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Revolutionäre Situation

Bolivien in Aufruhr

Dave Ellis, Neue Internationale 102, Juli/August 2005

Bolivien steckt mitten in einer Revolution. Zum zweiten Mal in 18 Monaten sind die herrschenden Parteien in Aufruhr. Präsident Carlos Mesa trat am 6.Juni 2005 zurück - nach monatelangen Massenprotesten, Massenstreiks und Straßenblockaden, welche die Hauptstadt La Paz und die Nachbarstadt El Alto vom Rest des Landes abgeschnitten hatten.

Die Bewegung fordert die Wiederverstaatlichung von Boliviens Gasvorkommen und der Exportindustrie. Die Gasindustrie war auf Weisung der Weltbank in den späten 90er Jahren privatisiert worden. Die Bevölkerung war empört darüber, dass sich ein spanischer Großkonzern an den wertvollsten Reichtümern des Landes bereichert, während die bolivianischen Massen weiterhin in Armut dahindarben.

Das Herz der Protestbewegung schlägt in El Alto, einer Millionenstadt in der Nähe von La Paz. Diese Stadt führte schon 2003 den Kampf gegen die Privatisierung der Wasservorräte und jagte die französischen Großkonzerne und den für diese Schweinereien verantwortlichen Präsidenten davon. Seitdem ist El Alto praktisch in den Händen von Bevölkerungsversammlungen und des Bundes der Nachbarschaftsausschüsse (Fejuve).

Im Mai erging von El Alto ein Aufruf für einen unbefristeten Generalstreik zur Wiederverstaatlichung. Der bolivianische Gewerkschaftsdachverband COB unterstützte diese  Forderung. Der Streik breitete sich im Nu in ganz Bolivien aus und erfasste Bergleute, LehrerInnen und TransportarbeiterInnen.

Anfang Juni erschütterten Streiks und Blockaden die Hauptstadt und den Großteil des Landes. Der Präsident musste seinen Rücktritt einreichen. Der Kongress (Parlament) traf sich im entlegenen Sucre, um einen Nachfolger zu wählen, der die Lage entspannen konnte. Der Favorit des rechten Kongressflügels war Senatssprecher Hormando Vaca Diez, ein reicher Großagrarier aus Santa Cruz. Aber die Wahl Vacas war für die ArbeiterInnen und Bauern nicht hinnehmbar: er musste klein beigeben.

Santa Cruz ist der Hauptlandesteil, wo die wertvollen Gaslagerstätten gefunden wurden. Die örtliche herrschende Elite hat größere Unabhängigkeit gefordert, in der Hoffnung, dass sie ein vom Geschehen im übrigen Bolivien abgekoppeltes Geschäft mit den Imperialisten und den Energie-Großunternehmen machen könnten.

Die herrschende Klasse versucht, ihren Wohlstand und ihre Macht weiter durch den Verkauf der natürlichen Vorräte des Landes an den europäischen und nordamerikanischen Imperialismus zu sichern. Sie würde eher das Land zerstören, als auf ihren Profit und das Wohlwollen ihrer fremden Herren zu verzichten.

Anstelle von Vaca wählte der Kongress Eduardo Rodriguez zum neuen Präsidenten. Er hatte den Vorsitz beim obersten Gericht und stand scheinbar über der Parteipolitik. Er ist ein Übergangspräsident, der die Revolution auf den Straßen beenden und Neuwahlen anberaumen soll. Wie sein Vorgänger sagte er, er wolle die Verstaatlichung der Gasindustrie ‚überdenken’. Er hat zur nationalen Einheit aufgerufen und zu einem Waffenstillstand. Alle Arbeiter- und Bauernorganisationen sollen den Generalstreik und die Straßenblockaden aufheben.

Das muss verhindert werden! Als Mesa nach den Unruhen vom Oktober 2003 die Präsidentschaft übernahm, riefen die Führer der COB und der Bauernföderation CSUTCB eine 90tägige Aktionspause aus. Sie verhandelten mit Mesa und demobilisierten den Generalstreik und die Blockaden. Das war ein schlimmer Fehler und ein klarer Verrat an der Basis der Bewegung!

Mesa wartete ab, bis die revolutionäre Bewegung abgeebbt war, und machte dann deutlich, dass er gar nicht daran dachte, die Gasindustrie zu verstaatlichen.

Präsident Rodriguez wird genauso handeln, Zeit schinden und hoffen, dass die Bewegung demobilisiert wird. Dann würde er sich weigern, den Forderungen des bolivianischen Volkes nachzugeben.

