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Verschärfung des Asylrechts

Refugees welcome, aber nicht in Europa

Jürgen Roth, Neue Internationale 204, November 2015

60 Millionen Menschen befinden sich weltweit auf der Flucht, ein trauriger Rekord. Seit Jahresanfang sind knapp 515.000 übers Mittelmeer nach Europa gekommen, davon 383.000 nach Griechenland und 129.000 nach Italien. Knapp 3.000 sind dabei ertrunken. Von den in diesem Jahr bereits über das Mittelmeer Geflüchteten stammen 54% aus Syrien, unter den in Griechenland Angekommenen 71% (Zahlen laut UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR). Von Libyen aus, einem Land mit zwei rivalisierenden Regierungen, schlagen besonders viele die gefährliche Route mit seeuntüchtigen Kähnen ein.

Die Lage der Flüchtenden wird dabei doppelt hoffnungsloser: in ihrer Heimat hat allein das jüngste Eingreifen Russlands zu zusätzlichen 70.000 vor dem syrischen Bürgerkrieg Fliehenden geführt; das Erreichen der Zielländer wird durch die EU immer schwieriger gemacht. Nach Schließung des „Schlupflochs“ Ungarn ist Slowenien zum Transitland auf der Westbalkanroute geworden. Es hat bereits seine Armee zur Grenzsicherung mobilisiert.

Endlich in Deutschland angekommen erwartet sie hier eine Verschärfung der Aufenthalts- und Abschiebebestimmungen einerseits, eine Zunahme von Gewalttaten des rassistischen Mobs andererseits. Die Zahl von Brandanschlägen auf ihre Unterkünfte, gewalttätigen Angriffe auf ihr Leib und Leben haben bereits jetzt deutlich die von 2014 übertroffen. Gleichzeitig trägt gerade Deutschland zur Verstärkung der Fluchtursachen im Ausland bei: die deutschen Rüstungsexporte sind im ersten Halbjahr im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 59% gestiegen!

EU-Flüchtlingspolitik

Sowohl EU-Kommission wie Europäischer Rat wollen eine Vereinbarung mit Ankara treffen, die zu einer verstärkten Aufnahme von Refugees durch die Türkei führen soll. Die Türkei hat 2,2 Millionen syrischer Flüchtlinge untergebracht, die an der Weiterreise gen Westen gehindert werden sollen. Strittig ist die Höhe der Kosten: Erdogan verlangt 3 Milliarden Euro, Brüssel will eine Milliarde zahlen und bietet Erleichterungen bei Visum-Genehmigungen für türkische StaatsbürgerInnen an. Die Türkei soll dann sicherer Dritt- und Herkunftsstaat werden. Letzteres beträfe türkische und kurdische politische Flüchtlinge vor dem zunehmend repressiver werdenden Regime der AKP.

Getreu der Devise Junckers, die „Politik des Durchleitens“ zu beenden, den „Migrationsstrom zu verlangsamen und unsere Außengrenzen unter Kontrolle zu bringen“, beschloss ein Sondergipfel von 8 EU-Staaten sowie den Balkanstaaten Albanien, Mazedonien und Serbien am 25. Oktober einen 17-Punkte-Plan. Demzufolge soll die Grenzschutzagentur Frontex erstmals an mehreren Grenzen entlang der Westbalkanroute zum Einsatz kommen. Bisher war sie auf dem Mittelmeer und in sog. Hot-Spots an einigen Außengrenzen tätig. Entlang der Route sollen 100.000 Aufnahmeplätze für Schutzsuchende entstehen, Ankommende beim Eintritt registriert (Fingerabdrücke), Menschen ohne Asylanspruch zügig zurückgeschickt werden. PolizistInnen aus anderen EU-Staaten sollen hierhin zur Verstärkung abkommandiert werden, vorrangig zunächst nach Slowenien. Informationen zum Migrationsfluss sollen schneller zwischen den beteiligten Staaten ausgetauscht werden, damit die Migrantinnen „entmutigt“ werden, einfach zum nächsten Land auf der Route nach Westeuropa weiterzuziehen.

