ursachen wie Überakkumulation, verstärkte Konzentration- und Zentralisation des Kapitals, Regulierungen des Klassenkonflikts, allgemeine Versuche ein neues Akkumulationsregime zu begründen etc., die in den letzten Jahrzehnten ziemliche Bewegung in die sozialen Strukturen gebracht haben. Einerseits ist die industrielle Fabrikarbeiterschaft in ihrer Zahl geschrumpft, auch wenn sie - gemessen an ihrem ökonomischen Gewicht - durch enorme Produktivitätssteigerungen weiterhin die zentrale Kernschicht der Arbeiterklasse geblieben ist. Andererseits ist die Anzahl der Beschäftigten in kommerzieller Lohnarbeit und anderen Dienstleistungsbereichen nicht nur gestiegen, auch ihre Organisierung und Beteiligung an Klassenkämpfen hat wesentlich zugenommen. Weiters hat ein Deklassierungsprozeß bei breiten Teilen der Mittelschichten eingesetzt, der auch solche Berufsgruppen wie Techniker und Lehrer in zunehmendem Ausmaß in Arbeiterklassenpositionen bringt, was sich ebenfalls - wenn auch geringer - in Organisierung und Klassenkämpfen ausdrückt. Schließlich hat die Auflösung der "fordischen Produktionsapparate" eine breitere Schicht an schlecht bezahlten Arbeitern hervorgebracht, die aus den regulierten Arbeitsbedingungen herausfallen, in enger Wechselbeziehung mit dem enorm gewachsenen Heer der Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger stehen, und dem pauperisierten Proletariat des 19. Jahrhunderts immer ähnlicher werden.

Diese Veränderungen in der Klassenstruktur des Proletariats haben sich in den Strukturen der traditionellen Arbeiterbewegung (Gewerkschaften, Parteien) wenig niedergeschlagen. Ihre einzige Antwort, sich noch mehr an die Mittelschichten anzupassen, geht an den eigentlichen Veränderungen meilenweit vorbei. Ihr eigentliches Problem ist, daß sie die Privilegien ihrer Arbeiterbürokratie und die undemokratische Struktur ihrer Organisationen gegenüber den neu zu Klassenauseinandersetzungen stoßenden Schichten nicht so einfach rechtfertigen können, wie dies bei der traditionellen Arbeiterschaft ist, aus der das historisch gewachsen ist. Gerade auch deswegen bedeuten diese Veränderungen der Klassenstruktur auch eine Chance für Oppositionsbewegungen, die sich sowohl für konsequente Klassenkampfführung als auch für Demokratisierung der Strukturen und Abschaffung von privilegierten Bürokratien einsetzen. Andererseits können sich die pauperisierten Arbeiterschichten immer weniger durch die stark an den Mittelschichten und besser gestellten Arbeiter orientierte Politik der traditionellen reformistischen Parteien vertreten fühlen. Auch dies bedroht diese mit Spaltungen, öffnet neue Möglichkeiten der Parteibildung. Einerseits sind es linksreformistische, z.B. post-stalinistische Gruppierungen, die heute davon zu profitieren hoffen, andererseits sind es neue Strömungen, die aus Deklassierungsprozessen der Mittelschichten erstarkt sind (z.B. "neue Rechte", Grüne). Aber genauso weckt diese Lockerung der bisher engen Bindung an die Organisationen der traditionellen Arbeiterbewegung das Interesse an revolutionären Antworten auf diese neue Situation.

Die politische Bedeutung der Mittelschichten

Auch wenn die Mittelschichten nur in geringem Ausmaß funktional für die kapitalistische Produktionsweise sind, so sind sie doch wesentlich für die konkrete Form der bürgerlichen Klassenherrschaft. Aufgrund ihres Ursprungs in historisch relativen Zugeständnissen der Kapitalistenklasse gegenüber staatstragenden Kasten oder überkommenen Berufsständen, ihrer Abhängigkeit im wesentlichen von Kapitalrevenue, ist ihre Klassenposition schwankend, unsicher und durch Hin- und Herpendeln zwischen den Hauptklassen geprägt.

