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Erdogan erklärt sich zum Sieger

Der Kampf gegen die reaktionäre Verfassung geht weiter

Svenja Spunck, Infomail 939, 18. April 2017

Es war ein knappes Rennen zwischen dem Evet (Ja)- und dem Hayir (Nein)-Lager in der Türkei am Abend des 16. April. Die ersten Ergebnisse wurden in Deutschland kurz nach 18 Uhr veröffentlicht, laut derer die AKP und Erdogan mit 63 Prozent weit vorne lagen. Wie in einem zähen Todeskampf verloren sie ein Prozent nach dem anderen über die nächsten Stunden hinweg, doch kurz vor elf Uhr setzte der Puls des Evet-Lagers leider nicht aus, sondern Erdogan trat vor die Kameras und verkündete einen „historischen Sieg“, als er gerade noch mit 51,3 Prozent in Führung lag.

Dieser Sieg ist in der Tat historisch, und zwar historisch schlecht für die AKP. Die drei größten westlichen Städte der Türkei, Istanbul, Ankara und Izmir, hatten alle gegen die Verfassungsänderung gestimmt, obwohl die AKP Istanbul und Ankara mehr als zehn Jahre lang unter ihrer Kontrolle hatte. Weitere große Niederlagen fuhr sie in den kurdischen Gebieten und im Südwesten der Türkei ein, wo teilweise über 70 Prozent gegen sie stimmten. Offiziell hatten die AKP, MHP und kleinere rechte Parteien für das Evet Propaganda betrieben, erhielten zusammengerechnet jedoch weniger Prozente als bei den letzten Wahlen im November 2015. Obwohl das natürlich noch nicht bedeutet, dass sich diese verlorenen WählerInnen nun gänzlich gegen die AKP oder MHP wenden, drückt es zumindest eine Schwächung der Unterstützung für Erdogans Kurs aus. Den meisten Rückhalt hat er nach wie vor auf dem Land im Zentrum der Türkei sowie am Schwarzen Meer.

Dass es bei diesem Referendum nicht nur mit rechten Dingen zugehen würde, war von Anfang an klar. Internationale WahlbeobachterInnen wurde der Zugang zu den Wahlorten verwehrt, neben den Kabinen standen BürgermeisterInnen, die Wählende zur offenen Wahl zwangen und ihnen mit Entlassung drohten, Männer wählten für ihre Frauen, manche Männer wählten gleich fünf Mal und zwei potentielle Nein-Wähler wurden von einem politischen Gegner kurzerhand erschossen, als ein Streit vor dem Wahllokal ausbrach.

Viele der Evet-WählerInnen fotografierten ihre Stimmzettel neben Schusswaffen und Springmessern, um noch einmal zu verdeutlichen, was hochrangige AKP-Politiker in den letzten Wochen bereits ankündigten: Wenn das Evet gewinnt, dann wird die Opposition kaltgemacht. Als besonders großer Skandal mag die Tatsache erscheinen, dass mehrere Zehntausend Wahlzettel, die nicht von der Hohen Wahlkommission gestempelt waren, nach der Öffnung der Urnen kurzerhand als zulässig erklärt wurden. Dies und die sich dauerhaft widersprechenden Angaben darüber, wie viele Stimmen bereits ausgezählt seien, veranlasste die Oppositionsparteien CHP und HDP dazu, eine Neuauszählung beantragen zu wollen. Das gleiche Verfahren gab es jedoch auch schon bei den letzten Wahlen, als während des Wahltages festgestellt wurde, dass einige Stempel fehlten, und auch damals wurden die Stimmen mitgezählt.

