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Schadenersatzklage der Atomstromkonzerne vor dem Bundesverfassungsgericht

Trostpflaster für die Atomlobby

Jürgen Roth, Infomail 919, 12. Dezember 2016

Die Atomrechtsnovelle von 2011 sei im Wesentlichen mit dem Grundgesetz vereinbar, urteilte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe am 6. Dezember 2016. In den Nikolausschuh der Stromkonzerne RWE und Vattenfall legte es nichtsdestotrotz eine Praline: in Randbereichen gab es dabei Defizite, der Gesetzgeber müsse bis Mitte 2018 eine Neuregelung beschließen.

Kommentare

BeobachterInnen rechnen damit, dass die zwei o. a. Konzerne eine „angemessene Entschädigung“ für nicht nutzbare Reststrommengen erhalten werden. BUND-Vorsitzender Hubert Weiger frohlockt, dass der Atomenergieausstieg nicht in Frage gestellt und die Klage der Konzerne auf Entschädigung in Milliardenhöhe abgewiesen worden sei. Jochen Stay, Sprecher der Anti-Atom-Organisation „ausgestrahlt“ sieht als Konsequenz des Urteils sogar, „alle noch laufenden Atomkraftwerke jetzt schon abzuschalten und nicht erst 2022.“ ND-Kommentator Kurt Stenger erblickt im Karlsruher Richterspruch eine „positive Botschaft (…), dass all jene, die jegliches staatliches Eingreifen ins Privateigentum als verfassungswidrig oder zumindest als entschädigungspflichtige Enteignung ansehen, völlig daneben liegen. Sozialpflichtigkeit von Eigentum und das Gemeinwohlinteresse wiegen höher. (…) Und dies zeigt, wie gefährlich es wäre, wenn private Schiedsgerichte, wie im Handelsabkommen TTIP vorgesehen, noch mehr Einfluss gewönnen.“ (Neues Deutschland, 7.12.2016)

Fakten und Hintergründe

Bei so viel Frohsinn über die Rechtsprechung des BVerfG lohnt ein Blick auf deren tatsächliche Bedeutung. Hier spielen gleich 3 Atomrechtsnovellen eine Rolle: 2002 hatte die damalige Bundesregierung aus SPD und Grünen unter Bundesumweltminister Trittin den „Atomausstieg“ beschlossen, gewährte aber den AKW-Betreibern eine Reststrommenge, nach deren Verbrauch die Atommeiler abgeschaltet werden konnten. Diese war so großzügig bemessen, dass die Reaktoren weit länger in Betrieb bleiben durften, als es ihrer betriebswirtschaftlichen Abschreibung entsprach. Zudem durften die Energiekonzerne „ihr“ Strombudget nach Belieben unter ihre Betriebsstätten aufteilen, so dass im Fall der endgültigen Stilllegung von Anlagen, die längst abgeschrieben waren und eh abgeschaltet worden wären, deren Reststrommenge auf neuere, rentable Kraftwerke übertragen werden konnte. Ende 2010 beschloss die Bundesregierung unter FDP und Christenunion zusätzliche Reststrommengen, die auf eine Laufzeitverlängerung um rund 12 Jahre hinausliefen. Nach der Katastrophe von Fukushima im Jahre 2011 verfügte dieselbe Regierung die sofortige Schließung von 8 Anlagen, für die anderen 9 wurden erstmals feste Endtermine beschlossen. 2022 soll der letzte Meiler vom Netz gehen.

Für die gegenüber der 2. Atomrechtsnovelle von 2010 wegfallenden Strommengen forderten die Energiekonzerne nun eine Entschädigung in Höhe von 19 Milliarden Euro. Karlsruhe entschied, dass die Rücknahme der Zusatzmengen von 2010 mittels der 3. Novelle von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums gedeckt sei. Trotzdem hätte der Bund als Gesetzgeber einen „Ausgleich“ für den Fall regeln müssen, dass die Betreiber im Vertrauen auf längere Laufzeiten Investitionen getätigt haben. Dies muss nun bis Sommer übernächsten Jahres in einer 4. Novelle beschlossen werden. ExpertInnen rechnen hier mit geringen Entschädigungssummen.

