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Streik im Öffentlichen Dienst

Ver.di am Scheideweg

Frederik Haber, Neue Internationale 108, März 2006

Nach drei Wochen Streik in Baden-Württemberg ist das Ergebnis noch offen. Klar ist aber inzwischen, wie tief ver.di in der Krise steckt, wie wenig einerseits die Führung zu einer Wende in der Lage ist, dass andererseits aber das Potential dafür nach wie vor vorhanden ist.

Der Streik steht unter einem medialen Dauerfeuer der Bürgermeister und Politiker, der Unternehmer und ihrer Medien. Von daher ist es eine hervorragende Leistung, in Kitas oder Klinken dem Vorwurf standzuhalten, dass hier auf Kosten der Kinder oder der Kranken gestreikt würde. Das zeigt auch, dass trotz der permanenten Agitation auch eine Grundstimmung in der Arbeiterklasse vorhanden ist, die mit dem Streik sympathisiert. Ohne diese Sympathie könnten Streiks in öffentlichen Einrichtungen keine zwei Tage durchhalten.

Dass ein großer Teil der Beschäftigten die Schnauze voll von Verzicht und den permanenten Angriffen auf Löhne und Gehälter, auf Arbeitsbedingungen und Arbeitsplätze hat, wurde überall deutlich. Wie bei den Streiks bei den Uni-Kliniken in Baden-Württemberg hat sich gezeigt, dass bisher gewerkschaftlich nicht Aktive oder Organisierte schnell gewonnen werden können, wenn es eine Kampfperspektive gibt.

Zugleich ist klar, dass Teile der Beschäftigten Angst haben, sich zu beteiligen, dass einige streikmüde geworden sind und dass auch Teile der Arbeiterklasse gegen den Streik sind. Das ist nicht nur ein Verdienst der bürgerlichen Medien-Offensive. Es ist v.a. auch das Verdienst der Spitzen von ver.di und davor der ÖTV.

Ungünstige Gefechtslage

Am 1. Oktober 05 war der Tarifvertrag Öffentlicher Dienst, TVöD, in Kraft getreten. Ausgehandelt hatte ver.di ihn schon vor einem Jahr. Dieser TVöD wurde den Mitgliedern der Gewerkschaft als Kompromiss verkauft, und es war einer der übelsten Sorte. Außer umfangreichen Verschlechterungen wurde die 38,5-Stunden-Woche von mehreren Seiten angreifbar gemacht:

jede Kommune kann bis zu 40 Stunden aushandeln;

sollten die Länder, die dem neuen Vertrag noch nicht beigetreten sind, mehr als 38,5 erhalten, würde dies auch für alle Kommunen gelten;

die Arbeit“geber“ bekamen das Recht, die Klausel zur Arbeitszeit sofort nach dem Inkrafttreten des TVöD zu kündigen - was sie denn letzten Herbst auch taten.

Die ver.di-Führung um Bsirske hat also ermöglicht, dass der jetzige Angriff so laufen kann. Dafür gibt es drei Erklärungen. Wenn sie gehofft haben, dass alles nicht so schlimm kommen würde, dann sind sie komplette politische Analphabeten. Oder sie hielten die Situation damals zum Kämpfen für schlechter als heute. Das Gegenteil hat sich herausgestellt:

Heute wird nur defensiv für die Verteidigung der 38,5 Stunden gekämpft. Damals hätten andere Verschlechterungen mit abgewehrt werden können. Das hätte mehr Mobilisierungsmöglichkeiten erlaubt. Gerade jene Teile der Arbeitenden, die heute kein Verständnis aufbringen, z.B. weil sie selbst viel länger arbeiten, könnten sich mit dem Widerstand, der sich gegen den Generalangriff auf Löhne, Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen richtet, viel leichter solidarisieren. Denn dann sind sie selbst betroffen.

Damals wäre es ein Kampf mit den Beschäftigten der Länder gewesen. Diese stehen heute ohne Tarifvertrag da, weil die Länder „frech“ genug waren, selbst Bsirskes faulen Braten abzulehnen. Es wird zwar jetzt auch bei den Ländern gestreikt, aber was passiert, wenn die Kommunen in Baden-Württemberg unterschrieben haben?

Die dritte Erklärung für Bsirskes Handeln ist offener Verrat. Vielleicht sollte Rot-Grün nicht gefährdet werden oder die "Modernisierung" des alten Tarifvertrags und der Arbeitsbedingungen der öffentlich Beschäftigten nicht gefährdet werden?

Modernisierung? Qualifizierung?

Auch heute argumentiert die ver.di-Spitze für einen "modernen Öffentlichen Dienst" und hofft, damit Verbündete in der Bevölkerung oder bei den PolitikerInnen zu gewinnen. Eine Kampagne mit diesem Leitmotiv hatte schon in den Neunzigern begonnen. Es war der Versuch der Bürokratie in der ÖTV, dem Druck auf die Beschäftigten und die Gewerkschaft nachzugeben, aber zugleich einen neuen Kompromiss mit Staat und Kapital zu finden. Differenzierung und Flexibilisierung bei Löhnen und Arbeitszeiten wurden akzeptiert, um eine gewisse Sicherheit der Arbeitsplätze zu erhalten.

