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Freud zum 150. Geburtstag

Eine Würdigung

Gerald Waidhofer, Neue Internationale 111, Juni 2006

Freud - war das nicht dieser Mann mit einer Couch? In den letzten Wochen lagen die Medien mit vergleichbaren Fragestellungen regelrecht in einem Freud-Fieber. Von den größten Zeitungen und Sendern bis zu den kleinen Regionalblättern und lokalen Bildungseinrichtungen zeigt sich plötzlich eine besondere Vorliebe für Sigmund Freud.

Nachdem er in offiziellen Wissenschaftskreisen in der Regel lediglich als überholter Klassiker erwähnt wird und dabei sich der Eindruck aufdrängt, dass er für beliebige Arten der Kritik Material hergibt und ein gewisser Wetteifer in der Überholung Freuds besteht, kommt diese Würdigung etwas unvermittelt daher. Immerhin entstand sein Ruhm von jeher aus einer Gegnerschaft, also einer Art Negativ-Werbung. Wer war dieser Forscher, der heute noch so viel Aufsehen zu erregen vermag?

Geboren wurde Sigismund Schlomo Freud am 6. Mai 1856 als Sohn eines Stoffhändlers und dessen zweiter Ehefrau in Freiburg (Mähren, heute Pribor). Nach dem Besuch eines Gymnasiums in Wien wollte er zuerst Jura studieren und sozialdemokratischer Politiker werden. Er studierte aber schließlich Medizin, interessierte sich für die experimentelle Erforschung des Nervensystems und wurde wissenschaftlicher Mitarbeiter am physiologischen Institut. Nebenher studierte er Philosophie und wurde als Langzeitstudent angesehen. Während seines Militärdienstes wurde er wegen Bummelei und unmilitärischem Verhalten bestraft. Wegen seiner heimlichen Verlobung verzichtete er auf eine universitäre Karriere und arbeitete in der Psychiatrie.

Durch eine Studienreise nach Paris lernte er Charcot kennen, der Hysterie mit Hypnose behandelt. Diese Technik entwickelte er dann in seiner in Wien eröffneten Arztpraxis weiter und gelangte dabei zur Technik der freien Assoziation. Damit gelang es ihm, sexuelle Beweggründe in der Hysterie zu entdecken und Träume zu analysieren. Er nannte seine therapeutische Forschungsarbeit fortan Psychoanalyse und entdeckte in einer Selbstanalyse den berühmten Ödipuskomplex. Mit einem Kreis von interessierten Intellektuellen, überwiegend jüdischen Ärzten, begann er, systematisch die neue Wissenschaft zu besprechen, woraus 1910 schließlich die Internationale Gesellschaft für Psychoanalyse entstand.

Die bekanntesten Spaltungen gehen zurück auf seine Trennung von Alfred Adler 1911 und sein Bruch mit C. G. Jung 1913. Während Adler in der Folge eine eher pädagogische Praxis entwickelte und mit den Austromarxisten kooperierte, stellte Jung der Psychoanalyse Freuds seine germanische Psychologie gegenüber und arbeitete mit den Nazis zusammen.

Die Popularität Freuds beruht nicht nur auf seinen wissenschaftlichen Leistungen, sondern auch wesentlich auf seinen literarischen. Seine Begabung, komplexe Zusammenhänge in gemeinverständlicher Weise zu beschreiben und Fallbeschreibungen in eine spannende Form zu bringen, brachte ihm 1930 den Goethepreis ein. 1938 emigrierte er nach Großbritannien, wo er am 23. September 1939 starb.

Psychoanalytische Renaissance?

Die gegenüber der Psychoanalyse vorgebrachten Einwendungen und Vorbehalte scheinen in den gegenwärtigen Würdigungen völlig unterzugehen. Immerhin reagierte die Medizin  entsetzt auf die hervorgehobene Rolle der Sexualität und die Psychiatrie sah Freud seit der Publikation seiner Traumdeutung als Gegner. In Wien erlebte er nicht nur den Antisemitismus an der Universität, sondern wurde er auch als der ‚Lustlümmel aus der Berggasse’ bezeichnet. Die Nationalsozialisten verbrannten schließlich seine Werke und brachten vier seiner Schwestern im KZ um.

Zur Einschätzung des Lebenswerkes von Freud gibt es bereits so viel Geschriebenes, dass die aktuellen Würdigungen nur wenig Originalität aufweisen. Die Ehrungen Freuds können vermutlich auch darum geschehen, weil die von ihm konzipierte Wissenschaft kaum Platz in den Universitäten findet und darum keine gefährliche Konkurrenz innerhalb der offiziellen Lehrbetriebe darstellt. Und der gesellschaftskritische Anspruch der Psychoanalyse findet sich inzwischen nur noch in ausgesprochen wenigen Publikationen und konsequenzenlosen Tagungsbeiträgen. Ansonsten erscheint die Psychoanalyse heute als weitestgehend entpolitisiert und zurückgezogen auf ihre therapeutischen Arbeiten.