Daher ist es auch klar, daß sie nur schwer abstrakt-allgemein charakterisierbar sind, und daß es in verschiedenen konkreten kapitalistischen Gesellschaftsformatio-nen (sowohl regional als auch periodenmäßig gemeint) sehr unterschiedliche Ausprägungen geben kann, die auch jeweils der konkreten Analyse bedürfen. Andererseits sind diese konkreten Ausprägungen jeweils auch sehr wichtig, um die tatsächliche Form zu verstehen, in der jeweils die Bourgeoisie ihre Herrschaft in den Betrieben, im Staat und ideologisch befestigt.

Dabei entspricht es dem Charakter der Mittelschichten, daß ihre ideologischen und politischen Ausdrücke jeweils verschiedene Formen sind, den grundlegenden Klassengegensatz der Gesellschaft zu leugnen, ihn hinter angeblich zentralen Menschheits- oder Nationsfragen in den Hintergrund zu drängen, um damit ihre soziale Existenz in der einen oder anderen Form zu verhimmeln und vor der Zuspitzung des Klassenwiderspruchs zu bewahren. Allgemein sind verschiedene Formen von Kleineigentum, Delegierung von Kapitalfunktionen an Lohnabhängige, staatliche Kasten (Verwaltungsbeamte, Polizei, Armeekader, etc.) und privilegierte Berufsstände (Ärzte, Rechtsanwälte, Architekten, etc.) in fast allen Kapitalformatio-nen die zentralen Elemente, um die sich Mittelschichten bilden.

Ihre Abhängigkeit von Kapitalrevenue oder vom Kapital zugestandenen Privilegien macht sie meist in hohem Ausmaß von der Bourgeoisie abhängig und vor allem gegen jeden radikalen proletarischen Klassenkampf in natürlicher Weise feindlich. Allerdings liegt es im Wesen der Kapitalakkumulation, daß solche "Nebenkosten der Produktion" für das Kapital mit der Zeit lästig werden, und Gruppe für Gruppe schweren Attacken zum Abbau dieser Privilegien ausgesetzt sein kann. So werden durch neoliberale Umstrukturierungen des Staatssektors in den letzten Jahren, besonders durch Privatisierungen, auch eine ganze Reihe von Mittelschichten mit sozialem Abstieg bedroht. Außerdem kann der Fortgang des Industrialisierungsprozesses der Arbeitsbeziehungen und die Durchdringung des Kapitalverhältnisses von bisher wenig davon betroffenen Bereichen bisher den Mittelschichten zugeordnete Berufe proletarisieren. Dies trifft in den letzten Jahrzehnten insbesondere auf Techniker und Lehrer zu.

Zwiespältiger Charakter der Mittelschichten

Schon Marx und Engels sprachen im "Kommunistischen Manifest" den Doppelcharakter der Reaktion von Mittelschichten auf diese Bedrohung durch sozialen Abstieg an: "... sie alle bekämpfen die Bourgeoisie, um ihre Existenz vor dem Untergang zu sichern. Sie sind also nicht revolutionär, sondern konservativ. Noch mehr, sie sind reaktionär, sie suchen das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Sind sie revolutionär, so sind sie es nur im Hinblick auf den ihnen bevorstehenden Übergang ins Proletariat, so verteidigen sie nicht ihre gegenwärtigen, sondern ihre zukünftigen Interessen, so verlassen sie ihren eigenen Standpunkt, um sich auf den des Proletariats zu stellen". (99)

Eine der reaktionären Erscheinungsformen, mit denen die Deklassierung von Mittelschichten und Kleinbürgertum in diesem Jahrhundert verbunden war und ist, ist die von faschistischen Bewegungen oder reaktionären Nationalisten, Anti-Demokraten und Rassisten aller Art. Besonders Trotzki hat in diesem Zusammenhang eine tiefgehende Analyse der politischen Bedeutung von Mittelschichten geleistet.