Grenzzäune bezeichnete Juncker als „zwecklos“ und verurteilte besonders den von Ungarn geplanten an der Grenze zu Rumänien, ebenfalls ein EU-Mitglied. Besonders die baltischen und Visegrad-Staaten Osteuropas wurden kritisiert, weil sie sich gegen die Aufnahme des ihnen zugewiesenen Geflüchteten-Kontingents wehren. Insgesamt soll die bescheidene Zahl von 160.000 auf alle EU-Staaten umverteilt werden.

BRD: neues Asylunrecht

Bundestag und Bundesrat stimmten am 15. und 16. Oktober der Asylrechtsnovelle zu. Zünglein an der Waage war die Partei der Grünen, die in 9 Landesregierungen hockt. Ihre führenden SprecherInnen rechtfertigten die Zustimmung mit Finanzhilfen des Bundes an die Länder und Verbesserungen bei Integrationskursen und Arbeitsmigration. Die Eckpunkte des neuen Gesetzes, das ursprünglich ab 1. November gelten sollte, aber nun schon am Tag nach der Zustimmung in Kraft getreten ist, beinhalten eine Ausweitung der „sicheren“ Herkunftsstaaten auf Albanien, Kosovo und Montenegro; Verlängerung der Aufenthaltsdauer in Erstaufnahmeeinrichtungen und damit der Residenzpflicht für Schutzsuchende von 3 auf 6 Monate mit dem Ziel, die Verteilung der AsylbewerberInnen auf Folgeunterkünfte zu verhindern, aus denen Abschiebungen schwerer umzusetzen sind; in den Erstaufnahmeeinrichtungen gilt wieder das vor kurzem erst abgeschaffte Prinzip von Sachleistungen statt Bargeld; AsylantragstellerInnen, für die nach dem Dublin-Abkommen ein anderes EU-Land, das ihrer Ersteinreise, zuständig ist, sollen 40% weniger Sozialleistungen als nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten.

Dass die Dublin-Vereinbarungen unter den Flüchtlingszahlen praktisch zusammengebrochen sind und das Bundesverfassungsgericht 2012 eine Unterschreitung der Sätze nach Asylbewerberleistungsgesetz für verfassungswidrig erklärt hatte, spielt heute offensichtlich keine Rolle mehr. Auch jene Flüchtlinge sollen weniger Leistungen erhalten, die in einem anderen Land bereits einen Schutzstatus erhielten und deswegen dorthin verwiesen werden. Pro Asyl nennt Beispiele von in Bulgarien anerkannten Geflüchteten, die vor Misshandlungen dort nach Deutschland weitergeflohen sind. Abschiebungen sollen zukünftig ohne Ankündigungen erfolgen. Geduldete, denen vorgeworfen wird, sie würden ihre Abschiebung verhindern oder sie seien wegen der Sozialleistungen eingereist, sollen einem absoluten Arbeitsverbot unterliegen. Die Eigenbeteiligung wird für die Teilnahme an Integrationskursen von 1,20 auf 1,47 Euro pro Stunde erhöht, sofern keine Befreiung vorliegt wie für BezieherInnen von Sozialleistungen. Die Bundesländer bereiten sich auf beschleunigte Abschiebungen vor. Gedacht wird zu diesem Zweck auch an den Einsatz von Transall-Transportflugzeugen der Bundeswehr.

Konflikte im Lager der Regierungsparteien

Diese zeigen, dass schärfere Gesetze den Hardlinern nicht den Wind aus den Segeln nehmen, sondern sie erst recht ermuntern. Aus der CSU und der Deutschen Polizeigewerkschaft im Beamtenbund werden Forderungen nach Grenzschließungen zu Österreich, dem Bau von Grenzbefestigungen allgemein, Beschränkungen des Familiennachzugs und eine „strenge Obergrenze“ für die Migration laut. Aber auch der rechte CDU-Flügel verlangt Transitzonen an den deutschen Außengrenzen. Innenminister de Maizière nennt das eine Ausdehnung des Flughafenabschiebeverfahrens, bei dem schon seit langem per Flugzeug Einreisende auf dem Flughafen interniert, ihre Asylanträge im Schnellverfahren „bearbeitet“ und sie nach Ablehnung postwendend wieder abgeschoben werden. CSU-Vorsitzender Seehofer konnte einen Regierungsdreiergipfel am Allerheiligen durchsetzen. Dort gab es noch keine Einigung - diese soll jedoch bei einem weiteren Anlauf am Donnerstag, den 4. November, nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe der NI, erzielt werden.

