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Flüchtlingskrise

Merkel unter Druck

Jürgen Roth, Neue Internationale 206, Februar 2016

Im Mittelmeer ersaufen weiterhin Geflüchtete, die Wahlprognosen für die AfD liegen im zweistelligen Bereich, Brandanschläge auf Asylbewerberheime sind an der Tagesordnung, Zahl und Größe der Pegida-Demonstrationen steigen. Vor diesem Hintergrund verschärfen Bundesregierung und EU die Asyl- und Flüchtlingspolitik.

Schon das Asylpaket 1, seit 23. Oktober 2015 in Kraft, umfasste eine Reihe von wichtigen Angriffen auf die AsylbewerberInnen.

l Den längeren Verbleib in Erstaufnahmeeinrichtungen und Verlängerung der Residenzpflicht bis auf 6 Monate. Währenddessen dürfen die Schutzsuchenden nicht arbeiten. Das soziokulturelle Existenzminimum wird als Sachleistungen statt Bargeld ausgegeben.

l Mehr sichere Herkunftsstaaten: Albanien, Kosovo und Montenegro gelten jetzt neben allen EU-Ländern, den übrigen Balkanländern, Ghana und Senegal als „sicher“. Abschiebungen dieses Personenkreises können zukünftig schneller durchgeführt werden.

l Leistungseinschränkungen für Personen, für die Ausreisetermin oder ein Abschiebung feststehen, sowie für diejenigen, bei denen eine Abschiebung aus „von ihnen selbst zu vertretenden Gründen“ (z. B. fehlende Identitätsdokumente) nicht durchgeführt werden konnte. Dies trifft auf den überwiegenden Teil der Geduldeten zu.

l Abschiebung ohne Ankündigung und Öffnung der Integrationskurse für AsylbewerberInnen, bei denen eine Aufenthaltsgenehmigung zu erwarten ist, schon während ihres Verfahrens. Laut Bundesagentur für Arbeit trifft dies nur auf SyrerInnen, IrakerInnen, IranerInnen und EritreeerInnen zu. Neben Gesetzesverschärfungen war also auch bessere Integration Teil des Paketes. Der Bund leitet zudem mehr Finanzmittel Ländern und Gemeinden zu.

Asylpaket 2 und Referentenentwurf

Beim Asylpaket 2, auf das sich die Bundesregierung noch nicht abschließend einigen konnte, geht es nur noch um Rechtseinschränkungen. Es sieht beschleunigte Asylverfahren für Menschen vor, die vermutlich ihre Reisedokumente beseitigt haben, die unrechtmäßig eingereist sind, die es versäumt haben, sich frühestmöglich bei den Behörden zu melden, und die aus sicheren Herkunftsstaaten kommen. Verfahrensrechte sollen ausgehöhlt werden, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) soll innerhalb einer Woche entscheiden.

Ein Ausschluss vom Asylverfahren soll bei dessen „Nichtbetreiben“, also z.B. einem Verstoß gegen die Residenzpflicht, folgen. Für „subsidiär Geschützte“, das sind Bürgerkriegsgeflüchtete, die in ihrer Heimat nicht individuell verfolgt werden, wird der Familiennachzug erschwert. Die generelle Wartefrist soll mindestens 2 Jahren dauern. Der Streit zwischen den Koalitionspartnern geht hier nur noch um die Frage, ob die Wartefrist auch für SyrerInnen gelten soll, was die SPD noch ablehnt. Vom Bundesinnenministerium ernannte AbschiebeärztInnen sollen die medizinischen Begutachtungen von Kranken vor ihrer Abschiebung durchführen. Ein einfaches Attest wird angezweifelt.

Bundesinnenminister de Maizière (CDU) und Justizminister Maas (SPD) haben sich laut vorliegendem Referentenentwurf auf erleichterte Abschiebungen „krimineller AusländerInnen“ geeinigt. Auch die Deklarierung Algeriens, Marokkos und Tunesiens zu sicheren Herkunftsstaaten ist dort drin enthalten. Über diese Planungen herrscht in der Großen Koalition Einigkeit. In Algerien und Marokko ist politische Verfolgung an der Tagesordnung, zudem sind dort die meisten Menschen jung - und arbeitslos. Das Geld, das „GastarbeiterInnen“ nach Hause überweisen, ist eine der wichtigsten Einnahmequellen Marokkos. Die Zahl der AuslandsmarokkanerInnen hat sich seit 1998 mehr als verdoppelt.