Faschismus

"Vorwiegend auf das Beispiel der 'industriellen Revolution' in England gestützt, stellten sich die Verfasser des 'Manifests' den Liquidierungsprozeß der Mittelklassen allzu geradlinig als eine restlose Proletarisierung von Handwerk, Kleinhandel und Bauernschaft vor. In Wirklichkeit haben die Elementarkräfte der Konkurrenz diese ihre zugleich fortschrittliche und barbarische Arbeit bei weitem nicht beendet. Das Kapital hat das Kleinbürgertum viel schneller ruiniert als proletarisiert. Außerdem richtet sich die Politik des bürgerlichen Staates schon längst bewußt darauf, die kleinbürgerlichen Schichten künstlich zu erhalten. Das Wachstum der Technik und die Rationalisierung der Großproduktion erzeugen eine chronische Arbeitslosigkeit und verhindern so ebenfalls die Proletarisierung des Kleinbürgertums. Gleichzeitig damit bewirkt die Entfaltung des Kapitalismus eine außerordentliche Zunahme des Heers der Techniker, Verwalter, Handelsangestellten, mit einem Wort, des sog. 'neuen Mittelstands'. Infolgedessen bilden die Mittelklassen, deren Verschwinden das 'Manifest' so kategorisch behauptet, selbst in einem so hoch industrialisierten Lande wie Deutschland rund die Hälfte der Bevölkerung. Doch die künstliche Erhaltung der längst überlebten kleinbürgerlichen Schichten lindert keineswegs die sozialen Gegensätze, sondern gibt diesen umgekehrt einen besonders bösartigen Charakter. Zusammen mit dem permanenten Arbeitslosenheer ist das die bösartigste Fäulniserscheinung des Kapitalismus". (100)

Die Wiedererstarkung der faschistischen Erscheinungen ist nicht einfach ein Indiz dafür, daß die Bourgeoisie wiederum zu anderen Formen ihrer Herrschaftssicherung greifen könnte. Sie ist momentan vor allem ein Zeichen für die Krise des Herrschaftssystems, durch das die Großbourgeoisie mit Kompromissen mit der Arbeiterbürokratie seit Ende der revolutionären Phase nach 1945 eine relativ stabile Regulierung des Klassenwiderspruchs erzielen konnte.

Schließlich muß bemerkt werden, daß die reformistischen Parteien in den imperialistischen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkt unter den Einfluß von Mittelklassen geraten sind. Inzwischen werden selbst die traditionellen Arbeiteraristokraten in vielen Ländern in der aktiven Parteimitgliedschaft von Mittelschichten überholt (Beamte aller Art, Kommunalpolitiker, Verbandsfunktionä-re, Lehrer, Rechtsanwälte etc.). Der wachsende Einfluß von Mittelschichten in den Parteien und die Verbürgerlichung breiter Arbeiterschichten führten oft bereits zu einer wesentlichen ideologischen Abkehr vom "klassischen Reformismus" hin zur Ideologie von der "neuen Mitte".

Die organische Beziehung zur Klasse an sich ergibt sich mehr und mehr nur noch durch den Einfluß der Gewerkschaften in diesen Parteien, der ihr noch gewisse politische Schranken auferlegt. In den Zeiten der Krise, in der diese Parteien oft selbst wesentliche Angriffe auf die Arbeiterklasse zu führen haben, kann es zu einem endgültigen Einsturz dieser Schranken kommen. Es gibt bereits in kleinerem (z.B. kommunalem) Maßstab nicht wenige Beispiele für die Abspaltung kleinerer, liberal-demokratischer Mittelschichtsparteien aus reformistischen Parteien. Dies könnte in größerem Maßstab das Schicksal auch ganzer Parteien werden, vor allem da auf der anderen Seite die pauperisierten Arbeiterschichten mit dieser Politik immer weniger vertreten werden können und sich daher dort die Tendenz zu "neuen" Linksparteien eröffnet.

Neue Mitte - eine Mittelschichtsideologie

Diese "neuen" Mittelschichten haben sich zum Teil im Rahmen der Arbeiterbewegung organisiert und artikuliert, zum Teil außerhalb, z.B. in den Grünen. Für sie erscheint die soziale Frage oft tatsächlich als gelöst. Die Demontage des Sozialstaates trifft sie nur zum Teil, da sie - das Weiterbestehen ihrer Existenzmöglichkeit vorausgesetzt - diese Leistungen auch oder gar kostengünstiger über private Versicherungen bekommen können.