Reaktion

Natürlich ist es legitim, eine Neuauszählung zu fordern, und es ist wichtig, dass sämtlicher Wahlbetrug aufgedeckt wird. Doch der eigentliche Betrug liegt nicht in ungestempelten Papieren, sondern in der Politik der AKP. Viele Prozente, die eigentlich an das Hayir-Lager gegangen wären, sind gestorben mit den Menschen, die in den letzten Jahren im blutigen Bürgerkrieg ermordet wurden. Andere trauten sich gar nicht erst, wählen zu gehen, aus Angst entweder den Pass abgenommen zu bekommen oder verhaftet zu werden. Der HDP wurde im Fernsehen keine Minute eingeräumt, um für ihre Kampagne zu werben, aber Erdogan lief rund um die Uhr an allen Wochentagen auf allen Kanälen rauf und runter. JournalistInnen wurden verhaftet oder außer Landes getrieben und fürchten sich selbst dort vor den Schergen des Regimes. Über zehntausend AkademikerInnen und LehrerInnen wurde ihre Existenzgrundlage genommen und damit auch ein wichtiger Teil der politischen Diskussion aus der Öffentlichkeit verbannt. All diese Menschen hätten unter anderen Bedingungen mit Sicherheit ein anderes Ergebnis erzielt, jedoch ist Angst in jedem politischen Kampf ein effektives Mittel.

Die Nein-Kampagne der kemalistischen CHP wurde halbherzig geführt, obwohl sie die größte Oppositionspartei ist. Der Grund dafür ist sicherlich auch hier die Furcht, dass, sich zu weit aus dem Fenster zu lehnen, bedeutet hätte, ebenso wie die HDP-Abgeordneten hinter Gittern zu landen. In der Tat hat sie mit dieser lauwarmen Suppe jedoch der AKP in die Hände gespielt, denn wie die CHP aus ihrer eigenen Geschichte weiß, ist eine kontrollierbare Opposition immer nützlich, um diejenigen KritikerInnen verstummen zu lassen, die einen als Diktator und Demokratiefeind bezeichnen. Darum blieb die Arbeit an der sowieso schon stark geschwächten und dennoch mutig weiterkämpfenden Basis der HDP hängen, deren vor allem junge Mitglieder täglich Flugblätter für die Nein-Kampagne verteilten und reihenweise dafür verhaftet wurden. Es sieht wohl so aus, als würde die Hälfte der türkischen Bevölkerung terroristisch veranlagt sein, wenn man der Hetze der Regierung Glauben schenkt. Darin liegt natürlich auch ein hohes Potential.

Obwohl das rechte Lager insgesamt geschwächt ist, wurde das Referendum dennoch gewonnen und dass sich dies durch Neuauszählungen noch einmal ändern wird, ist sehr unwahrscheinlich. Bereits einen Tag später wurde der Ausnahmezustand bis zum Juli verlängert und wird dann seinen ersten Geburtstag feiern. Erdogan wird keine Zeit verlieren, die Verfassung so schnell wie möglich zu verändern, und sich die absolute Macht sichern. Bürokratischer Formalismus wird ihn dabei nicht aufhalten können. Stattdessen geht es darum, die Basisbewegung, die durch die Nein-Kampagne entstanden ist, zu verfestigen. In vielen Stadtteilen gab es wöchentliche Diskussionsveranstaltungen und Aufklärungskampagnen, die weitergeführt werden müssen. Dort müssen die politischen Perspektiven besprochen werden und es sollten sich alle linken Parteien, Organisationen, Gewerkschaften oder auch von staatlicher Repression betroffene Individuen daran beteiligen. Auf keinen Fall darf die Gefahr der paramilitärischen AKP-Einheiten unterschätzt werden, die sich in den letzten Monaten gebildet haben, um die Opposition vollends zu zerschlagen. Selbstverteidigungsstrukturen müssen organisiert werden, bevor die ersten schweren Angriffe erfolgen. Diese müssen in Verbindung stehen mit dem Kampf für die  Rückgewinnung der politischen Rechte. Das müsste die Annullierung des Referendums, die sofortige Freilassung aller inhaftierten HDP-PolitikerInnen und linken AktivistInnen, AnwältInnen, die Aufhebung des Ausnahmezustandes, die Aufhebung des PKK-Verbotes und die Wiedereinstellung zehntausender willkürlich Entlassener sowie die Beendigung des Krieges gegen die kurdische Bevölkerung und den Abzug der Armee und Polizei aus den kurdischen Gebieten beinhalten. Allen Menschen, die mit einem Ausreiseverbot belegt wurden, muss die Freizügigkeit wieder gestattet werden, ebenso wie von Europa weiterhin die Visumsfreiheit für türkische StaatsbürgerInnen und offene Grenzen für alle, die vor dem Regime fliehen, gefordert werden muss ebenso wie die Streichung der PKK und ihr nahestehender Organisationen von den Terrorlisten der EU-Länder.