Gemessen an dem, was durch die ursprünglichen Forschungen von Freud erkennbar wurde, sind die aktuelleren psychoanalytischen Beiträge nicht besonders aufregend. Er entwickelte nicht nur schlichtweg die Grundlagen für eine neue Psychologie, sondern er entwickelte eine Methode, die es ermöglicht, von den vielfältigen Erscheinungsformen menschlichen Erlebens und Verhaltens in das Wesentliche des Menschen vorzudringen. Hierbei ist vor allem seine systematische Erforschung des Unbewussten und der psychosexuellen Entwicklung des Menschen hervorzuheben. Schließlich konzipierte er ein theoretisches Gebäude, das weit über die anfänglichen Fragestellungen hinausreicht und bis zu neuen Verständnismöglichkeiten gesellschaftlicher Phänomene und der menschlichen Geschichte gelangte.

Aus marxistischer Sicht gibt es hierzu keine einhellige Position. Der erste Versuch zur Klärung des Verhältnisses zwischen Psychoanalyse und Marxismus bestand in Adlers Vortrag ‚Zur Psychologie des Marxismus’ 1909. Seither wurden vielfältige gegenseitige Abgrenzungen und Kombinationsmodelle entwickelt. Während hierbei die stalinistische Tradition entsprechend ihres naturalistischen Geschichtsobjektivismus’ die Psychoanalyse als bürgerliche Dekadenzerscheinung entlarvte, die subjektiv-idealistisch und mit dem dialektischen Materialismus völlig unvereinbar sei, schätzte etwa Leo Trotzki die Erforschung des Unbewussten durch Freud als genial ein und die Freudomarxisten (Otto Fenichel, Wilhelm Reich, Edith Jacobsohn, Siegfried Bernfeld u.a.) sahen in der Psychoanalyse sogar den Keim einer dialektisch-materialistischen Psychologie.

Individuum und Gesellschaft

Der Streit entzündete sich vor allem anhand der massenpsychologischen und kulturtheoretischen Stellungnahmen Freuds. Für Freud befand sich beispielsweise die höchste intellektuelle Leistungsfähigkeit des Menschen im Individuum. In Massen sah er den Ausdruck einer Regression, welche die Intelligenz kollektiv hemmt, das Gewissen verringert und Triebkräfte freisetzt. Um zu dieser Sichtweise zu gelangen, mag es prägend gewesen sein, dass er ebenso wie der größte Teil seines anfänglichen Gesprächskreises in der sogenannten Mittwochs-Gesellschaft liberal eingestellt war.

Tatsächlich kann mit relativ einfachen gruppendynamischen Übungen gezeigt werden, wie kooperierende Individuen bessere intellektuelle Leistungen erreichen können, als die Individuen für sich. Das Ganze kann also auch hier durchaus mehr sein, als die Summe seiner Teilchen. Und dass Massenorganisationen wie Parteien und Gewerkschaften es umgekehrt erreichen können, dass die Fähigkeiten der einzelnen Individuen nicht zwangsläufig reduziert werden müssen, sondern sich auch entfalten können und dass solche Organisationen im weltweiten Klassenkampf entscheidend für die eigene Überlebensfähigkeit sind, fand bei ihm keine Berücksichtigung.

Vielmehr vermutete er menschheitsgeschichtlich betrachtet in Massen das Wirken unbewusst erhaltener Dispositionen aus der Urgeschichte, in der ein väterlicher Führer die anderen zur Bildung einer Masse zwang. In solchen Ausführungen projeziert er gewissermaßen seine aus besonderen Situationen gebildete Verallgemeinerungen auf die gesamte Menschheitsgeschichte, womit er bei einer universalisierten und anthropologisierten Fassung der von ihm erforschbaren subjektiven Strukturiertheit landet.

Erschrocken über solche Ausuferungen, grenzten die Freudomarxisten die Psychoanalyse wieder ein. Die Anwendung der psychoanalytischen Methode in der Soziologie und Politik führe zu Psychologismus und reaktionärer Soziologie. Mit der daraus resultierenden Rolle einer Art Hilfswissenschaft für die Analyse der politischen Ökonomie schien die Psychoanalyse für den Marxismus wieder verträglicher zu sein - aber zum Preis des Verzichts auf eine analytische Sozialpsychologie.

Diese dogmatische Selbstbeschränkung drohte wiederum, gerade die wesentlichen sozialwissenschaftlichen Positionierungen den konservativen und reaktionären PsychoanalytikerInnen zu überlassen.

Im Rahmen der Frankfurter Schule etwa wurde dann ein Modell entwickelt, das der absoluten Trennung der Methoden ein monistisches Menschenbild entgegenstellt. Nur aufgrund der historischen Besonderheit der aktuellen gesellschaftlichen Situation mit ihrem Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft ist demnach der Mensch von der Psychologie und Soziologie in jeweils einseitiger Weise theoretisch zu erfassen.