Während neoliberale Ideologen wie von Hayek den Standpunkt bestimmter Fraktionen des Großkapitals unverhüllt zum Ausdruck bringen, so fühlen sich die Mittelschichten von der "sozialen Kälte" des Neoliberalismus selbst bedroht. Die neuen Mittelschichten befürworten durchaus die "Verschlankung" des Sozialstaates, die Privatisierung staatlicher und halbstaatlicher Dienstleistungen und Deregulierung. So sehr sie die verstärkte Durchdringung aller gesellschaftlichen Bereiche durch die Profitmacherei befürworten, die Dynamik der kapitalistische Marktwirtschaft loben, so wenig wollen sie die den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährdenden Auswirkungen des Kapitalismus wahr haben. Daher auch das Klagen über den "Zerfall der Gesellschaft", die "zunehmende Kriminalität", die "Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen".

Mit der Arbeiteraristokratie und -bürokratie teilen diese Gesellschaftsschichten ein Interesse am Erhalt eines gewissen "sozialen Ausgleichs". Für sie sind die "alten" Formen des Kampfes, wie Streiks, Besetzungen, Massendemos (aber auch Aussperrung und Polizeieinsatz) bedrohliche Zeugnisse ihrer gesellschaftlichen Schwäche, ihrer Abhängigkeit von einer der beiden Hauptklassen der Gesellschaft, auf deren Seite sie sich schließlich schlagen müssen.

Wie allen anderen bürgerlichen Ideologien vor ihr gelingt es natürlich auch der "Neuen Mitte" nicht, den Klassenkampf abzuschaffen - wohl aber versuchen ihre Ideologen, dieses Scheitern durch rosiges Ausmalen der Gesellschaft zu versüßen.

Wo sich die "Neue Mitte" oder der "Dritte Weg" in den Arbeiterorganisationen zu Wort melden, drücken diese Ideologien den Einfluß nichtproletarischer Mittelschichten aus. Im Partei- aber auch im Gewerkschaftsapparat finden diese eine recht breite Anhängerschaft (nicht zuletzt, da die Bürokratie selbst eine sich über das Proletariat erhebende Kaste darstellt, die den Lebensbedingungen der Arbeiter und Arbeiterinnen weit entrückt ist).

Das Dilemma besteht allerdings darin, daß die lohnabhängigen Mittelschichten selbst eine dünne, heterogene und vielfach von der Proletarisierung bedrohte Schicht darstellen.

Die Grünen

Ein interessantes Beispiel mit derselben Ursache aber einer anderen Wirkung stellen hier die grünen Parteien in Mittel- und Nordeuropa dar. Das ideologische Kernelement der Grünen ist sicherlich zutiefst konservativ-utopisch, indem sie der sie bedrohenden Kapitalakkumulation die "Wachstumsbremse" und einen alle beschützenden ökologisch-sozialen-demokratischen Superstaat entgegenstellen, der mit der Methode des Parlamentarismus erreichbar sein soll. Ihr politisches Konzept ist es, eine Reihe "klassenübergreifender" Menschheitsbedrohungen (Umweltzerstörung, allgemeine Kriegsgefahr etc.) zum Ausgangspunkt einer "allgemein-menschlich vernünftigen" Reform zu machen, die kapitalistische Marktwirtschaft und Mittelstandsidyll wieder harmonisch vereint.

Dieses Beispiel zeigt, daß die Mittelschichten in bestimmten Situationen durchaus zur Bildung eigener politischer Gruppierungen und Parteien in der Lage sind. Dies insbesondere in Krisen, die auch Mittelschichten mit sozialem Abstieg bedrohen. Solche Bildungen sind dann ein Zeichen der politischen Legitimationskrise der bürgerlichen Herrschaft, da die Dominanz über die Mittelschichten ein wesentliches Moment der bürgerlichen Herrschaftssicherung selbst ist. Es ist daher durchaus wichtig, Taktiken gegenüber solchen Phänomenen zu entwickeln in ähnlicher Weise, wie es notwendig ist, Widersprüche und Risse im Staatsapparat und im Militär auszunützen bzw. zu erweitern.