Erste internationale Reaktionen

Der Sieg Erdogans wird, wie die Verlängerung des Ausnahmezustandes und seine Drohungen gegen die Protestdemonstrationen in vielen Teilen des Landes wieder einmal beweisen, mit weiterer Repression und sogar deren Verschärfung einhergehen. Ein Referendum über die Todesstrafe ist bekanntlich schon angekündigt.

Doch es wird sicher keine „Stabilität“ ins Land bringen. Dazu ist nicht nur die wirtschaftliche Lage zu unsicher. Auch die Konflikte mit der EU drohen sich zuzuspitzen. Die extreme Rechte dort verkleidet rassistische Hetze gegen MigrantInnen und Muslime als „Kritik an Erdogan“ und spielt sich als Verteidigerin der demokratischen Rechte in der Türkei auf, die sie selbst lieber heute als morgen vollends zu Hause aushebeln will. Die „demokratischen“ Politiker aus dem konservativen, grünen, sozialdemokratischen oder „linken“ Lager drohen der Türkei mit dem Ende oder „Einfrieren“ der Beitrittsverhandlungen mit der EU – wollen andererseits aber „natürlich“ die „wirtschaftlichen Beziehungen“ und die Zusammenarbeit in der rassistischen Abschottung der Union fortsetzen.

Angesichts dieser Heuchelei hofft Putin auf eine Vertiefung der Zusammenarbeit mit Ankara. Vor allem aber ergreift Trump zumindest verbal Erdogans Partei. „Demokratische“ Verhaltensmuster sind einem Präsidenten, der selbst nach der vollständigen persönlichen Macht und der Beseitigung lästiger Hindernisse strebt, fremd. Er gratuliert einfach – und lotet aus, ob und wie die Türkei wieder zu einem verlässlichen US-Verbündeten wird.

Die Lage in der Türkei wird sich daher nicht nur aus inneren politischen und ökonomischen Gründen, sondern auch aufgrund der zunehmenden globalen Konkurrenz verschärfen.

Widerstand

Es ist deutlich geworden, dass die türkische Linke im Kampf gegen die Diktatur Solidarität braucht. Gegen diesen Sieg Erdogans, der ein weiterer Ausdruck des internationalen Vormarsches reaktionärer Kräfte ist, kann nur eine internationale Bewegung etwas ausrichten. Es muss in der Türkei, in Europa und weltweit eine Bewegung aufgebaut werden, die aus den unterdrückten Teilen der Bevölkerung erwächst, die sich nicht auf illusionäre Hoffnungen auf die EU oder den CHP-geführten Teil der türkischen Bourgeoisie stützt. Eine solche Bewegung muss sowohl demokratische Forderungen erheben, sich gegen jede imperialistische Unterstützung Erdogans wenden und diesen Kampf mit dem Kampf gegen die sozialen Angriffe der AKP-Regierung verbinden. Damit verbunden ist der Kampf für den Aufbau einer revolutionären ArbeiterInnenpartei in der Türkei – einer Partei, die nicht nur gegen die zunehmende Diktatur Erdogans, sondern auch gegen das kapitalistische System kämpft, das sie hervorbringt. Die Frage, die sich in diesen Tagen in der Türkei sowie an vielen weiteren Orten auf der Welt stellt, ist nach wie vor „Sozialismus oder Barbarei?“

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