Positionen der Koalitionsparteien

Der jüngste Beschluss Österreichs, Obergrenzen für die Aufnahme von Geflüchteten einzuführen, stellte eine Vorlage für die CSU dar. Auf ihren Klausurtagungen in Wildbad Kreuth erneuerten ihre Bundes- und Landtagsfraktionen die Forderung nach einer Obergrenze von maximal 200.000 Asylsuchenden jährlich. Horst Seehofer hatte Merkel bereits auf dem Parteitag im November düpiert: Obergrenzen, Normalität von Kontrollen an der deutschen Grenze, kompromisslose Abschiebungen, Leistungskürzungen für abgelehnte AsylbewerberInnen, unangekündigte Abschiebungen, keine Winterabschiebestopps, Aussetzung des Familiennachzugs lautet sein Credo.

Das meiste davon ist im Asylpaket 2 enthalten, jedoch nicht die Einführung von Obergrenzen bzw. Kontingenten. Um Druck in diese Richtung auszuüben, klagt mittlerweile die bayrische Landesregierung vor dem Bundesverfassungsgericht. Auch Seehofer war bewusst, dass die Klage und die Forderung nach Obergrenzen für den Zuzug nicht mit der Genfer Flüchtlingskonvention und dem bundesdeutschen Asylgrundrecht übereinstimmen. Unmittelbar sollen daher  Asylrechtsbegrenzungen forciert werden, so das dahinter steckende Kalkül. Mit Erfolg, wie die Asylpakete zeigen. CSU-Parteitag und Wildbad Kreuth waren allerdings auch eine Bestätigung dafür, dass Gesetzesverschärfungen einen weiteren Kurs nach rechts nicht zu bremsen vermögen.

In der CDU-Bundestagsfraktion werden fleißig Unterschriften gegen Merkels Asylkurs gesammelt. Seehofer findet also auch hier zunehmend FreundInnen. Jüngst tat sich Julia Klöckner, Vizechefin der CDU, aussichtsreiche Merkel-Nachfolgerin und rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin in spe, mit ihrem „Plan A2“ hervor. In diesem Balanceakt zwischen Populismus und Loyalität zu Kanzlerin und Großer Koalition weicht besonders der Passus „tagesaktuelle Kontingente“ von deren bisheriger Haltung ab. Die Zahl der Eingelassenen soll sich an den aus Ländern und Kommunen gemeldeten „Kapazitäten“ orientieren, nicht an der Situation an der Grenze. Geschickt wird zwar die Frage nach einer konkreten Zahl umschifft, aber das Prinzip der Obergrenze geteilt. Klöckner stellt sich „Grenzzentren“ so vor, dass zunächst alle Flüchtlinge in grenznahe Einrichtungen gebracht werden sollen. Dort sollen die Bleibeberechtigungen schnell geprüft und abgelehnte BewerberInnen schnell abgeschoben werden. In die 5 - 8 von der Bundesregierung beschlossenen über das ganze Land verteilten „Aufnahmezentren“ sollen hingegen nur Asylsuchende mit von vornherein schlecht eingeschätzter Bleibeperspektive Einzug halten, ihre Anträge beschleunigt bearbeitet werden und bei Ablehnung sofortige Abschiebungen erfolgen. Die „Transitzonen“ der CSU sollen grenznah liegen und mit schwerem Gerät (Wasserwerfer) polizeilich bewacht werden. Klöckners Plan A2 liegt also in der Mitte.

Die SPD stimmt diesbezüglich mit dem Regierungsbeschluss überein. Wichtig war ihr vor allem, den Eindruck von Grenzauffanglagern zu vermeiden und die Bundesländer in die Pflicht zu nehmen. Bezüglich Obergrenzen gibt es aber Unruhe in der Partei. Die Essener SPD ruft zu einer Demonstration unter dem Motto „Das Boot ist voll!“ auf. Der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil, dessen Bundesland weniger Refugees als im Bundesdurchschnitt aufgenommen hat, fordert z.B. Zuzugsbegrenzungen. In der Frage Straftäterabschiebungen plusterte sich Parteivorsitzender Sigmar Gabriel auf. Ihm reichen weitere Verschärfungspläne nicht, demzufolge niedrigere Haftstrafen als bisher zu Abschiebungen Anlass geben. Er fordert in Reaktion auf die verabscheuungswürdigen Silvestervorfälle in Köln gleich, dass ausländische DelinquentInnen in ihrer Heimat bestraft gehören - ein Versuch, die Christenunion von rechts zu überholen.

