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Ausnahmezustand in der Türkei

Nein zum „zivilen Putsch“!

Svenja Spunck, Infomail 895, 26. Juli 2016

Während des Putschversuches am Freitag, dem 15. Juli 2016, wurde das Militär erfolgreich zurückgeschlagen und die Übernahme der Staatsmacht verhindert. Seitdem ist jedoch eine Verschiebung der Machtverhältnisse deutlich zu beobachten, bei der der Staatspräsident Erdogan die Staatsmacht in seinen Händen konzentriert.

Noch als der Putsch selbst im Gang war, wurde der islamische Prediger Fethullah Gülen beschuldigt, diesen mit seiner angeblichen parallelen Staatsstruktur organisiert zu haben. Beweise oder sich öffentlich als Gülen-Anhänger äußernde Putschisten gibt es jedoch nicht. Dennoch laufen seit einer Woche sogenannte Säuberungen im Militär, im öffentlichen Dienst, an den Universitäten und unter JournalistInnen. Weit über zehntausend Menschen wurden in den letzten Tagen festgenommen – und die Zahl steigt weiter an. Lt. Regierungsangaben wurden 45 Prozent aller höheren Offiziere verhaftet.

Über zehntausend Menschen wurden bisher suspendiert, darunter die Dekane aller Universitäten, von denen einige gleich ganz geschlossen wurden. Richter, die eher dem nationalistischen Spektrum angehören und hin und wieder nach geltendem Recht statt dem Wunsch der AKP urteilten, wurden entlassen. Darunter befindet sich auch eine große Zahl von jenen, die Menschen freigesprochen hatten, die wegen der Gezi-Park-Proteste festgenommen wurden. Auch die Gewerkschaften der Gülen-Bewegung, Ufuk Saglik Sendikasi, wurden aufgelöst, obwohl sie kaum Einfluss haben. Die linkeren Gewerkschaft wie DISK, die v. a. im Metallsektor verankert ist, oder KESK (öffentlicher Dienst) hingegen blieben bisher weitgehend verschont.

Ausnahmezustand

Außerdem wurde ein dreimonatiger Ausnahmezustand ausgerufen, der es Erdogan ermöglicht, so zu regieren, wie er es unter der bisherigen Verfassung, legal betrachtet, noch nicht durfte. Sämtliche Versammlungen können aufgelöst, landesweite Ausgangssperren angeordnet, Zeitungen, Zeitschriften und Bücher können verboten werden, jede Person kann zu jedem Zeitpunkt durchsucht werden und die Dauer der Untersuchungshaft wird auf 30 Tage verlängert, eventuell um die Heilung von Folterspuren abzudecken. Für all dies braucht es keine richterlichen Beschlüsse mehr, die Gewaltenteilung ist also weiter eingeschränkt.

Erstaunlich ist deshalb, dass die AKP und die Polizei in der letzten Woche nicht nur aktiv zur Teilnahme an Demonstrationen aufriefen– darunter auch zur Teilnahme an der Kundgebung der größten Oppositionspartei CHP am vergangenen Sonntag –, sondern sogar den öffentlichen Nahverkehr in Istanbul für jeden kostenlos anboten. In der Linken gab es darum Debatten, inwiefern man sich an dieser Kundgebung beteiligen solle, da man sich von ihr ein Statement gegen den Putsch, aber auch gegen eine Präsidialdiktatur Erdogans erhofft. Sogar die Forderung, den HDP-Vorsitzenden Demirtas dort sprechen zu lassen, klang an.