Für die Reststrommengen aus der 1. Novelle von 2002 sieht der BVerfG-Senat darüber hinaus einen „Vertrauensschutz“ als gerechtfertigt an. Zwei der vier Großkonzerne in Deutschland, RWE und Vattenfall, werden ihre Mengen im Unterschied zu ihren Konkurrenten E.on und EnBW bis zum Ende der jetzt gültigen Laufzeiten nicht ausschöpfen können. Ihnen steht dafür eine Entschädigung zu: in Form von Geld oder einer Laufzeitverlängerung für einzelne Reaktorblöcke der beiden Betreiber. Das Lob von Medien, Umweltschutzorganisationen und Bürgerinitiativen für die Entscheidung der „roten Roben“ ist genauso fehl am Platz, wie es die Bezeichnung Atomausstieg für das Gesetz von 2002 war.

Weitere laufende Gerichtsverfahren

Unmittelbar nach der Tsunami-Havarie von Fukushima mussten 8 überwiegend ältere AKW zur Gefahrenabwehr (noch vor dem endgültigen Beschluss) schon mal für 3 Monate vom Netz gehen. Die Betreiber klagen vor Zivilgerichten auf Schadenersatz. Das Verfahren mit RWE ist noch anhängig, EnBW und E.on gingen in 1. Instanz leer aus. Sie hätten sich gleich gegen das Moratorium wehren müssen, statt nachträglich Forderungen zu stellen.

Gegen den Atomausstieg der 3. Novelle von 2011 streitet der schwedische Staatskonzern Vattenfall, einer der „Großen Vier“, vor dem bei der Weltbank angesiedelten Schiedsgericht zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (ICSID) – TTIP lässt grüßen! Es geht um 4,7 Milliarden Euro. Im Oktober wurde 10 Tage lang verhandelt, eine Entscheidung ist nicht vor Mitte 2017 zu erwarten.

Seit der Laufzeitverlängerung 2010 müssen die AKW-Konzerne eine Brennelementesteuer auf erstmals im Reaktorkern eingesetzte Brennstäbe zahlen. E.on und RWE halten das für verfassungswidrig. Der Europäische Gerichtshof (EGH) hat grünes Licht für die Steuer gegeben, das Finanzgericht Hamburg hat diese Frage allerdings dem BVerfG vorgelegt.

Nach dem Neustart bei der Endlagersuche dürfen keine Castorbehälter mehr in Gorleben eingelagert werden, obwohl das dortige Zwischenlager genehmigt ist und von der Elektrizitätserzeugungsbranche bezahlt wurde. Die Konzerne wehren sich vor Gericht dagegen, ersatzweise die Abklingbecken an ihren Kraftwerksstandorten teuer nachrüsten zu sollen. Im Unterschied zu den vorgenannten Beispielen, wo es den Konzernen nur ums Geld geht, handelt es sich hier wohl in der Tat um eine fragwürdige, wahrscheinlich gefährlichere Alternative als die Zwischenlagerung unter Tage in Gorleben.

Atomenergie: unsicher und teuer

In den 1950er und 1960er Jahren wurde die deutsche Energiewirtschaft vom Staat in die Atomkraft gedrängt. Die Bundesregierung wollte den Anschluss an die neue Technologie nicht verpassen und sich die Option auf eigene Kernwaffen offenhalten. Betriebswirtschaftlich rentabel erschien Atomstrom nur aufgrund bisheriger Staatssubventionen von 200 Mrd. Euro, die sich bis zum endgültigen Ausstieg auf 300 Mrd. erhöhen könnten. Angesichts der engen Kooperation mit dem über ein Atombombenarsenal verfügenden Frankreich stellt sich die Frage nach BRD-Kernwaffen vorerst nicht wieder. Dies zum wirtschaftlichen Hintergrund der sog. Energiewende.