Taktik gegenüber Mittelschichten

Wo sich diese Schichten in der Arbeiterbewegung artikulieren, diese weiter nach rechts und bürgerliche Arbeiterparteien womöglich zum Bruch mit der organischen Bindung an das Proletariat treiben wollen, müssen sie politisch bekämpft werden und Revolutionäre sind zu diesem Zweck auch zur Bildung von Einheitsfronten mit reformistischen Arbeitern und Führern bereit.

Darüber hinaus kann es auch zulässig sein, zeitlich begrenzte Aktionseinheiten um progressive Ziele mit den Mittelschichten einschließlich ihrer politischen Vertreter zu schließen: z.B. gegen rassistische Gesetze, gegen bestimmte ökologisch unsinnige Projekte. In diesen Aktionseinheiten muß allerdings der klassenmäßig beschränkte und daher letztlich perspektivlose Ansatz dieser Gruppierungen, wie auch ihre ungenügenden Kampfmethoden aufgezeigt werden, um Illusionen von Arbeitern in diese Gruppierungen, die durchaus bestehen mögen, zu brechen. Andererseits können durch Erfolge in solchen Aktionen die Spaltungen in den Mittelschichten selbst weiter befördert und die Probleme bürgerlicher Herrschaftssicherung vergrößert werden. Allerdings sind langfristige Bündnisse mit solchen Gruppierungen unmöglich und schädlich, da sie nur selbst Illusionen in sie befördern können und den Klassencharakter der Fragen, um die es geht, verwischen würden. Insbesondere lehnen wir Regierungsbündnisse mit ihnen ab, auch in Form der kritischen Wahlunterstützung z.B. für rot-grüne Koalitionen.

Die Veränderung der Zusammensetzung der Arbeiterklasse, darunter die Proletarisierung von Teilen der Mittelschichten, hat auch zu Veränderungen der gewerkschaftlichen und betrieblichen Interessensorganisationen des Proletariats geführt. Die vom sozialdemokratischen oder stalinistischen Reformismus dominierten Gewerkschaften blieben in der Regel Organisationen der industriellen Kernschichten des Proletariats.

Gewerkschaften und Mittelschichten

Die Gewinnung von sich proletarisierenden Mittelschichten gelang teilweise erfolgreich in den 1970er Jahren - besonders im öffentlichen Dienst - und war oft von sozialstaatlichen Maßnahmen und bewußten Anstrengungen zur Gewinnung dieser Schichten begleitet (teilweise mit speziellen Rekrutierungsmaßnahmen zur Gewinnung sozial Unterdrückter, v.a. von Frauen).

Zugleich zeigten sich die Gewerkschaften kaum in der Lage, neu entstehende Arbeiterschichten - darunter hochqualifizierte produktive Arbeiter in bestimmten Industrien - zu gewinnen. Ebenso fallen die unteren, schlecht organisierten und von prekären Arbeitsverhältnissen getroffenen Schichten des Proletariats zunehmend aus den gewerkschaftlichen Organisationen. Eine wesentliche Aufgabe revolutionärer Intervention in den Gewerkschaften besteht deshalb darin, die gewerkschaftliche Organisierung dieser Schichten wie der Arbeitslosen zu ermöglichen bzw. zu erhöhen.

Diese Entwicklung findet in den meisten imperialistischen Ländern auf der Basis eines historisch außergewöhnlich hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrades, wie er in den ersten Jahrzehnten nach 1945 erreicht wurde, statt. Auch wenn die politischen Strömungen, die sich auf die Sonderinteressen der Arbeiteraristokratie stützten, in dieser Periode die Gewerkschaften politisch und organisatorisch dominierten, so wurden massenhaft breite Schichten der Lohnabhängigen in die gewerkschaftlichen und betrieblichen Strukturen hineingezogen. Der Niedergang der gewerkschaftlichen Organisierung geht zu wesentlichen Teilen mit einem tendenziellen Rückzug auf die traditionelle Arbeiteraristokratie in der Industrie einher. Seine Ursache ist jedoch primär in der klassenkollaborationistischen Politik der Gewerkschaftsführungen zu suchen, nicht in einer geschichtlichen Unvermeidlichkeit.