Ein ähnliches Modell also, wie es die IG Metall bei den "Beschäftigungssicherungsverträgen" auf betrieblicher Ebene durchzieht oder auf gewerkschaftlicher Ebene mit der Kampagne "Gute Arbeit". Um "Gute Arbeits"-Bedingungen und Löhne zu sichern, setzt die IG Metall auf die Qualifikation der Beschäftigten. Das soll "hochwertige Arbeit" in Deutschland sichern. Die Gewerkschaft dient den Beschäftigten Hilfe bei der Qualifizierung an und beim individuellen Konkurrenzkampf. Sie bietet den Unternehmern eine "Rationalisierungspartnerschaft" (Huber) an, also die Unterstützung im weltweiten Konkurrenzkampf und beim Aufbau neuer Überkapazitäten.

Die ideologischen Finessen solcher "Strategien" erreichen die Mitglieder und oftmals schon die unteren Funktionärsschichten nicht wirklich - die Opfer, die dadurch erbracht werden, aber umso härter.

Bei der IG Metall sind ganz nebenbei die MontagearbeiterInnen in der Autoindustrie Opfer dieser Strategie geworden. Da ihre Arbeitplätze nicht sonderlich viel Qualifikation erfordern und durch neue Arbeitsteilung und -vereinfachung in der Produktion noch mehr Arbeitsinhalte verlieren, werden diese bei ERA, dem neuen Entgelt-Rahmen-Tarifvertrag brutal runtergestuft. Die durch hohe Kampfkraft erzielten Löhne sind - auch in den Augen der Betriebsräte - zum "Standortnachteil" geworden. Da ERA auch Belastungen durch Lärm, Schmutz und Monotonie am Arbeitsplatz schlechter bewertet als früher, sind die KollegInnen doppelt betroffen. Im Tarifgebiet Nordwürttemberg/Nordbaden sogar dreifach: Die "Tarifexperten" der IG Metall haben bei der Unterzeichnung von ERA den Kapitalisten zugestanden, dass die Erholzeiten für AkkordarbeiterInnen schon jetzt gekündigt werden können. Was diese auch prompt getan haben.

Auch im Öffentlichen Dienst haben sich die Arbeitsbedingungen enorm verschärft und die Arbeitsplätze sind zugleich unsicherer geworden. Kein Wunder: das Kapital nimmt gern die Angebote der Reformisten an. Aber ihre Vorstellung von Modernität heißt Privatisierung, Ausgliederung und Bolkestein.

Gegen die Ausgliederungen und Privatisierungen hatte die ÖTV nie nach einer Strategie gesucht, obwohl an vielen Orten die Beschäftigten in teilweise harte Kämpfe gingen. Das lässt sich auch damit erklären, dass bahnbrechende Modernisierer Sozialdemokraten waren, wie in Offenbach oder Berlin. Die führenden Köpfe der alten ÖTV haben sich übrigens meist selbst mit privatisiert und sind in führende Positionen der neuen Unternehmen aufgestiegen. Das Wort Verräter ist hier noch zu milde!

Das Ergebnis ist, dass Busse und Bahnen, Wasser und Energie heute fast nirgends mehr direkt bei den Kommunen sind. Die alten Kampfbetriebe fehlen, neue wurden nicht aufgebaut.

Streikperspektiven

Während dieser Artikel geschrieben wird, ist der Streik in einer kritischen Phase. Er könnte kalt beendet werden, er könnte noch heißer werden. In Stuttgart, dem Zentrum des Streiks, droht der Oberbürgermeister mit dem Einsatz von Streikbrechern bei der Abfallentsorgung. Ver.di-Stuttgart droht mit einer Ausweitung des Streiks für diesen Fall.

Wenn es dazu kommt, kann das den ganzen Konflikt entscheiden. Und dieses „letzte Gefecht“ wird zugleich ein Zeichen setzen. Wenn der OB durchkommt, wird auch die Müllabfuhr schrittweise privatisiert, so wie schon vielerorts. Wenn der Streikbruch verhindert werden kann, ist das ein Sieg gegen die Privatisierung und gegen den Einsatz von LeiharbeiterInnen und Hartz IV-EmpfängerInnen gegen die Belegschaften.

Um zu siegen, müssen Letztere gewonnen werden! Um sie zu gewinnen, muss gegen alles gekämpft werden, was die Gewerkschaften in den letzten Jahren selbst mit angerichtet und nicht konsequent bekämpft haben: Hartz IV und miese Tarifverträge für LeiharbeiterInnen, die man dann auch noch als erste „geopfert“ hat, wenn Entlassungen anstanden.

Nötig sind Streikposten-Ketten, die Streikbrecher-Firmen blockieren. Für Streikposten werden die KollegInnen aber mit Sicherheit Unterstützung von anderen Branchen brauchen. Es wird zu harten Auseinandersetzungen mit Streikbrechern und der Polizei kommen. Darauf müssen die Belegschaften vorbereitet werden! Aber von wem? Die Bürokraten haben Ehrfurcht vor der Staatsmacht und die Hosen voll.