Bedauerlicherweise hat die größte Linkspartei, die Bewegung für Sozialismus (MAS) von Evo Morales bereits zur Beendigung der Proteste und Streiks aufgefordert. Morales hat die Forderungen nach Verstaatlichung nicht unterstützt, sondern nur höhere Steuern für die Gasförderung gefordert, musste aber den militanteren Generalstreikaktivisten immerhin einige Zugeständnisse machen.

Kurz nach Rodriguez Ernennung erklärte Morales: "Man muss verstehen, dass er der neue Präsident ist und die Bereitschaft unsere Forderungen anzuhören zum Ausdruck gebracht hat. Seine Wahl mildert die Spannungen, und wir werden einen Waffenstillstand annehmen". Er bat die anderen Arbeiter- und Bauernorganisationen, ebenfalls still zu halten. Teile der MAS haben nun begonnen, ihre Straßenblockaden abzubauen. Die Bewegung flutet zurück.

Das ist ein Riesenschritt rückwarts! Zweifelsohne macht sich Morales Hoffnungen als aussichtsreichster Kandidat für die Präsidentschaftswahlen. Bei den letzten Wahlen errang er mit 30% der Stimmen den 2.Platz. Die MAS will vom Massenkampf ablenken und ihre reformistische Spitze an die Regierung hieven. Dann wird sie ihre vorgeblichen Ziele aufgeben und selbst die kämpferischsten Teile der ArbeiterInnen und Bauern angreifen.

Glücklicherweise lassen sich viele AktivistInnen nicht so einfach blenden. Die Hauptorganisatoren des Generalstreiks, COB und Fejuve, gaben dem neuen Präsidenten 72 Stunden Zeit, um die Gas- und Kohlensäureindustrie zu verstaatlichen. Der Führer von Fejuve, Abel Mamani, erklärte: " Egal wer Präsident ist, wir werden weiter kämpfen. Wir haben nicht den Rücktritt von Ex-Präsident Mesa gefordert, wir wollen Verstaatlichung. Es gibt keinen Waffenstillstand."

Das ist ein gutes Zeichen. Die ArbeiterInnen erörtern nicht nur, wie der Kampf für die Verstaatlichung zu führen ist; sie erkennen auch, dass sie die Macht übernehmen müssen, um ihre Forderungen durchzusetzen.

Wie kann die Revolution siegen?

Das Zentrum der Revolution ist El Alto. Dort haben sich die ArbeiterInnen und BewohnerInnen der Elendsviertel hinter Fejuve zusammen geschlossen. Wohnbezirke, Gewerkschaften, LehrerInnen, Arbeiterversammlungen, Kleingewerbetreibende - alle haben Abordnungen zu Fejuve zwecks Organisierung entsandt.

Die Fejuve ähnelt einem Sowjet, den Arbeiterräten, die in Russland in der Revolution von 1917 die Macht eroberten. Zu Beginn der Auseinandersetzung war die Fejuve die Drehscheibe des Kampfes. Jetzt muss sie sich in ein Organ der Doppelmacht und des Aufstandes verwandeln!

Die beginnende Machtteilung in Bolivien wurde in der Juni-Krise offenbar. Als der Generalstreik zu wirken begann, kam Sand ins Getriebe des Landes. Das alte Macht- und Verwaltungsgefüge war blockiert. Aber die Gesellschaft kann nicht auf Dauer unbeweglich sein.

Nahrung muss beschafft werden. Die Wasserversorgung muss in Gang gehalten werden, die Menschen brauchen Strom und Brennstoff. In dieser Lage musste die Fejuve die Funktion der Regierung von El Alto ausüben. Sie hat die Verteilung von Nahrung und Vorräten in der Stadt übernommen. Die ArbeiterInnen kontrollierten die Versorgungseinrichtungen und sorgten dafür, dass der Nachschub die ärmeren Gegenden und nicht die reicheren erreicht. Der Generalstreik hat gezeigt, dass das Land ohne ArbeiterInnen und Bauern nicht funktionstüchtig ist.

Die nun anstehende Aufgabe dieser Machtorgane ist die Formierung eines Alternativregimes, einer revolutionären Arbeiterregierung mit Unterstützung ihrer Bundesgenossen, den revolutionären Bauern und der städtischen Armut. Das heißt Bewaffung der Massen und Gewinnung der Mannschaftsgrade der Armee.

Das heißt: Ergreifung der Macht und Beseitigung des verrotteten Kongresses und des Präsidentenamtes!

