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 Neuwahlen in der Türkei

AKP bombt sich zurück an die Alleinregierung

Svenja Spunck, Neue Internationale 204, November 2015

Bei den türkischen Nationalwahlen vom 7. Juni hatte die seit 2002 regierende AKP ihre absolute Mehrheit verloren. Vor allem war dies dem Einzug der linken, pro-kurdischen HDP ins Parlament zu verdanken. Dies machte die Pläne des Präsidenten Erdogan zunichte, die Verfassung zu ändern und ein Präsidialsystem einzuführen.

Da ihm das Ergebnis aber nicht passte, ließ er, statt sich dem Zwang einer Koalitionsbildung zu beugen, für den 1. November Neuwahlen ansetzen. In den letzten 5 Monaten wurde die Türkei ins Chaos gestürzt, nicht nur um die WählerInnen zu verunsichern und in die Arme der scheinbar stabilen und starken AKP zu treiben, sondern vor allem, um sich der Opposition zu entledigen.

Wahlergebnis

Diese Neuwahlen wurden nicht unter demokratischen Bedingungen abgehalten. Den ganzen Tag über wurde von Zwischenfällen aus dem ganzen Land berichtet, die nicht nur Stromausfälle in Bezirken von Istanbul und Diyarbakir umfassten. Das Militär zeigte enorme Präsenz, vor allem im kurdischen Osten, zwang WählerInnen zur offenen Wahl, nahm ihnen die Pässe ab, so dass sie gar nicht erst wählen konnten und schüchterte somit die Bevölkerung stark ein.

Internationale WahlbeobachterInnen wurden festgenommen, und auch von einigen Bestechungen der AKP gibt es Fotos. Besonders auffällig scheint, dass die Stimmen extrem schnell ausgezählt wurden, während die Website des Hohen Wahlausschusses, zu dem alle Stimmen am Ende gebracht werden, am Vormittag des 2. November immer noch offline geschaltet ist.

In der Nacht stand dann das erschütternde Ergebnis fest: Die AKP hatte mit einem Plus von 8,5% und 49,4% der Stimmen ihre alleinige Mehrheit wieder erlangt. Nur mit knappen 10,7% schaffte es die HDP auch dieses Mal wieder ins Parlament, verlor damit aber 2,4 % im Vergleich zum Juni. Die kemalistische CHP blieb fast unverändert bei 25,4 %; die einzige Freude kann man über den Verlust von 4,4% der protofaschistisch-nationalistischen MHP auf 11,9% empfinden. Durch das türkische Wahlsystem ist sie damit auch nur viertstärkste Partei im Parlament und hat 18 Sitze weniger als die HDP mit ihren 59 Abgeordneten (http://secim.ntv.com.tr /#City=&County=&Party=&Tab=&TabGroup=).

Strategie der AKP

Doch der wahre Betrug, der Diebstahl von einer Millionen Stimmen für die HDP, die nun wieder an die AKP gegangen sind, fand nicht gestern statt. Die HDP hat in keinem Bezirk des Landes ihre Prozente steigern können, sie hat durchgängig verloren. Es scheint, als wäre die Strategie der AKP aufgegangen: die Bevölkerung durch den Krieg, den Terror und die Massaker der letzten Wochen so sehr einzuschüchtern, dass sie aus Angst, aus Hoffnung nach Stabilität, der AKP nun doch ihren Wunsch nach der Fortsetzung ihrer Alleinregierung erfüllen.

Erdogan hatte zu Beginn des Wahlkampfes noch häufig betont, dass es ihm vor allem um die Änderung der Verfassung ginge, durch die er ein Präsidialsystem und damit noch größere und unkontrollierbarere Handlungsspielräume schaffen wolle. Doch dieser Wunsch nach diktatorischer Macht kam auch unter seinen WählerInnen nicht gut an, weshalb er zumindest rhetorisch diesen Schritt erst mal in den Hintergrund rückte. Um tatsächlich die Verfassung zu ändern, bräuchte er eine Zweidrittel-Mehrheit (367 Abgeordnete) im Parlament oder 330 Stimmen daselbst, die eine Volksabstimmung darüber einleiten. Nach der Wahl gehen 316 Sitze an die AKP, 134 an die CHP, 59 an die HDP und 41 an die MHP.

Zynisch könnte man also sagen, der Aufwand habe sich für die AKP gelohnt. Mehr als tausend Menschen mussten seit den letzten Wahlen sterben: im Krieg im Osten gegen die Stellungen der PKK, bei den Anschlägen von Diyarbakir, Suruç und Ankara, über die der türkische Staat Bescheid wusste und sie dennoch nicht verhinderte und auch an der Grenze zu Syrien, oder besser gesagt, zu den kurdischen Gebieten Syriens, die sich die AKP unter den Nagel reißen will.

