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Pakistan

Regierung will Flüchtlinge vertreiben

Azad Hazeem, Infomail 908, 6. Oktober 2016

Wenn die internationalen Medien von „der Flüchtlingskrise“ sprechen, meinen sie im allgemeinen die Situation in Europa und ignorieren die Not von Millionen Menschen, die in einem riesigen Bereich vom Atlantik bis zum Himalaya auf der Flucht sind. In Afghanistan beispielsweise haben Jahrzehnte von imperialistischen Bombardements und Invasionen, gefolgt von Bürgerkrieg, einen Großteil der Bevölkerung aus ihrer Heimat vertrieben. Nun soll sich ihre Lage sogar noch durch die Handlungen der pakistanischen Regierung verschlimmern.

Pakistans Premierminister Nawaz Sharif plant die zwangsweise Deportation von 3 Millionen AfghanInnen über die „Durand-Linie“, die 1893 von den britischen Kolonialherren als Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan festgelegt worden ist.

Seit dem sowjetischen Einmarsch von 1979 sind viele AfghanInnen, insbesondere die PaschtunInnen, deren Heimatgebiet sich beiderseits der Grenze erstreckt, nach Pakistan geflohen. Mittlerweile leben sie teils schon in zweiter oder gar dritter Generation dort und genießen gemäß der pakistanischen Verfassung volle BürgerInnenrechte. Obgleich der pakistanische Staat und die herrschende Klasse die Flüchtlinge nicht daran hindern, sich im Land niederzulassen, so bleibt ihnen doch verwehrt, ein fester Bestandteil der Gesellschaft zu werden; die meisten von ihnen fristen ihr Dasein als unterdrückte und ausgebeutete Schicht.

In jüngerer Vergangenheit wurden wiederholt Drohungen ausgestoßen, die AfghanInnen zurückzuschicken, und es hat bereits Ausweisungen in kleiner Zahl gegeben. Das Massaker im Dezember 2014 an einer Armeeschule in Peschawar durch den pakistanischen Teil der Taliban, Tehrik-i-Taliban, bei dem 144 Todesopfer zu beklagen waren, lieferte dann den Vorwand für ein viel härteres Vorgehen gegen die afghanischen Flüchtlinge durch den pakistanischen Staat.

Kurz darauf mobilisierte die Armee 30.000 Soldaten zum Einsatz in den Provinzen Khyber Pakhtunkhwa, Teilen von Belutschistan und den vom Bundesstaat verwalteten Stammesgebieten. Ihr erklärtes Ziel war die Säuberung von „terroristischen Zellen“, hatte jedoch die Vertreibung von einer Millionen Menschen als praktische Auswirkung. Die Armee schloss dann die Grenzen, um Neuankömmlinge am Grenzübertritt zu hindern, und im Juni 2015 erteilte die Regierung keine Visa mehr für AfghanInnen. In diesem Jahr erklärte sie, dass alle Leute afghanischer Herkunft, anfänglich sogar innerhalb von 6 Monaten, nach Afghanistan zurückkehren sollten.

Das imperialistische Erbe

1979 lief die Geschichte anders, als sowjetische Panzer in Afghanistan einrollten. Damals hieß Pakistans Militärdikator Zia-ul-Haq die Flüchtlinge willkommen und stärkte damit seine Stellung durch die Betonung der Solidarität mit den moslemischen Glaubensgeschwistern. In Wahrheit konnte Pakistan seine 2400 km lange Grenze zu Afghanistan gar nicht abriegeln, aber ul-Haqs Haltung war eher von geopolitischen Erwägungen als von humanitären Gefühlen beseelt.

Ihn trieb die reale Aussicht an, die Flüchtlinge für antisowjetische und antiindische Politik benutzen zu können. Aus Angst vor einem sowjetfreundlichen Afghanistan und einem zugleich feindlichen Indien rechnete er damit, dass die Offenhaltung der Grenzen den Mudschahedin im Bündnis mit den USA Unterstützung sichern würde. Gleichzeitig erhielt der pakistanische Geheimdienst ISI (Inter-Services Intelligence) Erfahrung beim Aufbau von islamistischen Organisationen.

Als die Taliban den Krieg gewannen, glaubte die herrschende Klasse Pakistans, dass sie mit ihrer strategischen Lehre einer „Tiefenwirkung“ gegenüber Indien Erfolg gehabt hätte, d. h. Afghanistan im Status einer inoffiziellen „fünften Provinz“ Pakistans zu halten. Doch zu ihrem Leidwesen erweisen sich große imperialistische Mächte nicht gerade als dankbare oder ergebene Freunde. Diese Lehre musste die pakistanische Elite nach der US-Invasion in Afghanistan 2001 einstecken, als die USA der pakistanischen Regierung klar machten, dass, wenn sie die imperialistischen Truppen nicht unterstützen würde, diese das Land ebenfalls „in die Steinzeit zurückbomben“ würden.

Früher hatte das pakistanische Militär die Nachschublinien der Mudschahedin auf Geheiß der USA gesichert. Nun jedoch mussten sie dasselbe für die NATO-Truppen bei der Bekämpfung der Taliban tun. Ende der 70er Jahre hatten sie islamistische Kräfte direkt mit eigener reaktionärer geostrategischer Zielsetzung aufgebaut. Zwei Jahrzehnte später stärkte ihre Außenpolitik diese Kräfte indirekt. Die Islamisten konnten die Führung im Kampf gegen Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Kriege übernehmen, weil der pakistanische Staat zuallererst alles zur Vernichtung der ArbeiterInnen- und linken Opposition getan hatte und dies ironischerweise sehr oft unter Zuhilfenahme von islamistischen und terroristischen Organisationen.

