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Sozialforum in Erfurt:

Reformismus von unten oder Widerstand gegen den Generalangriff?

Martin Suchanek, Neue Internationale 103, August/September 2005

Rund 3.500 Menschen nahmen am 1. Sozialforum in Deutschland teil. Die Teilnehmerstruktur war stark von mittleren und unteren Gewerkschaftsfunktionären, von attac, von AnhängerInnen der PDS respektive der Linkspartei wie auch von VertreterInnen von Erwerbsloseninitiativen geprägt. Von den linken Organisationen waren neben PDS/WASG u.a. DKP, Linksruck, DIDF, arbeitermacht, REVOLUTION sowie Teile der autonomen und anarchistischen Szene mit eigenen Veranstaltungen präsent.

Die beherrschenden politischen Themen waren die EU-Verfassung, die Angriffe von Seiten der Kommission (Dienstleistungsrichtlinie, Arbeitszeitregelung, Militarisierung), Widerstand und Alternativen zur Agenda 2010 sowie die – offiziell nicht anwesende – Linkspartei.

Eine kurze politische Bilanz

Das Sozialforum in Erfurt spiegelte die allgemeine politische Entwicklung, die Krise der SPD einerseits, die Entwicklung des Widerstandes gegen Agenda 2010, der Montagsdemo und betrieblicher Abwehrkämpfe andererseits wider.

Diese hatten nach einer Phase des Aufschwungs im Herbst 2003 im letzten Jahr in einer Reihe von Teilniederlagen geendet. Gleichzeitig haben aber Wut und Frustration der Bevölkerung massiv zugenommen.

Das Bedürfnis nach einem politischen Ausweg wie auch die Erosion der SPD und der Bruch eines Teils der Gewerkschaftsbürokratie mit ihr versucht nun die Linkspartei zu füllen. Deren Spitzen versuchen, das in einen "neuen", in Wirklichkeit althergebrachten Reformismus zu kanalisieren.

Die großen Konferenzen mit hunderten TeilnehmerInnen, die Reden auf der Demonstration am 23. Juli wie auch die Abschlusserklärung waren inhaltlich durch diesen politischen Reformismus geprägt – wenn auch offiziell "unabhängig" von den politischen Parteien. Die PDS trat als "Rosa-Luxemburg-Stiftung" auf, die WASG in ähnlichen Verkleidungen.

Enttäuschend war die Teilnehmerzahl. Im Vorfeld war mit 5.000 bis 10.000 gerechnet worden. Tatsächlich waren wohl 2.000 bis 3.000 an den vier Tagen anwesend. Dies ist durch mehrere Faktoren bedingt:

1. Erfurt ist eine Stadt mit einem relativ kleinen Milieu, das in politischen in sozialen Konflikten aktiv ist. In Zentren wie Frankfurt, Berlin oder Köln wären schon allein durch die Menschen aus der Stadt oder der Region leicht mehr TeilnehmerInnen mobilisierbar gewesen.

2. In der Stadt und Region (wie überhaupt im Bundesgebiet) wurde im Vorfeld wenig mobilisiert. So unterstützten zwar große Gewerkschaften offiziell das Forum, ihre Führungen unterließen es jedoch, das Forum unter den Mitgliedern, in den Betrieben usw. bekannt zu machen, geschweige denn mit den eigenen Auseinandersetzungen zu verbinden. Daher waren aus den Gewerkschaften wohl eher die Funktionäre, denn die "einfachen" Mitglieder vertreten.

3. Das Motto des Forums und seine politische Stoßrichtung waren bewusst zahm und lahm gehalten. So ist es auch kein Wunder, dass unter den TeilnehmerInnen wenig Jugendliche und ImmigrantInnen vertreten waren.

4. Entscheidend war jedoch, dass das Erfurter Sozialforum bewusst nicht als Ausdruck und Ausgangspunkt einer Mobilisierung gegen den Generalangriff konzipiert war.

Wachsender Einfluss der Arbeiterbürokratie

In der Vorbereitung wie auch vor Ort war ein deutlich wachsender und zielgerichteter Einfluss der Arbeiterbürokratie – Teile des Gewerkschaftsapparates, der PDS-Führung, der WASG-Spitze – wie auch "verbündeter" NGOs wie attac sichtbar. Dies wurde noch durch VertreterInnen aus anderen europäischen Ländern, z.B. aus der französischen KP verstärkt.