HDP: wie weiter?

Die hoffnungsvolle Stimmung, die die Wahlniederlage der AKP vom 7. Juni mit sich brachte, scheint nun vorbei zu sein. Während Ministerpräsident Davutoglu gleich in seiner ersten Rede nach dem gestrigen Sieg für eine Änderung der Verfassung warb, gaben die Vorsitzenden der HDP, Demirtas und Yüksekdag, Interviews, die pure Niedergeschlagenheit ausdrückten. Sie kritisierten, dass es das Ziel der AKP während des Wahlkampfes war, die HDP wieder unter die 10 Prozent-Hürde zu drücken, und gestern Abend schien es auch fast so. Demirtas bedankte sich bei den WählerInnen für ihre Unterstützung und entschuldigte sich für den geringen Wahlkampf, der so unauffällig geriet, weil er sein Volk und vor allem die Jugend vor weiteren Anschlägen schützen wollte.

Trotz des großen Verlustes an Stimmen sei seine Partei standhaft gegen den Faschismus gewesen, dies sei ein großer Sieg. Doch schon einige Sätze danach offerierte er dem „faschistischen“ Wahlsieger Zusammenarbeit, indem er in Bezug auf die neue Verfassung eine konstruktive Rolle der Opposition versprach. Bis zu den Wahlen 2019 prophezeite er eine stärkere HDP, den Kampf darum widme er allen, die in den letzten Monaten für den gestrigen Wahlerfolg sterben mussten. Kein deutliches Wort verlor er über den dreckigen Wahlkampf der AKP, über den Staatsterrorismus, der seine eigene Partei um eine Millionen Stimmen brachte, tausende in die Gefängnisse steckt, seit Juni rund 1000 Tote forderte und die PKK weiter kriminalisiert. Dies betrifft nicht nur die westlichen türkischen Städte, sondern vor allem den Osten des Landes. In der kurdischen Hauptstadt Diyarbakir gingen die 8%, die die HDP verlor, direkt zur AKP über.

Kämpferischer fällt da schon eher die Stellungnahme der PKK aus, die nun mit dem Einzug der Guerilla in die Städte droht. Ob es sich dabei nur um ein Säbelrasseln handelt, wird wohl erst die Zukunft zeigen. Doch politisch schwache Bewegungen wie diese sind momentan wohl nicht das Pferd, auf das man setzen kann. Zudem sollten wir nicht vergessen, dass die Entstehung der HDP auch ein Resultat des Scheiterns der Guerillastrategie war. Nicht nur die massiven Angriffe, die Verhaftungen und die Anschläge auf die HDP haben gezeigt, dass sie eine Gefahr für die AKP-Regierung darstellt, dass diese nicht gewillt ist, auch nur die Entstehung einer legalen linken Massenpartei zuzulassen, die politisch zwischen europäischer Linkspartei und Grünen angesiedelt ist.

Das Vorhaben der HDP, die unterdrückten Teile der türkischen Gesellschaft in einer Partei zu vereinen, ist durchaus richtig. Doch der Zusammenschluss linker Gruppen unter der undemokratischen Kontrolle einer kleinbürgerlichen Führung führt nicht zu einem revolutionären Programm, das die türkische Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert. Nach dem Wahlsieg im Juni war ein arrogantes Verhalten der kurdischen Parteien in der HDP gegenüber den heterogeneren linken Gruppen zu spüren. Der Sieg der kurdischen Bewegung schien auf einmal zum Greifen nah und jegliche Diskussion um die Weiterentwicklung des Programms wurde blockiert.

Das könnte nun anders werden. Auf jeden Fall muss es das aber, um eine Organisation aufzubauen, die sich an den größten Teil der Unterdrückten, nämlich die ArbeiterInnenklasse in der gesamten Türkei, im gesamten Nahen Osten wendet. Die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes und die Unterstützung ihres Befreiungskampfes sind nicht verhandelbar. Genau so wenig sollte es jedoch auch die Forderung nach einem gemeinsamen Kampf der türkischen und kurdischen ArbeiterInnenklasse sein, von der jedoch offensichtlich große Teile nach wie vor Illusionen in die „Stabilität“ der AKP haben.

Linke Parteien inner- und außerhalb der HDP müssen nun stärker als je zuvor für ein revolutionäres und internationalistisches Programm kämpfen, das einen klaren Abbruch sämtlicher Verhandlungen mit dem türkischen Staat beinhaltet, die Untersuchung der Massaker der letzten Monate und der Umstände, unter denen die Wahlen stattfanden, fordert. Es reicht nicht, eine „starke Opposition“ zu spielen und sich auf seiner Humanität und Rechtmäßigkeit von schönen Ideen und Vorstellungen auszuruhen, während diese von Barbaren bedroht werden, die ihren Erfolg mit Menschenleben erkaufen.

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