Die Kundgebung am Taksim-Platz wurde allerdings zu einer lahmen CHP-Manifestation, bei der der „Oppositionsführer“ Kemal Kiliçdaroglu zwar den Putsch verurteilte, jedoch Erdogans Griff nach der eigenen politischen Macht kaum angriff. Es ist kein Wunder, dass zu dieser Demonstration nicht nur die AnhängerInnen der nationalistischen Opposition, sondern auch viele AKPlerInnen erschienen. Das spiegelt wohl eine Taktik Erdogans wieder, die faschistische MHP wie auch die nationalistische CHP, die hier oft irrtümlich als „sozialdemokratisch“ charakterisiert wird, durch eine Mischung aus Drohung und Einbindung ruhigzustellen. So soll es ein „Spitzentreffen“ mit diesen Oppositionsparteien zur „Staatsreform“ geben – während gleichzeitig die AKP den Staatsapparat gemäß ihren Machtinteressen säubert und umbaut.

Die Genehmigung für die „Lieblingsopposition“, die sich sowieso in den letzten Monaten nie maßgeblich einem Projekt der AKP in den Weg stellte, wirkt also wie eine Inszenierung der Demokratie, mit der auch westlichen Partner ruhiggestellt werden sollen.

Selbst wenn bisher im Rahmen des Ausnahmezustandes nicht in erster Linie linke und sozialistische Gruppen angegriffen werden sollten, so werden dennoch die Grundlagen dafür gelegt, sie nach dessen Beendigung durch den gesäuberten Staatsapparat mit jahrelangen Haftstrafen zu verurteilen oder schlimmer, die Todesstrafe, zum Beispiel für Vaterlandsverräter, wieder zu vollstrecken. Nicht nur der Ausnahmezustand schürt das Klima der permanenten Bedrohung für politische AktivistInnen, sondern vor allem die radikale AKP-Anhängerschaft, die auf die Straßen mobilisiert wurde und die fälschlicherweise in den AKP-kontrollierten Medien als „das Volk“ dargestellt wird, bietet das Potential für harte Auseinandersetzungen.

Schon jetzt greifen sie Stadtviertel an, in denen hauptsächlich Minderheiten wie AlevitInnen angesiedelt sind, die sich nun Tag und Nacht dagegen verteidigen müssen. Diese islamistischen Trupps arbeiten Hand in Hand mit der AKP-treuen Polizei und es besteht die Gefahr, dass diese Erfahrung in der Praxis demnächst auch gegen Mobilisierungen der Arbeiterklasse und der SozialistInnen genutzt wird. Erdogan nutzt geschickt den Begriff der Demokratie, die von vielen Seiten gefordert wird, für sich aus, denn seine Partei ist durch eine Mehrheit an die Regierung gekommen, was für ihn bedeutet, dass diese auch auf der Straße verteidigt werden muss.

In der Nacht des Putsches haben sich alle sozialistischen Organisationen und Parteien geschlossen gegen den Staatsstreich ausgesprochen, jedoch haben nicht alle die richtige Forderung aufgestellt, dass ein Kampf dagegen einhergehen muss mit dem gegen den Versuch Erdogans, diesen für seinen eigenen Putsch, der Errichtung eines halb-diktatorischen Regimes zu nutzen. Was wir nun in der Türkei beobachten, wird dort als „ziviler Putsch“ beschrieben, ein Prozess, der schon vor dem 15. Juli einsetzte. Erdogan war bis dato nicht in der Lage, durch eine Mehrheit im Parlament oder ein Referendum in der Bevölkerung die Verfassung zur ändern und das Präsidialsystem einzuführen, das ihn an der Spitze vorsieht.

Da nun aber die Rhetorik der permanenten inneren und äußeren Bedrohung wieder greift und die Verteidigung des Vaterlandes die allerhöchste Priorität ist, wären wieder mehr Menschen dazu bereit, für diese Stabilität auch eine Diktatur zu akzeptieren. Auch wenn sich die CHP in der Vergangenheit gegen dieses Präsidialsystem positionierte, so hat sie dennoch der Aufhebung der Immunität der HDP-Abgeordneten zugestimmt und somit den Weg für dieses System geebnet. Eine Opposition muss jedoch den Worten klare Taten folgen lassen und darf sich nicht vor der AKP selbst erniedrigen.

