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Metall Tarifrunde 2004

Vergebene Chancen

Martin Mittner, Neue Internationale 88, März 2004

Die Ergebnisse des Abschlusses in Baden-Württemberg sind bekannt: Tarifvertrag mit 26monatiger Laufzeit, Lohnsteigerung von 2,2 Prozent ab März 2004 und nochmalige Erhöhung um 2,7 Prozent ab März 2005. Dazu erlaubt und ermutigt der Tarifvertrag weitere Öffnungen in Richtung 40-Stunden-Woche.

Die IG Metall-Führung verkauft dieses Ergebnis als Erfolg. Die ArbeiterInnen hätten sich durchgesetzt, weil die 35Stunden Woche weiter "Bezugspunkt" für die Arbeitszeit bliebe. Viele Kollegen und Kolleginnen, viele Streikende teilen dieses Argument.

Wahr daran ist freilich nur, dass ein frontaler Durchbruch der Unternehmer und die Zerschlagung des Tarifvertragssystems verhindert wurden. Diese hatten Arbeitszeit-Korridore von 35 bis 40 Stunden gefordert und wollten die Entscheidung darüber und über die Bezahlung der ausgeweiteten Arbeitszeit den "Betriebsparteien", also den Geschäftführungen und den von ihnen leichter zu erpressenden Betriebsräten überlassen. Das wäre in der Tat das Ende des Flächentarifs und der 35-Stundenwoche gewesen. Hinzu kommt, dass der Abschluss zu keiner Demoralisierung unter den ArbeiterInnen geführt und das Selbstbewusstsein der Beschäftigten eher gestärkt hat.

Dass die "Maximalforderung" der Unternehmer nicht durchkam und auch die Kapitalisten wenig Lust auf eine solche Konfrontation verspürten, war ein Resultat der hohen Beteiligung an den Warnstreiks. 490.000 ArbeiterInnen waren in nur zwei Wochen auf die Straße gegangen. Die meisten Betriebe konnten (im Vergleich zu früheren Tarifrunden) überdurchschnittlich stark mobilisieren.

Doch gerade angesichts der gezeigten Kampfkraft kommt das Ergebnis einem Ausverkauf gleich. Insgesamt stellt es einen Erfolg der Unternehmerseite dar, nicht der IG Metall:

Die Aushöhlung des Flächentarifvertrags schreitet weiter fort. Auch wenn in manchen Bereichen die Realität (längere Arbeitszeiten, Mehrarbeit ohne Zuschläge) "nur" festgeschrieben wird, so zeigt allein das, wohin der Trend geht. In dieser Hinsicht ist der Tarifabschluss ein Signal zu weiterer Arbeitszeitverlängerung. Gerade in Betrieben mit einem hohen Anteil gut bezahlter Angestellter entscheiden jetzt die Betriebsräte (einschließlich "gelber" und nicht-organisierter) über eine Ausweitung der 40-Stunden-Verträge, die IG Metall bleibt außen vor!

Der Abschluss deckt - insbesondere, wenn man die ERA-Komponenten mitrechnet - die zu erwartende Inflationsrate ab. Bedenkt man, dass die Preissteigerung für Konsumgüter der Lohnabhängigen eher höher ausfallen wird, dass die Agenda-Reformen und eine wahrscheinliche Anhebung der Mehrwertsteuer auf Kosten der Lohnabhängigen gehen, so ist selbst eine Sicherung der Realeinkommen fraglich.

Die Produktivitätsgewinne in der Metall- und Elektroindustrie gehen voll in die Taschen der Kapitalisten. Die Umverteilung nach oben geht also zwei Jahre ungestört weiter.

Der rasche Abschluss und die lange Laufzeit von 26 Monaten fördern nicht nur den "betrieblichen Frieden". Sie erschweren auch die gemeinsame Mobilisierung von ArbeiterInnen in den industriellen Kernsektoren mit der entstehenden Bewegung gegen den Sozialabbau. Auch für die Mobilisierung zum europaweiten Aktionstag am 2. und 3. April stellt der Abschluss einen Rückschlag dar.

Die Kluft zwischen den einzelnen Regionen und v.a. zwischen Ost- und West wird noch einmal verschärft. In verschiedenen Tarifbezirken ist eine Übernahme des Abschlusses fraglich, gerade im Osten werden weitere Verschlechterungen dazu kommen oder die Übernahme des schlechten Ergebnisses überhaupt erst erkämpft werden müssen (Sachsen).

Wenn die Weigerung der ostdeutschen, insbesondere der sächsischen Metall-Kapitalisten, den Pilotabschluss zu übernehmen, durchkommt, würde das die Ost-West-Spaltung bei Löhnen und Arbeitsbedingungen weiter vertiefen und den ArbeiterInnen im Osten nach dem gescheiterten Streik um die 35 Stunden eine weitere Niederlage zufügen. Da das Verhalten Sachsens absehbar war, hätte sich die IG Metall-Führung von vornherein darauf vorbereiten und sicherstellen müssen, dass kein Abschluss ohne den Osten zustande kommt.

Begrenzungen

Die problematischste und fatalste Auswirkung hat der Abschluss vor dem Hintergrund einer entstehenden Massenbewegung gegen die Angriffe des Kapitals und der Regierung. Eine entschlossen geführte und erfolgreiche Tarifrunde hätte zu eine realen, festeren Verbindung von ArbeiterInnen - vor allem der schweren Bataillone der Klasse - mit den Erwerbslosen, Studierenden, Sozialbündnissen, Foren geführt. Viele Solidaritätsadressen und Aktionen zeigten, dass die Lohnabhängigen eine solche Brücke schlagen wollten (oder jedenfalls der Boden dazu bereitet wurde).