Eine Wende ist möglich

Die Apparatschiks in den Gewerkschaften haben also viel dafür getan, dass heute ein wirklicher Sieg schwer ist. Die Politik der Führung hat ver.di in eine echte Existenzkrise getrieben.

Nachzugeben wäre genauso verheerend wie eine Niederlage. Der Mitgliederverlust von ver.di ist ohnehin alarmierend, auch die neuen Mitglieder wären sofort wieder weg. Es gäbe keine große Branche mehr, in der ver.di Kampffähigkeit in der Fläche hätte. Es könnten gerade noch betriebliche Konflikte behandelt werden. Mittelfristig droht das Ausfransen der Organisation: einzelne Belegschaften und Berufsgruppen werden ihr Heil in der Selbstständigkeit suchen, wie der Marburger Bund oder die Fluglotsen, andere vielleicht nach links einen Bereichssyndikalismus entwickeln.

Diese Katastrophe vor Augen gehen heute bestimmte Teile in ver.di in die Offensive. Gerade in Baden-Württemberg stehen die Landesvorsitzende Stamm, sowie die Stuttgarter Riexinger (Geschäftführer) und Böhm (Vorsitzender) für eine kämpferische Alternative. Bsirske selbst schwankt. Er hält morgens kämpferische Reden und signalisiert abends schlechte Kompromisse. Letztlich bekämpft Bsirske jene Teile der Gewerkschaft, die in die Offensive wollen. Gegen die breit getragene Forderung von betrieblichen FunktionärInnen in Stuttgart, jetzt Arbeitszeitverkürzung zu fordern, setzte er das Nein des Vorstands.

Der Streik zeigt somit auch die Grenzen der Linken im Apparat auf. Sie werden vom Vorstand an die Kandare genommen. In den einzelnen Betrieben unterstützen sie nicht die fortschrittlichen Minderheiten unterstützen, da sie die Betriebs- und Personalräte nicht verprellen dürfen oder wollen. So können sie keine Fraktion oder Strömung in der Gewerkschaft aufbauen. Aber genau das ist nötig!

Klassenkämpferische Basisbewegung!

Wir müssen davon ausgehen - und das tun auch Teile der Apparatlinken - dass wir einen Generalangriff des Kapitals auf alle sozialen und demokratischen Errungenschaften der Arbeiterklasse sowie auf ihre Organisationen erleben. Zweitens ist klar, dass die sozialdemokratische Führung der Gewerkschaften keinen Widerstand gegen diesen Generalangriff organisieren will oder kann. Als Reformisten sind sie immer für den Erhalt des Kapitalismus und des bürgerlichen Staates. Die Bedürfnisse des deutschen Kapitals haben für sie immer Vorrang.

Der Widerstand gegen den Generalangriff erfordert aber Organisation. Das erledigt sich nicht durch viele autonome Einzelaktionen oder durch die Vernetzung über das Internet. Dafür braucht es eine organisierte und in der betrieblichen Basis verankerte Struktur auf Grundlage eines Aktionsplanes, eines klassenkämpferischen Programms.

Wenn aber die Gewerkschaften von den Reformisten kontrolliert werden - sollte man dann nicht eine neue Gewerkschaft bilden? Das wäre dann richtig, wenn größere Teile der Klasse mit dem Reformismus gebrochen hätten. Heute sehen zwar Viele das Versagen der Führungen, aber sie versuchen auch, mit dieser Gewerkschaft sich zu verteidigen. Völlig zu Recht, denn dazu wurden sie aufgebaut. Doch gerade diese Verteidigung erfordert einen energischen Kampf gegen die reformistischen Führungen und ihre Konzepte, die der Gewerkschaft und den Interessen ihrer Mitglieder am meisten schaden!

Wir brauchen also eine organisierte Basisbewegung - aus zwei Gründen: Einmal, um uns gegen den Verrat der Sozialdemokraten zu organisieren und sie zu bekämpfen; andererseits, um uns selbst eine Struktur zu schaffen, um die Kämpfe, die es gibt, zu unterstützen, zu verbinden und zum Erfolg zu führen. So kann und muss sich in der Praxis zeigen, dass es auch anders geht! Nur so können wir die Mehrheit gewinnen und die Gewerkschaften zu Kampforganisationen machen.

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Nr. 108, März 2006

*  18. März: Gegen Besatzung, Ausbeutung und Krieg!
*  Iran/Irak: Im Fadenkreuz des Imperialismus
*  Hände weg vom Nahen Osten! Antimperialismus und Befreiungskampf
*  Zur Politik der PDS: Ankommen ist alles
*  Gesundheitswesen und Altenpflege: Klerikal und neoliberal
*  Rente mit 67: Alt und arm
*  Jugend und Hartz IV: Pension Mama statt eigene Wohnung
*  Heile Welt
*  Streik im Öffentlichen Dienst: Ver.di am Scheideweg