In der Studie „Staatliche Förderungen der Atomenergie“ stellte das Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft (FÖS) 2010 fest, dass Atomkraft in Deutschland zwischen 1950 und 2010 mit insgesamt 203,7 Mrd. Euro bezuschusst wurde. Das entspricht einer Subventionierung von 4,3 Cent pro Kilowattstunde Atomstrom. Das Forum berücksichtigte auch die Kosten von Steuervergünstigungen, Stilllegungen, für Forschung, Mitgliedschaft in internationalen Organisationen (z. B. Euratom) sowie die Sanierung der Uranbergbaugebiete im Erzgebirge. Greenpeace schätzt, dass die Kilowattsunde um weitere 2,7 Cent teurer wäre, wenn für Atomkraftwerke die gleichen Haftungsregeln wie in anderen Wirtschaftsbereichen gelten würden. FinanzmathematikerInnen rechnen mit jährlich bis zu 72 Mrd. Euro pro AKW. Greenpeace schätzt weitere Kosten für die Öffentlichkeit auf ca. 100 Mrd. ein: die maroden Atommülllager Asse und Morsleben müssen saniert, Schacht Konrad und ein Endlager für hochradioaktiven Müll gebaut werden.

Da kommt der Wegfall der wahrscheinlich Ende 2016 auslaufenden Kernbrennstoffsteuer (siehe oben), die auf jeden Fall aber nicht bis 2022 erhoben werden soll, den AKW-Betreibergesellschaften gerade recht. Bis 2022 sparen sie so zwischen 5 und 6 Mrd. Euro, genau den Betrag, den sie als Risikoaufschlag in den sog. Atommüllfonds einzahlen sollen, damit dieser bzw. die Allgemeinheit die Kostenrisiken der Zwischen- und Endlagerung des Atommülls übernimmt.

Für einen organisierten, schnellstmöglichen Ausstieg aus der Atomkraft

Angesichts der Unzulänglichkeiten und Risiken der gegenwärtigen Atomstromtechnik fordern wir genau wie bei der Verbrennung der fossilen Energieträger Kohle und Öl den schnellstmöglichen und organisierten Ausstieg. Dazu müssen die Stromkonzerne entschädigungslos enteignet, verstaatlicht und unter ArbeiterInnenkontrolle gestellt werden. Es muss ein Programm öffentlicher Arbeit und Forschung, finanziert durch Unternehmensprofite, aufgelegt werden, das einen gesamtgesellschaftlichen Plan zur rationellen Energieerzeugung und –ersparnis erstellt und umsetzt.

Forschung in erneuerbare Energien soll v. a. die Speicher- und Netzbelastungsproblematik lösen, die aufgrund unstetiger Produktion bei Wind- und Solarkraft, die ja tages- und jahreszeitlich schwankende Mengen liefern, auftritt. Dies ist aber kein Widerspruch zur Erprobung und Entwicklung neuer Technologien von Atomstrom (Fusionskraftwerke bzw. Kernspaltung mit Abfällen niedriger Radioaktivität).

Am dringlichsten ist aber hier das Problem der Lagerung. Hier gilt es nicht nur, sicherere Lagerstätten zu erkundigen, sondern auch Methoden zur Umwandlung des gefährlichen Mülls in minder-, idealer Weise ungiftigen zu fördern. Erst ein gesamtgesellschaftlicher Besitz an den großen Produktionsmitteln ermöglicht eine Integration aller Bereiche der Primärenergiegewinnung bzw. -verlustvermeidung: Strom, Wärme, Verkehr, Industrie, Bau. Wir können uns nicht beschränken auf den Stromenergiesektor, nicht auf markwirtschaftliche Flickschusterei wie die sogenannte Energiewende.

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