Ohnedies darf aus dem Schwund vieler Gewerkschaften nicht vorschnell auf ein "Ende der Bedeutung der Gewerkschaften" geschlossen werden. Erstens ist dieser Prozeß keineswegs irreversibel. Allein schon erfolgreiche gewerkschaftliche Abwehrkämpfe können zu einer zumindest zeitweiligen Umkehr des Prozesses führen. Zweitens ist ein rein quantitativer Rückgang der Gewerkschaften nicht identisch mit dem Verlust ihres Einflusses in der Arbeiterklasse. Drittens sind die Arbeiter in den "prekären" Arbeitsverhältnissen, sozial Unterdrückte usw. nicht prinzipiell unorganisierbar. Die Erfolge mancher new-directions-Gewerkschaften in den USA im Dienstleistungssektor wie der Streik bei UPS zeigen das. Viertens sind auch die lohnabhängigen Mittelschichten bzw. neu proletarisierte, hochqualifizierte und relativ privilegierte Teile der Arbeiterklasse in der Privatwirtschaft in kämpferischen Gewerkschaften organisierbar.

Gerade die zunehmende Proletarisierung ihrer Lebenslage macht sie offener für die Notwendigkeit kollektiver ökonomischer Verteidigungsorganisationen der Lohnabhängigen. So erreichten die Angestellten von Digital Equipment in Deutschland einen gewerkschaftlichen Organisationsgrad von 90%, da der Betriebsrat und die IG Metall in einem längeren Konflikt und mit mehreren Streiks die Übernahme des Tarifvertrages für die Metall- und Elektroindustrie erzwang.

Revolutionäre Kommunisten und Kommunistinnen treten daher aktiv für die Organisierung möglichst aller Lohnabhängiger einschließlich großer Teile der lohnabhängigen Mittelschichten in den Gewerkschaften (aber auch anderen Massenorganisationen der Arbeiterbewegung) ein. D.h. wir argumentieren beispielsweise für die Organisierung auch relativ privilegierter beamteter Lehrerschichten oder von Beamten im einfachen Staatsdienst (Finanzverwaltung) in den Gewerkschaften. Die Rekrutierung solcher Mittelschichten (besonders natürlich jener, die sich gerade am Übergang in die Reihen des Proletariats befinden) ist nicht nur ein wichtiger Teil zur zahlenmäßigen Stärkung der Arbeiterbewegung, sondern erleichtert den Mittelschichten auch den Übergang zur Arbeiterbewegung und hilft, den politisch-ideologischen Einfluß der Bourgeoisie auf diese Schichten zurückzudrängen.

Darüber hinaus kann die Gewinnung dieser Schichten auch die Überwindung des Konservativismus großer Teiler der Kernschichten der Arbeiterklasse begünstigen, wo sie sich auf eine kämpferische Bewegung gegen Staat und/oder Unternehmer stützt. Gleichzeitig muß jeder Sonderstellung oder Privilegierung dieser Schichten in den Gewerkschaften - ähnlich wie der Vormachtstellung der Arbeiteraristokratie - politisch und, wo notwendig, auch mit besonderen organisatorischen Maßnahmen entgegengetreten werden.

Die Abschaffung spezieller rechtlicher Privilegierung und materieller Bindungen mancher Teil der Mittelschichten an den bürgerlichen Staat (z.B. Beamtenstatus) ist keine Vorbedingung für deren gewerkschaftliche Organisierung dieser Schichten. Wir treten jedoch von Beginn an für die Abschaffung aller rechtlichen und materiellen Bindungen an den Staat und sonstige Sonderrechte ein.