Das bolivianische Volk hat die Chance, dem raubgierigen Imperialismus einen Schlag zu versetzen, der durch seine Privatisierungs- und Neoliberalismuspolitik Lateinamerika und andere Erdteile ausplündert und ihrer Reichtümer beraubt. Die bolivianische Revolution kann zum Leuchtfeuer für die unterdrückten Massen nicht nur in Lateinamerika, sondern überall auf der Erde werden.

Die jetzige revolutionäre Krise in Bolivien wird über kurz oder lang gelöst werden: entweder zu Gunsten der Bosse oder zu Gunsten der Massen. Dazu brauchen letztgenannte eine Führung, die den notwendigen Formierungsprozess zur Machteroberung organisiert. Eine revolutionäre Arbeiterpartei muss unverzüglich aufgebaut werden!

Im Oktober 2003 haben die Führer des COB behauptet, sie hätten die Macht nicht ergreifen können, weil es keine revolutionäre Partei gegeben habe. Das war eine dürftige Ausrede, die heute noch unpassender ist, zumal diese Führer 18 Monate Zeit hatten, die Arbeiterklasse für diese Aufgabe zu organisieren. In Wahrheit schauen sie sich nach ganz anderen Kräften zur Lösung der Krise des Landes um.

Einer ihrer Spitzenvertreter Jaime Solares meinte Anfang Juni, er hoffe, dass eine Regierung, angeführt von ‚patriotischen und ehrlichen Militäroffizieren’, Mesa ersetzen würde.

Eine Partei von zehntausenden der aktivsten Militanten können Millionen mitreißen, wenn sie klare Ziele für die unmittelbarsten Aufgaben haben: Aufbau von Räten oder räteähnlichen Organe, Machtübernahme, Bewaffnung und Ausbildung der Massenorganisationen im Widerstand gegen die Armeegenerale, Übernahme der Fabriken und Bergwerke unter Kontrolle der Arbeiter und Enteignung der Kapitalisten.

Vor allem muss die Revolution international ausgeweitet werden. Die Widerstandsachsen müssen mit Peru, Ecuador, Argentinien und anderswo verbunden werden. Unterstützung muss von der populären Bewegung in Venezuela und von der internationalen Arbeiterklasse angefordert werden.

 

Erstes erweitertes Treffen der landesweiten Volksversammlung

Die internationalen Ölkonzernen, der nordamerikanische Imperialismus und die verräterischen Herrscher des bolivianischen Staates haben die gesamte Nation in eine tiefe politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise gestürzt. Das Land steht am Rande des völligen Zusammenbruchs. Die empörten Massen in El Alto und im ganzen Land müssen eine wichtige Rolle übernehmen, das Land durch eine Regierung des Volkes zu retten, die von unten gewählt ist und wirklich Rechenschaft ablegt.

Deshalb fasst das 1.erweiterte Treffen der landesweiten eingeborenen Volksversammlung folgende Beschlüsse:

1.) El Alto soll allgemeines Hauptquartier der bolivianischen Revolution im 21.Jahrhundert sein

2) Formierung einer vereinten Führung der eingeborenen landesweiten Volksversammlung als Machtinstrument an der Spitze des Bundes der Nachbarschaftsausschüsse von El Alto (Fejuve), der regionalen Arbeiterunion von El Alto (COR), des bolivianischen Arbeiterbunds (COB), des vereinigten Gewerkschaftszusammenschlusses der Landarbeiter Boliviens (CSUTCB), des Gewerkschaftszusammenschlusses der handwerklichen Arbeiter, Kleingewerbetreibende Boliviens, des Gewerkschaftszusammenschlusses der Bergarbeiter Boliviens, des interprovinziellen Transportverbandes von La Paz und anderer mobiilsierter Organisationen im Landesinnern.

3) Aufbau von Versorgung, Selbstverteidigung, Presse und politischen Ausschüssen, deren Ziel die Sicherung des Erfolges der organisierten Volksformationen ist.

4) Wir bestätigen erneut, dass unser Kampf für die Verstaatlichung und Industrialisierung der Kohlensäure-Industrie nicht verhandelbar ist.

5) Organisierung der Bildung von Volksversammlungen in jedem Bezirk unter Führung des COB, dem Bezirks-Arbeiterbund und der Abordnungen, gewählt durch unmittelbare Abstimmung auf Massenversammlungen und Cabildos.

6) Zurückweisung aller Manöver seitens der herrschenden Klasse, sei es durch verfassungsmäßige Nachfolgeregel oder Wahlen der selben alten Politiker.

El Alto, 8.6.2005

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Nr. 102, Juli/August 2005


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