Weitere Pläne und Maßnahmen

Baden-Württemberg und Bayern beschlagnahmen Vermögen bis zu wenigen Hunderten EURO. Die BRD führt erkennungsdienstlich nützliche Flüchtlingspässe („Ankunftsnachweise“) ein. Die Länderinnenminister der Union versuchen, zukünftig sichere Herkunftsländer auf dem Verordnungswege durchs Innenministerium festzulegen, den Parlamentsvorbehalt dafür auszuhebeln.

Das Innenministerium baut eine neue Bundespolizeielite (BFE+) auf. CDU-Generalsekretär Tauber drückt aufs Abschiebe-Tempo. Die Bundesregierung denkt daran, Wohnsitzauflagen auch auf anerkannte und subsidiär geschützte Geflüchtete auszuweiten. Solche Beschränkungen gibt es derzeit nur für AsylbewerberInnen im Verfahren und Geduldete, solange sie nicht für ihren Lebensunterhalt sorgen können. Anerkannte Flüchtlinge dürfen sich frei bewegen. Die CSU fordert, dass in Zukunft Schutzsuchende ohne Papiere direkt an der deutschen Grenze abgewiesen werden. Die bayerische Staatsregierung möchte die Ukraine, Gambia - dessen Präsident Schwulen „den Kopf abschneiden“ will - und Mali als „sichere Herkunftsländer“ kategorisiert wissen.

Zuweilen laufen Drohgebärden ins Leere, wenn's um handfeste Wirtschaftsinteressen geht. Wirtschaftsminister Gabriel runzelte die Stirn, als es um den Vorschlag ging, denjenigen Staaten die Entwicklungshilfe zu streichen, die abgelehnte AsylbewerberInnen nicht zurücknehmen, und in diesem Zusammenhang Algerien und Marokko genannt wurden. Algerien erhielt 2015 6 Millionen EURO Entwicklungshilfe, lieferte aber im gleichen Zeitraum Erdöl im Wert von 2,5 Milliarden EURO an die BRD und kaufte im Gegenzug deutschen Exportfirmen Waren über 2,6 Mrd. EURO ab. Netto verdiente Deutschland 80 Mill. EURO am Handel mit Algerien, das Dreizehnfache der Entwicklungshilfe. Marokko bekam dagegen 2015 486 Mill. EURO Entwicklungshilfe. Also Druckmittel zur Genüge, um die 2300 ausreisepflichtigen MarokkanerInnen wieder aufzunehmen? Doch aus gutem Grund ist Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) dagegen.

Der Löwenanteil dieser Gelder, die sein Ministerium vergibt - zum guten Teil nur als Kredit - landet in der Region Ouarzazare. Dort entsteht zur Zeit der größte Solarkraftwerk-Komplex der Welt, Vorzeigeprojekt mit Modellcharakter für weitere gigantische Kraftwerke auch in anderen Wüstenländern. Die beteiligten Unternehmen können auf lukrative Folgeaufträge hoffen. Wie günstig, dass so viele Firmen aus der Bundesrepublik daran beteiligt sind: Siemens, Flabeg, Schott und Ingenieurbüros.

Kern der Asyl- und Flüchtlingspolitik der Großen Koalition ist die Ablehnung nationaler Alleingänge, das Pochen auf einer europäischen Lösung. Es darf nicht zugelassen werden, dass der Schengen-Raum verkleinert wird, seine Außengrenzen durchlässig werden.

Merkels Kurs unter Druck…

Die Dublin-Verordnungen sollen restauriert bzw. durch ein neues, griffigeres Vertragswerk ersetzt werden. Dies ist ganz im Sinne der BRD-Konzerne! Arbeit„geber“präsident Ingo Kramer sagte gegenüber der „Neuen Osnabrücker Zeitung“, eine Ausweitung von Kontrollen innerhalb der EU bedrohe die deutsche Wirtschaft: „Vieles, was wir produzieren, wird vorher in Einzelteilen aus dem Ausland angeliefert. Wenn es nun wieder kilometerlange Staus an den Grenzen geben sollte, wenn  LkW wieder tagelang stehen, bis sie abgefertigt werden, dann ist das auch ökonomisch ein GAU.“ (ND, 25.1.2016)

Der belächelte Vorschlag Schäubles, eine EU-weite Benzinsteuer zur Begleichung der Mehrkosten infolge der Zuwanderungs„krise“ einzuführen, kalkuliert zwar in populistischer Manier mit dem Aufstand der AutofahrerInnen gegen MigrantInnen, ist sich aber der Tatsache bewusst, dass wie schon bei der Euro-Krise Deutschland auch beim Einwanderungsregime Hegemonie über die EU beweisen muss. Dies umso mehr, als durch die zunehmenden innerimperialistischen Widersprüche die EU auseinanderzudriften droht!