Die Politik der CHP zeigt einmal mehr, dass auf diese bürgerliche Oppositionspartei kein Verlass ist. Sie vertritt letztlich die Interessen eines Minderheitsflügels der herrschenden Klasse, der der türkische Kapitalismus und sein Staat jedoch allemal näherstehen als die Menschen, die in diesem System leben müssen.

Welche Politik?

Die HDP hat seit dem Krieg in Kurdistan leider auch einen Teil ihrer Basis und UnterstützerInnen verloren und ist auch jetzt kaum in der Lage, außerhalb der kurdischen Gebiete erfolgreich die Massen zu mobilisieren. Am vergangenen Samstagabend hatte die HDP zu einer Kundgebung in Istanbul aufgerufen, zu der mehrere Tausend AnhängerInnen erschienen, wo sowohl gegen den Putschversuch wie gegen die repressive Politik Erdogans protestiert wurde.

Das zeigt zwar, dass legale Mobilisierungen möglich sind. Es zeigt aber auch, dass gegen den Versuchs Erdogans, den Putsch für die Etablierung seines eigenen, diktatorischen Regimes zu nutzen, notwendig ist, ein Aktionsbündnis, eine Einheitsfront zu schaffen.

Diese sollte alle Organisationen der ArbeiterInnenklasse, der national Unterdrückten, der sozialistischen und demokratischen Organisationen umfassen, insbesondere natürlich die HDP, aber auch die Gewerkschaften DISK und KESK.

Eine solche Front müsste sich in erster Linie um grundlegende demokratische Forderungen gruppieren: Aufhebung des Ausnahmezustandes, Wiederherstellung aller demokratischen Rechte (Versammlungsrecht, Demonstrationsrechte), die Aufhebung aller Ein- und Ausreisebeschränkungen, Aufhebung aller Suspendierungen im öffentlichen Dienst, Freilassung der zahlreichen Festgenommen, sofortige Beendigung des Krieges gegen das kurdische Volk, Rückzug von Armee und Polizei aus den kurdischen Gebieten.

Die Aburteilung der Beteiligung am Putsch kann nicht dem Regime und der AKP überlassen werden. Ohne Pressefreiheit, ohne demokratische Rechte für die Opposition kann dies nur eine Farce sein, die Form von mehr oder minder „rechtsstaatlichen“ Schauprozessen annehmen. Die sozialistischen und demokratischen Oppositionskräfte müssen daher selbst die Veröffentlichung aller Kommunikation, alle angeblicher Verstrickung der Gülen-Bewegung in den Putsch fordern, um öffentlich die Verantwortlichkeit für den Putsch, aber auch den Gegenputsch von Erdogan zu untersuchen.

Eine Einheitsfront gegen den Ausnahmezustand müsste aber neben demokratischen Forderungen auch unmittelbar dazu beitragen, die Selbstverteidigung der ArbeiterInnenorganisationen und unterdrückten Minderheiten im Land zu organisieren – sowohl gegen Übergriffe des Staatsapparates wie auch gegen den reaktionären Mob.

Schließlich müssen RevolutionärInnen aber auch für die Schaffung einer neuen ArbeiterInnenpartei argumentieren, die eine politische Alternativen zur immer festeren AKP-Herrschaft bildet, die den Kampf für unmittelbare und grundlegende demokratische Forderungen (wie z. B. der Forderung nach einer Konstituierenden Versammlung) mit dem Kampf für die sozialistische Revolution verbindet.

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Nr. 211, Juli/Aug. 2016

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*  Kampf gegen Rassismus: Welche Taktik brauchen wir?
*  Kampf der Frauenunterdrückung: Weg mit § 218 und § 219!
*  Mahle-Konzern: Vor der Kapitulation?
*  Brexit 2016: Kein Grund zur Freude
*  Für eine internationale europäische Konferenz: Widerstand - europaweit!
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*  23. - 28. August Sommerschulung: Revolutionärer Marxismus/REVOLUTION-Camp
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