Aber mit Verweis auf die historisch bedingte Gegenüberstellung von Subjektivität und Objektivität auf die Früchte der von den unterschiedlichen Enden ansetzenden und in Konkurrenz stehenden Wissenschaften zu hoffen, ist letztlich nur eine theoretische Entsprechung des arbeitsteilig organisierten bürgerlichen Wissenschaftsbetriebes mit einem Plädoyer für eine Marktwirtschaft der Theorien.

Solche Konzeptionen beziehen sich zwar auf den Marxismus, aber von marxistischer Methodik ist darin jedenfalls wenig übriggeblieben. Und die Psychoanalyse wird dabei entweder methodisch zurechtgestutzt, oder dient als bloß inspirierendes Arsenal für theoretische Veranstaltungen.

Vorwärts: Zurück zu Freud!

Den Schlüssel zur Lösung dieser Problemstellung können wir bei Freud selbst finden. Indem dieser sich vom zu erforschenden Gegenstand zur Methode bringen ließ, damit spontan zur Dialektik und folglich zur Notwendigkeit des theoretischen Übergreifens fand, erkannte er die erforderliche Einbeziehung einer Forschung, die weit über die unmittelbare Psychologie hinausreicht.

Um hieraus eine dialektisch-materialistische Psychologie zu machen, ist es erstens erforderlich, durch einen Bezug der psychoanalytischen Forschung auf den philosophischen Materialismus die idealistischen Spekulationen zu überwinden.

Zweitens ist eine Bewusstmachung der Bedeutung des in der Psychoanalyse enthaltenen dialektischen Ansatzes nötig, der sich zunächst nur spontan ergab.

Und drittens ist allgemein eine Befreiung der Psychoanalyse von ihren bürgerlichen Scheuklappen nötig, die bereits Freud ein Verständnis gesellschaftlicher Zusammenhänge und Entwicklungen verwehrten.

Indem Freud über ein naturwissenschaftliches Selbstverständnis verfügte, allerdings über keine konsequent materialistische Weltanschauung, hinterließ er seine Wissenschaft in einer schwierigen Position.

Einerseits wird die Naturwissenschaft heute nämlich weniger als Wissenschaft der Natur, denn als Verwendung eines bestimmten methodischen Instrumentarium verstanden, das auch positivistisch genannt wird. Und von hier aus betrachtet stellt sich die Psychoanalyse als wehrlos dar gegenüber Einschätzungen ihrer Forschungen und Ergebnisse als ‚unwissenschaftlich’.

Andererseits eröffnete der inkonsequente Materialismus einen Siegeszug der im Rahmen der bürgerlichen Familiensituation entdeckten Tragödien als Paradigma für die gesamte Menschheitsgeschichte. Der tatsächliche Erkenntniswert dieser Spekulationen erfordert eine konsequente Befreiung von solchen idealistischen Interpretationen.

Bezüglich der Dialektik äußerte sich Freud selbst eher argwöhnisch. Allerdings erreicht er gerade hierzu seine großartigsten Leistungen. Er entdeckte nicht nur im Unbewussten ein ursprüngliches Reich der Dialektik, sondern er entwickelte allgemein durch seine Analysen der konkreten Wirkungsweise seiner Forschungsgegenstände eine Vielfalt dialektischer Konzeptionen.

So konnte er beispielsweise erklären, wie sich die persönliche Identität von Menschen aus gegensätzlichen Einheiten konstituiert und verdeutlichen, dass Widersprüchlichkeit keineswegs pathologisch sein muss, sondern das gesamte Leben durchzieht und bestimmt. Diese Ausarbeitung einer dialektisch konzipierten Wissenschaft machte er selbst jedoch nicht in bewusster Weise.

So hinterlässt Freud für den Marxismus nicht weniger, als die bisher nur in ersten Ansätzen gelungene Aneignung der Psychoanalyse. Für eine selbstzufriedene Zurückhaltung gegenüber Freud mit Verweis auf eine existierende ‚marxistische Psychologie’ gibt es kaum gute Gründe. Was hierbei nämlich in der Regel angeboten wird, sind verschiedene Versuche, aus Anmerkungen von Marx eine psychologische Theorie abzuleiten. Meistens können damit aber die zu erforschenden Erscheinungen lediglich anders beschrieben und bestenfalls neu interpretiert werden. Eine bessere Erklärung oder ein vertieftes Verständnis für das menschliche Erleben und Verhalten ergab sich daraus nur in bescheidenem Maße.

Und von der offiziellen Psychoanalyse gibt es nicht nur wenig Ambitionen zu einer marxistischen Orientierung, sondern auch eine allgemeinere Zurückhaltung gegenüber gesellschaftlichen Zusammenhängen und speziell in der Frage einer politischen Positionierung. Während Freud seine Theorien noch mit einem gegenstandsübergreifenden und kritischen Anspruch ausgestattet hat, wirken die meisten neueren psychoanalytischen Abhandlungen demgegenüber reichlich kastriert.

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Nr. 111, Juni 2006

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