Das ist ein Element, um diese Berufsgruppen aus der Bindung an den bürgerlichen Staat zu reißen und ihren kastenhaften Charakter zu durchbrechen. Revolutionäre können daher niemals den Beamtenstatus verteidigen, sondern nur Kämpfe, die sich in der bornierten Form der Forderung nach Beibehaltung des Beamtenstatus z.B. gegen Entlassungen usw. richten. In Zeiten von Angriffen und Kürzungen verteidigen wir verbleibende materielle Errungenschaften wie Kündigungsschutz oder Versicherungen und fordern deren Ausweitung auf alle Beschäftigten, wobei wir gegenüber den Beamten betonen, daß nur die Solidarität mit der gesamten Arbeiterklasse sie vor dem Kern der Angriffe beschützen kann. Auch dann muß jedoch immer in der Agitation und Propaganda unsere Forderung der Abschaffung des Beamtenstatus deutlich gemacht werden.

Es gibt außerdem einige wichtige Ausnahmen, wo wir gegen die Organisierung bestimmter Mittelschichten in den landesweiten gewerkschaftlichen Verbänden sind bzw., wo das der Fall ist, für den Ausschluß dieser Berufsgruppen aus den Gewerkschaftsdachverbänden eintreten (z.B. der Gewerkschaft der Polizei/GdP in der BRD). Das betrifft die Angehörigen der Repressivorgane des Staates (Polizei, Berufssoldaten, Justiz, Nachrichten- und Geheimdienste) und privater Ordnungsdienste (Werkschutz, Sicherheitsdienste).

Wir unterstützen zwar demokratische und soziale Forderungen dieser Berufsgruppen (z.B. das Recht auf politische Betätigung oder sich zu organisieren), wo sie sie in einen fortschrittlichen Konflikt mit dem bürgerlichen Staat oder den Unternehmern bringen. Ein Betritt (oder Verbleib) dieser Berufsgruppen in die nationalen oder regionalen Gewerkschaften oder anderen proletarischen Massenorganisationen kann von uns jedoch nur unter der Voraussetzung akzeptiert werden, daß sie mit dem Kommando des bürgerlichen Staates oder ihres Bosses gebrochen haben.

Nicht zuletzt sind wir auch gegen die gewerkschaftliche Organisierung der obersten Teile der Mittelschichten, die schon in die Bourgeoisie hineinreichen bzw. sehr eng mit dieser verbunden sind, z.B. führende Manager, leitende Angestelle, aber auch Spitzenbeamte im Staatsdienst (Abteilungsleiter in Ministerien z.B.). Diese Mittelschichtsangehörigen können überhaupt nur durch den individuellen politischen Bruch mit der bürgerlichen Ordnung, analog zum Klassenverrat von Angehörigen der Kapitalistenklasse selbst, den Weg in die Arbeiterbewegung finden.

Fußnoten und Anmerkungen

(74) K. Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW Bd. 26.2, S.576

(75) ebd., S.563

(76) ebd., S.564

(77) ebd., S.564

(78) K. Marx, Das Kapital, Band 2, MEW Bd. 24, S.359

(79) K. Marx, Das Kapital, Band 3, MEW Bd. 25, S.890

(80) K. Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW Bd. 26.2, S.148

(81) ebd., S.39

(82) ebd., S.273

(83) ebd., MEW Bd. 26.1, S.274

(84) F. Engels, "Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates", MEW Bd. 21, S.166

(85) K. Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW Bd. 17, S.336

(86) M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S.128

(87) ebd.

(88) L. Trotzki, Die verratene Revolution, in: Schriften 1.2, Hamburg 1988, S.952f.

(89) MEW Bd. 42, S.550f.

(90) R. Rosdolski, Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen 'Kapitals', Bd. 1, FfM 1974, S.62

(91) MEW Bd. 42, S.551

(92) MEW Bd. 23, S.532

(93) MEW Bd. 3, S.46

(94) Ebenda

(95) W.I. Lenin, "Der Imperialismus. Das letzte Stadium des Kapitalismus", LW Bd. 22, S.280f.

(96) ebd., S.286

(97) ebd., S.288

(98) K. Marx, Beiträge zur Internationalen Arbeiterassoziation, MEW Bd.16, S.194f.

(99) K. Marx / F. Engels, Manifest der kommunistischen Partei, MEW Bd. 4, S.472.

(100) L.Trotzki, Neunzig Jahre "Kommunistisches Manifest", in: Denkzettel, Ffm. 1981, S.335.

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