Anders als in vergangenen Jahren, als sich dieser Einfluss v.a. dadurch bemerkbar machte, dass die BürokratInnen ehemaliger "kommunistischer" Parteien oder reformistischer Gewerkschaften sowie von attac Beschlüsse und politische Festlegungen verhindern wollten, versuchen sie nun, die Bewegung unter eine reformistische Doktrin zu stellen.

Beispiel EU-Verfassung

Als Ausgangspunkt dafür dient v.a. die Frage der EU und der "Alternativen", die dazu entwickelt werden sollen. Das Nein im französischen Referendum war nicht nur ein großer Erfolg - es war auf dem Boden großer Klassenkämpfe, von Massenstreiks und Demos erwachsen.

Statt jedoch an diesen Mobilisierungen anzuknüpfen und den Abwehrkampf zu entwickeln, soll die Bewegung auf das Geleise eines "alternativen", links-bürgerlichen Verfassungsentwurfes gelenkt werden.

Statt die Bewegung zu radikalisieren, wird für das europäische Sozialforum vorgeschlagen, Unterschriften für "Eckpunkte" einer alternativen Verfassung zu sammeln.

Diese Politik schlägt sich auch in den Forderungen der Abschlusserklärung nieder. Kapitalismus und Imperialismus kommen als Ursachen des gegenwärtigen Angriffs und als System, das es zu bekämpfen gilt, nicht vor. Stattdessen wird von einem "sozialen, demokratischen ..." Europa schwadroniert, das auf Grundlage derselben Klassenverhältnisse wie das bestehende "neo-liberale" Europa entstehen soll.

Dass es sich dabei keineswegs um eine bloße Unterstellung handelt, zeigen die Forderungen der Abschlusserklärung. So wird zwar zu Recht auf die Notwendigkeit verwiesen, Angriffe des Kapitals auf die Rechte von Betriebsräten abzuwehren. Aber es ist purer Hohn, den "Ausbau der Mitbestimmung" als eine substanzielle Ausweitung demokratischer Rechte zu begreifen.

Die "Mitbestimmung", wie sie im Betriebsverfassungsrecht geregelt ist, war und ist v.a. ein Instrument zur Befriedung der Lohnabhängigen, zur Einschränkung ihrer Kampfmöglichkeiten und zur Errichtung einer mächtigen "Vertreter"bürokratie gerade in den großen Konzernen und im Öffentlichen Dienst.

Hinter diesen Forderungen - und im Text finden sich noch viele ähnliche - steckt der Wunsch nach "Wiederherstellung" des sozialstaatlichen Klassenkompromisses der 70er Jahre, nicht eine wirklich andere Gesellschaft, die eben nur durch eine revolutionäre Umwälzung, nur als sozialistische Gesellschaft möglich wäre.

Eine solche Perspektive entspricht der Interessenslage der Bürokraten in den Gewerkschaften, der PDS oder der WASG; sie entspricht auch den Intellektuellen aus der Mittelschicht in attac und anderen NGOs.

Ihr Programm ist das der Klassenversöhnung, welches sie auch den Sozialforen, den sozialen Bewegungen überstülpen wollen.

Widerspruch von unten

Zur Bilanz des Sozialforums gehören jedoch nicht nur die reformistischen Vereinnahmungsversuche. An mehreren Stellen zeigten sich auch deutliche Risse in dieser "Einheit".

Am deutlichsten trat das auf der Abschlusskundgebung der Demo vom 23. Juli zutage. Der DGB-Vorsitzende von Thüringen plädierte - durchaus auf Linie mit dem DGB-Bundesvorstand und mit einigen SPDlerInnen - für die "Nachbesserung von Hartz IV". Unter lauten Sprechchören "Weg mit Hartz IV" ging der Rest seine Rede unter, während ein kleinerer Teil der DemonstratInnen die Losung "Nieder mit der Marktwirtschaft" anstimmte.

Ein anderer Konflikt brach am letzten Tag bei einer Podiumsdiskussion zur Zukunft der sozialen Bewegungen auf.

Die Forderung nach einem Aktionstag der sozialen Bewegungen am 5. September war dem "linken" Gewerkschafter Schmitthenner zu viel. "So" könne man nicht zusammenarbeiten, indem ständig (!) Forderungen an die Gewerkschaften gestellt würden.