Seehofer drohte mit einer Verfassungsklage Bayerns gegen die Merkel'sche „Duldungspolitik“, mit einem eventuellen Rückzug der CSU-MinisterInnen aus dem Kabinett. Bayern werde zur „Notwehr“ greifen: möglich sei ein einseitiger Aufnahmestopp, eine unabgesprochene Weiterverteilung der Refugees in andere Bundesländer oder deren Festnahme direkt an der Grenze wegen illegalen Aufenthalts. Dieser Rechtskurs lenkt auch hier Wasser auf die Mühlen der noch Rechteren statt sie zu besänftigen, beeinträchtigt bisher nicht den Aufstieg der AfD in den Meinungsumfragen.

Es ist zu erwarten, dass der Dreiergipfel zumindest die Forderung der CSU und der CDU-Rechten nach Transitzonen aufgreifen wird. Die SPD scheint sie eher auf Länderebene als an Deutschlands Außengrenzen zu favorisieren. Viele SPD-Abgeordnete können sich zudem mit Obergrenzen beim Zuzug arrangieren. Andere wie SPD-Vize Stegner befürworten ein Investitionsprogramm in Höhe von 20 Mrd. Euro und eine Absage an Schäubles Haushaltsfinanzierungsdogma der Schwarzen Null, ein verstohlener Fingerzeig in die richtige Richtung.

Die Mehrheit in der Fraktion steht aber zu Merkels Kurs der Bekenntnis zum Grundrecht auf Asyl bzw. dem, was davon noch übrigbleibt. Dieser verträgt sich (noch) nicht mit Einwanderungsobergrenzen per Dekret, mit der Errichtung von Grenzzäunen um die BRD herum, aber mit der jüngsten Asylrechtsverschärfung, der für Deutschland besseren Verteilung der Geflüchteten unter den EU-Ländern, der „Bekämpfung“ von Fluchtursachen in Gestalt verstärkter Einmischung der EU an der Seite anderer Großmächte in den Syrien-Konflikt, dem Kuhhandel mit Erdogan, der Aufrüstung und Kompetenzerweiterung von und für Frontex - und Grenzschließung, allerdings an den EU-Außengrenzen!

Merkel weiß sehr wohl, dass die meisten Asylsuchenden nach Konfliktende wieder in ihre Heimat zurückkehren würden. Vor allem aber weiß sie, dass de Maizières und Seehofers Vorschläge das Flüchtlingsproblem auf die Peripherieländer der EU und Beitrittskandidaten wie Serbien abwälzen würden. Der de facto Zusammenbruch des Dublin-Reglements dort ist aber auch Resultat der tiefen EU-Krise.

Die immer größer werdende wirtschaftliche Kluft zwischen Deutschland und dem Rest der EU-Staaten trifft v.a. Südeuropa und den Balkan so hart, dass es unklug wäre, sie vor den Kopf zu stoßen statt Einvernehmen herzustellen. Griechenland, Mazedonien, z.T. Italien und andere Länder haben die ihnen zugewiesene Rolle als Prellbock, zu denen die Dublin-Abkommen sie verdonnert hatten, unter dem Druck der Ereignisse lockern müssen.

Bei allen Unterschieden und Differenzen in der Bundesregierung gibt es aber eine Konstante. Die „Willkommenskultur“ ist vorbei - rassistische Selektion ist angesagt.

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Nr. 204, November 2015
*  Einheit und Perspektive: Für eine anti-rassistische Massenbewegung
*  Verschärfung des Asylrechts: Refugees welcome, aber nicht in Europa
*  Massendemonstration gegen TTIP: Wie weiter gegen die Wirtschafts-NATO?
*  Konferenz zu Streikrecht und Union-Busting: Was tun gegen neue Angriffe?
*  VW-Skandal: Grenzwerte und Systemgrenzen
*  Syrien: Der Krieg, seine regionalen und globalen Auswirkungen
*  Neuwahlen in der Türkei: AKP bombt sich zurück zur Alleinregierung
*  Vorwahlen zur US-Präsidentschaft: Bernie Sanders for President?
*  60 Jahre Bundeswehr: Alter Zopf und neuer Zoff
*  Veranstaltungsreihe: Griechenland nach den Wahlen
*  Marxistisches Forum in Berlin: Ideen unter Feuer
*  Politische Perspektive: Krise der EU - Krise der Linken?!