Genau das wurde durch die IG Metall-Führung politisch abgebogen und abgebrochen. Die Lohnrunde und die Frage der Arbeitszeit hätten mit der Mobilisierung gegen den Sozialabbau verbunden werden müssen. Das wird nun massiv erschwert, gerade auch durch die lange Laufzeit von 26 (!) Monaten. Eine solche Mobilisierung hätte die Schröder-Regierung in reale Schwierigkeiten und die Grundlage für Massenstreiks gegen die Agenda und den Sozialraub legen können.

Das wollte die IG Metall Spitze jedoch nicht. Sie - und niemand sonst - trägt die politische Verantwortung dafür, dass eine weitere Chance verpasst wurde. Die Lager der "Reformer" und der "Traditionalisten" unterschieden sich in dieser Frage sehr wenig.

Standort über alles

Der Abschluss der IG Metall zeigt auch, dass die Gewerkschaftsbürokratie nicht die Solidarität unter den Lohnabhängigen und den gemeinsamen Kampf gegen das Kapital im Auge hat. Im Gegenteil: der Vertrag selbst stellt noch einmal ausdrücklich fest, dass es "gemeinsames Ziel beider (!) Tarifparteien" wäre, Arbeitsplätze am "Standort Deutschland" zu sichern, Wettbewerbsfähigkeit und Investitionsbedingungen zu verbessern. Das "Bündnis für Arbeit" lebt - im Tarifvertrag.

Es ist also kein Wunder, dass der Abschluss am positivsten von der Regierung bewertet wurde. Schröder frohlockte geradezu über das "vernünftige" Ergebnis, das in (seine) "politische Landschaft" passt. Auch die CDU war zufrieden, schließlich wäre das ganze in die "richtige" Richtung gegangen. Nur die FDP konnte sich nicht damit anfreunden, dass nicht der ganze Flächentarifvertrag zerschlagen wurde.

Dieser Differenz entspricht auch eine unterschiedliche Akzentsetzung im Kapitalistenlager. Die Unternehmervertreter von Gesamtmetall und vielen Großkonzernen verteidigen den Abschluss, während BDI-Chef Rogowski sowie viele kleinere und mittlere Kapitale "enttäuscht" sind. Dahinter steht, dass die kleineren Unternehmen sich oft nur durch noch massivere Angriffe auf die ArbeiterInnen gegen die großen behaupten können. In vielen kleineren und mittleren Unternehmen hat sich das betriebliche Kräfteverhältnisse in den letzten Jahren so weit zugunsten der Kapitalsten verschoben, dass sie zu nahezu gewerkschaftsfreien (und mitunter auch betriebsratsfreien) Zonen wurden, während die Belegschaften in zentralen Großbetrieben noch immer über beachtliche Kampfkraft verfügen und die Betriebsräte sowie eine gefügige IG Metall auch zur Zähmung der ArbeiterInnen gebraucht werden.

Dass sie diese Funktion noch immer erfüllen kann, hat die IG Metall-Führung bewiesen. Sie hat einen raschen Abschluss v.a. deshalb herbeiführen können, weil viele KapitalistInnen erkannten, dass die Errungenschaften der ArbeiterInnen noch nicht reif zum "Totalabschuss" sind. Das ist auch ein wichtiger Grund, warum viele Lohnabhängige den Abschluss als ihren und der IG Metall Erfolg empfinden, und nicht als Ausverkauf.

Kritik regt sich jedoch bei einer Minderheit, i.w. bei den aktiveren, politische fortgeschritteneren Schichten, u.a. in den Vertrauensleutekörpern. Diese mussten gegen die Zustimmung zum Tarifvertrag in den verschiedenen Bezirken argumentieren und zur Ablehnung in den Tarifkommissionen auffordern. Doch in den Tarifkommissionen gab es nur sehr wenige Gegenstimmen: in Baden-Württemberg zwei, in Berlin einer.

Die Linken und AktivistInnen in der IG Metall müssen nun klar machen, dass dort, wo die Unternehmer eine weitere Verschlechterung der Situation durchdrücken wollen (und ihrerseits selbst den Baden-Württemberg-Vertrag deutlich unterlaufen wollen) gemeinsame, tarifbezirksübergreifende Aktionen und Solidaritätsstreiks notwendig sind, um Angriff der Kapitalisten z.B. in Sachsen abzuwehren.

Basisbewegung

Die Tatsache, dass der rasche Abschluss der IG Metall-Führung auf so wenig Widerstand oder Protest in den Betrieben stieß (anders als der letzte Abschluss 2002), ist nicht nur Resultat der Tatsache, dass auch die Kapitalisten mit ihren lautstark vorgetragenen Maximalforderungen nicht durchkamen. Der andere Grund ist, dass die Kräfte links der beiden Hauptströmungen der Bürokratie noch immer sehr schwach und zersplittert sind. Eine organisierte, geschweige denn als politische Alternative auch für die Masse erkennbare Gewerkschaftslinke, geschweige denn eine klassenkämpferische Opposition, wurde nicht oder viel zu wenig sichtbar.

Ohne eine solche organisierte Kraft, die gegen die "Standortpolitik" der Führung, gegen die Anpassung an Kapital und Kabinett auftritt und eigenständig mobilisierungsfähig ist, wird auch der nächste Ausverkauf nicht verhindert werden können. Der Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung gegen die Bürokratie ist daher die zentrale Aufgabe in den Gewerkschaften und Betrieben für die nächste Periode.

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Nr. 88, März 2004

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* Metall Tarifrunde 2004: Vergebene Chancen
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