Auch auf der abschließenden Versammlung der sozialen Bewegungen brachen noch einmal Konflikte auf, nachdem die Abschlusserklärung "per Akklamation" und ohne Diskussion durchgepeitscht werden sollte.

Auch wenn sich am reformistischen Papier nur noch wenig ändern ließ, so wurden durchweg radikalere Kritikpunkte an der Erklärung laut und einige der schlimmsten Formulierungen – so die ursprünglich enthaltene Forderung nach einer "Stärkung des internationalen Rechts" (in diesem Fall nach Intervention eines Genossen von arbeitermacht) – wurden aus der Erklärung genommen.

Der ganze Prozess der Erstellung der "Erklärung" ist (wie auch beim ESF und WSF) zutiefst undemokratisch und intransparent. Aus den AGen und Seminaren konnte schriftliche Änderungen an eine selbsternannte "Redaktionsgruppe" eingereicht werden, die einen "konsensfähigen" Vorschlag erarbeitete.

Unter "Konsens" wird hier ein imaginärer, kleinster gemeinsamer Nenner formuliert, der für Leute wie Schmitthenner akzeptabel ist, sie zu nichts verpflichtet und der dann "per Akklamation" von den sozialen Bewegungen abgenickt werden soll.

Zum Abschluss gab es auch noch eine kurze, nicht zu Ende geführte Auseinandersetzung um den Zeitpunkt und Ort des nächsten Sozialforums. Einige SprecherInnen schlugen richtigerweise vor, die Mobilisierung gegen den G8-Gipfel 2007 mit dem Sozialforum zu verbinden. Damit wäre eine sehr viel bessere Möglichkeit vorhanden, den Einfluss der Basis zu stärken und dem Forum eine aktive und koordinierende Funktion für weitere Kämpfe zu geben.

Bezeichnenderweise sprach sich eine der Hauptsprecherinnen der Vorbereitungsgruppe, Angela Klein, gegen diesen Verschlag aus, weil das den "Charakter des Forums" ändern würde. Richtig, genau das wollen wir!

Bewusstsein der Basis ...

Dass diese Manöver leider auch erfolgreich sind, liegt nicht an der "Dummheit" der Leute. Das Problem ist vielmehr, dass der Reformismus der Bürokratie auch unter der Masse eine ideologische Stütze findet, die spontan aus den gesellschaftlichen Verhältnissen erwächst.

Kapitalismus ist verallgemeinerte Warenproduktion. Da die Ausgebeuteten keine Sklaven oder Leibeigenen, sondern freie LohnarbeiterInnen sind, die ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen, entsteht auch bei den Unterdrückten spontan die Forderung nach "gerechter Verteilung", gerechtem Lohn, nach "gerechter" Teilhabe an der Gesellschaft.

... und reformistische Führung

Der Reformismus knüpft an diesem spontanen Bewusstsein an, indem er es zu einem politischen System, zu einem System bürgerlicher Arbeiterpolitik macht – zu einem System, das durchaus die Existenz unterschiedlicher Interessen, ja auch von Klassen und von Kampf anerkennt (oder anerkennen kann), dieses jedoch nur als Mittel zur Erzielung eines "Ausgleichs" zwischen Lohnarbeit und Kapital begreift. Im besten Fall verknüpft es dieses Ziel mit dem Versprechen einer allmählichen Überwindung des Systems.

In der Praxis geht der Reformismus notwendigerweise mit nationalstaatlicher Orientierung, mit der Privilegierung eines Teils des Lohnabhängigen - in der Regel der "traditionellen" gewerkschaftlichen Kernschichten der Klasse und der lohnabhängigen Mittelschichten - einher.

Gerade in Krisenperioden ist er damit verbunden, dass seine Versprechungen für immer größere Teile der Klasse - einschließlich vormals "Privilegierter" - ins Leere laufen müssen, denn die herrschende Klasse will und braucht in Zeiten verschärfter imperialistischer Konkurrenz eine grundlegende Steigerung der Ausbeutungsrate.

Dies bedeutet jedoch auch, dass die Bindekraft zwischen der reformistischen Bürokratie und den Massen geringer wird. Schließlich sind es die Lohnabhängigen, die unter den Bedingungen "vernünftiger", d.h. in Zeiten der Krise immer dürftiger werdender Kompromisse, weiter zu leben und zu arbeiten haben und nicht die Gewerkschaftsfunktionäre, die sich in Hartz-Kommissionen tummeln oder Betriebräte, die gerade eine weitere Öffnungsklausel ausgehandelt haben.