Dies zeigt nicht nur die Verbindungen zwischen Imperialismus, der herrschenden Klasse Pakistans und ihren politischen Agenten auf ziviler und militärischer Ebene und der Erscheinung des Islamismus. Es zeigt auch die reaktionären Konsequenzen von Pakistans innen- und außenpolitischen Wendungen. Das ist bedeutsam, weil die meisten Liberalen und auch viele innerhalb der Linken dies zu vergessen scheinen, was die heutigen Aktionen im „Krieg gegen den Terror“ durch den pakistanischen Staat anbelangt.

Teile und herrsche

Natürlich ist es eine Triebfeder von Sharifs Politik, die Bevölkerung gespalten zu halten, um besser über alle Teile herrschen zu können. Obzwar die afghanischen Flüchtlinge sich nicht voll integrieren konnten und nur zu 20 % Arbeit finden konnten, hat eine Minderheit Kleingewerbe aufgebaut, besonders in der Teppichbranche. Jetzt zwingt die Androhung der Deportation viele zum Verkauf ihrer Habe zu Schleuderpreisen, was andere pakistanische kleine Geschäftsleute zu leichten Schnäppchen verhilft.

Nicht nur Sharif und die Regierungspartei geben den Flüchtlingen die Schuld für die erschreckende Wirtschaftslage, der Pakistans ArbeiterInnenklasse und BäuerInnen ausgesetzt sind. Von Nur Alam Khan (Pakistanische Volkspartei) ist der Ausspruch verbürgt: „Sie sind länger als vorgesehen geblieben, haben sich überall verstreut und uns unsere Jobs weggenommen.“

Sharifs Front gegen die Flüchtlinge hat beileibe nicht nur innenpolitische Gründe, sondern ist im größeren internationalen Rahmen zu verstehen. Für Pakistans herrschende Klasse stellt die Möglichkeit verbesserter Beziehungen zwischen Afghanistan, Indien und den USA eine Gefahr für ihre eigenen Ziele dar. Die Destabilisierung Afghanistans durch die zwangsweise Rückführung von 3 Millionen Flüchtlingen wäre ein Weg zur „Neutralisierung“ dieser Bedrohung.

Wichtiger noch wäre der Ausbau von Pakistans Verhältnis zu China und besonders des Wirtschaftskorridors beider Länder CPEC, ein 46 Milliarden-Dollar-Projekt zum Bau von Autobahnen und Eisenbahnverbindungen zwischen dem von chinesischer Seite errichteten und betriebenen Tiefseehafen Gwadar am arabischen Meer und Zentralchina. Jene Verbindungsrouten queren Belutschistan und das Khyber Pakhtunkhwa-Gebiet, wo sich die meisten Flüchtlinge niedergelassen haben. Die Rechtfertigung von Militäroperationen in jenen Provinzen als Teil des „Kriegs gegen den Terror“ ist ein bequemes Mäntelchen, unter dem sich jeglicher Widerstand von regionalen Nationalisten unterdrücken lässt.

Katastrophe

Viele Nichtregierungsorganisationen haben vor einer größeren humanitären Krise gewarnt, falls die Deportationen weitergehen. Es wird bereits von Tausenden berichtet, die entlang der Wege zur Grenze in Lagern leben müssen, schutzlos der gnadenlosen Sonnenbestrahlung ausgesetzt, und ohne Zugang zu Nahrung und Wasser. Jenseits der Grenze hat die afghanische Regierung zwar versprochen, 48 neue Städte zur Aufnahme der RückkehrerInnen zu bauen, aber das wird zweifelsfrei niemals Wirklichkeit werden. Wie könnte dies auch geschehen, wenn sich das Land immer noch im Würgegriff des Krieges befindet und die Taliban ihren Vormarsch fortsetzen?

Trotz dieser verzweifelten Lage regt sich nur wenig Protest in Pakistan. Sharif scheint mit seiner Politik durchzukommen, zumindest bisher, indem er nicht nur die Flüchtlinge einschüchtert, sondern auch jede ernsthafte Opposition aus der pakistanischen Gesellschaft unterdrückt. Es ist deswegen unwahrscheinlich, dass die Regierung von der Durchführung dieser reaktionären Deportationen abgehalten werden kann. Aber selbst wenn die Linke und RevolutionärInnen keinen bedeutenden Einfluss auf die Taten der Regierung haben können, ist es dennoch ihre Pflicht, ihre Stimme dagegen zu erheben und sich zum Anwalt der Unterdrückten in ganz Pakistan zu machen.

Leider scheint die bei weitem größte aller linken pakistanischen Organisationen zusammen genommen, die Awami Arbeiterpartei, diese Pflicht völlig vergessen zu haben und v. a. ebenso die AfghanInnen selber. Man findet keinen Artikel dazu in einer ihrer Veröffentlichungen, obwohl die ganze pakistanische Gesellschaft darüber spricht.

RevolutionärInnen müssen deshalb Verantwortung übernehmen und gegen die Zwangsabschiebungen, die Regierung und die Medienhetze gegen die Flüchtlinge auftreten. Zusammen mit der Entlarvung von Sharifs krasser „Teile und Herrsche“-Taktik müssen wir für ein positives Programm zur Mobilisierung aller ArbeiterInnen und BäuerInnen Pakistans ungeachtet ihrer Nationalität oder Herkunft werben, müssen Wohnung, Bildung, Gesundheitsfürsorge und Beschäftigung für alle fordern und dies auf Kosten der Reichen und ihrer internationalen Unterstützer. Das ist eine Aufgabe, die die AnhängerInnen der Liga für die 5. Internationale in Pakistan mit Stolz übernehmen.

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Nr. 213, Oktober 2016

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