…die EU laviert

Unmut gab es im Vorfeld der Tagung des Europäischen Rates, dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs Ende Dezember, wegen des Migrationskurses. Die Stimmung war aufgrund der Politik der „offenen Arme“ von Angela Merkel gereizt. Die Slowakei und Ungarn klagen gegen die beschlossenen EU-Flüchtlingsverteilquoten vor dem Europäischen Gerichtshof, die Umverteilung von Geflüchteten aus Italien und Griechenland wird praktisch nicht umgesetzt. Die entsprechenden Mahnrufe der EU-Kommission paarten sich mit Ressentiments vieler Staaten gegen den Kommissionsvorschlag, Frontex-MitarbeiterInnen notfalls auch gegen den Willen des Landes einzusetzen, in dem sie die Grenzen schützen sollen.

Der Gipfel konnte sich auch nur auf die Notwendigkeit einigen, die Außengrenzen des Schengenraums zu schützen. Ende Juni erst sollen Entscheidungen anstehen, die dann noch vom EU-Parlament gebilligt werden müssen. So schnell wird es nichts mit der neuen Frontex-Truppe! Auch nicht mit einem neuen EU-Verfahren zur Aufnahme von Asylsuchenden, das aber auf den Weg gebracht werden und das bestehende Dublin-System ablösen soll. Diese Hinhaltetaktik ist eine deutliche Niederlage für Deutschlands Hegemonierolle, wenn nicht in der, so doch über die EU. Sie ist ein Rückschlag, gemessen an der in der Euro-Krise gezeigten Stärke und Unnachgiebigkeit.

Österreich, Dänemark, Schweden, Türkei & Co.

Österreich hat just Einwanderungsbeschränkungen beschlossen. Die Einreisezahlen nach Deutschland über Österreich gehen zurück. Dänemark und Schweden haben wieder Grenzkontrollen eingeführt. In anderen Staaten werden diese verlängert, auch in der BRD. Dänemark beschließt die Konfiszierung von Geld und Wertgegenständen bei Flüchtigen zur Deckung von deren Unterbringungskosten. Die Balkanroute z.B. durch Mazedonien ist seit Ende November auf Druck der EU nur noch offen für Refugees aus Afghanistan, Irak und Syrien mit dem Ziel Deutschland (oder Österreich). Griechenland wird ermahnt, seine Hausaufgaben für Schengen zu machen und den Flüchtlingstreck an der Weiterreise nach Westen effektiver zu hindern sowie die Einreise aus der Türkei über die Ägäis mittels Einsatz seiner Marine zu stoppen.

Die Türkei schickt vermehrt syrische Refugees wieder in ihre vom Bürgerkrieg zerrissene Heimat zurück. Für Deutschland ist die Türkei ein Schlüsselland - nicht nur für die Flüchtlingspolitik, sondern auch als Regionalmacht in einer von verschiedenen Imperialismen umkämpften Zone, die neu aufgeteilt werden soll. Das Abkommen mit der EU wirkt, nur möchte Erdogan mehr Geld als die bisher genehmigten 3 Mrd. Euro. Berlin setzt alles daran, Erdogan nicht nur zum Türschließer nach Westen zu befördern, sondern ihn sich auch als Stellvertreter in der Region heranzuzüchten. Deshalb die Flankierung der EU-Türkei-Flüchtigenpolitik durch bilaterale Gespräche zwischen Ankara und Berlin. Da drückt die Bundesregierung beim Bürgerkrieg gegen die KurdInnen wie auch bei den Menschenrechtsverletzungen in der Behandlung syrischer Refugees gern beide Augen zu.

Die EU hat Risse, für Flüchtlinge bleibt sie dennoch eine Festung!

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Nr. 206, Februar 2016
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