Daher kommt auch die Krise der SPD, daher auch der Zulauf zur Linkspartei. Aber wie verhält sich die "sozialistische" Linke dazu? Präsentiert sie in der Linkspartei, in den sozialen Bewegungen ein eigenes Programm gegen die keynesianische Mottenkiste der Gewerkschaftsbürokratie, Lafontaines oder Gysis?

Eben nicht! Die Stärke der Bürokraten speist sich auch daraus, dass die meisten Linken ihre Konzepte nachäffen, auf den offenen politischen Kampf gegen den Reformismus in der Sozialforumsbewegung verzichten.

Für revolutionäre KommunistInnen stellt sich hier eine doppelte Aufgabe. Einerseits gilt es, Forderungen, Vorschläge für einen gemeinsamen Abwehrkampf gegen den Generalangriff von Kapital und Staat zu formulieren, diese an die Basis wie auch an ihre aktuellen Führungen und Organisationen zu richten.

Andererseits müssen sie diese Politik mit dem Kampf für eine neue Arbeiterpartei verbinden, die bewusst nicht nur gegen die aktuellen Angriffe kämpft, sondern diese mit dem Kampf um die politische Macht, um den revolutionären Sturz des Kapitalismus verbindet.

In unserer Intervention im Sozialforum haben wir das mit Flugblättern (siehe Infomail 218 sowie www.arbeitermacht.de), mit Agitation in den Versammlungen und Foren sowie mit eigenen, gut besuchten Veranstaltungen zu den Themen "Zukunft der Sozialforumsbewegung: Raum oder Aktionszentrum des Widerstandes" und zu "Sozialstaatsnostalgie oder soziale Revolution?" gemacht.

Weitere Perspektive

Nun gilt es, diese Perspektive bei den Veranstaltungen und zentralen Aktionen, die auf der Versammlung der Sozialen Bewegungen beschlossen wurden, weiter zu vertreten:

beim dezentralen bundesweiten Aktionstag am 5. September: Soziale Bewegungen melden sich zum Wahlkampf zu Wort!

auf der Aktions- und Strategiekonferenz der sozialen Bewegungen am 19./20. November 2005.

bei der Mobilisierung zum europäischen Aktionstag für ein soziales Europa am 15. Dezember 2005 in Brüssel sowie in der Kampagne gegen die EU-Verfassung und die Proteste gegen die EU-Richtlinien zu Dienstleistung, Arbeitszeit und Militarisierung.

bei den bundesweiten globalisierungskritischen Aktionstagen im Zusammenhang mit der Fußball-Weltmeisterschaft im Sommer 2006: Gegen Überwachungswahn, gegen die ausbeuterische Produktionsweise von Nike und Co. sowie gegen Rassismus.

in der Kampagne gegen die Politik der G 8 anlässlich ihres Gipfels im Juli 2007 in Heiligendamm. Ein erstes bundesweites Vernetzungstreffen dazu wird vom 7.-9. Oktober in Hamburg stattfinden.

Das nächste Sozialforum in Deutschland soll 2007 stattfinden. Die Mobilisierung gegen den G8-Gipfel bietet eine gute Chance, das nächste Sozialforum mit dem Kampf gegen Imperialismus und Kapitalismus zu verbinden, die Teilnehmerzahl deutlich zu erhöhen und Diskussionen und Konferenzen aktionsorientiert zu halten und politisch zu fokussieren.

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Nr. 103, Aug./Sept. 2005


*  Gemeinsam gegen den Generalangriff: Linkspartei wählen, Widerstand organisieren!
*  Aktionsprogramm: Vom Abwehrkampf zur sozialen Revolution!
*  Wahlkampf 2005 und die Linke: Mitschwimmen und absaufen
*  SPD, DGB, Linkspartei und Mindestlohn: Wer bietet weniger?
*  VW-Skandal: Boulevard und Billiglohn
*  Frauen und Polen: Kirche, Küche, Kinder
*  AFL-CIO-Spaltung: "Kings of Labor" entzweit
*  Hugo Chavez: Der neueste Prophet
*  Heile Welt
*  Sozialforum in Erfurt: Reformismus von unten oder Widerstand gegen den Generalangriff?