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Wie weiter im Widerstand gegen S 21?

Die Entwicklung der Bewegung und die Frage des Staates

Arbeitermacht-Broschüre, Januar 2011

In diesem Abschnitt wollen und können wir keine detaillierte und umfassende Geschichte der gesamten Bewegung und aller Aktionen liefern. Aber wir wollen uns auf Wendepunkte der Bewegung konzentrieren, weil sie entscheidende Fragen - insbesondere die Frage der Staatsmacht immer wieder aufwarf.

Die Gewalt vom 30. September

Am 30. September ließen Mappus und Rech den Schlosspark mit Tränengas, Wasserwerfern und Schlagstöcken brutal räumen. 400 bis 600 GegnerInnen, darunter viele SchülerInnen und RentnerInnen wurden verletzt, darunter viele schwer. Ein Protestierender verlor das Augenlicht.

Ein Teil des Schlossparks ist jetzt polizeilich besetzt. Die Bauarbeiten für S 21 finden dort hinter Zaun und Abriegelung statt.

Die politischen Verantwortlichen dieser versuchten Räumung sind dieselben, die seit Jahren das Projekt Stuttgart 21 gegen den erklärten Mehrheitswillen der Stuttgarter Bevölkerung ohne Wenn und Aber durchziehen wollen. So setzten sie sich über 70.000 Unterschriften hinweg, die eine Volksabstimmung über den Bahnhofsbau forderten, mit dem Verweis, dass das „keine rein Stuttgarter Angelegenheit“ sei.

Heute ist Stuttgart 21 zu einer Angelegenheit für die ganze Bundesrepublik geworden - zu einem „Symbol“ dafür, wie kapitalistische Interessen, Spekulation, Regierungen und Staatsapparat miteinander verwoben sind, einen „Filz“ darstellen, der gegen die Interessen der Lohnabhängigen wie auch großer Teile des Kleinbürgertums und der Mittelschichten sein Projekt durchzieht. Notfalls auch mit Polizeigewalt.

Aber die Räumung vom 30. September war auch ein Wendepunkt, weil der polizeiliche Angriff auf die DemonstratInnen und ParkschützerInnen zu einer politischen Niederlage wurde.

Die Bewegung vergrößerte sich. Über 100.000 Menschen demonstrierten mehrmals gegen S 21. Mappus, Schuster und Co. wurden nicht nur als hartnäckige Verteidiger von Kapitalinteressen im Amt bekannt, sondern es wurde auch vielen klar, dass zur Durchsetzung von S 21 selbst die bürgerliche Demokratie massiv eingeschränkt und gebeugt wird.

So hat die Bahn-AG wissentlich Unterlagen nicht vorgelegt, die eine Bau- und Abrissgenehmigung für die Bäume im Schlosspark erschwert, wenn nicht verhindert hätten.

Mappus und Rech verteidigten noch zynisch den Polizeieinsatz gegen Kinder, Jugendliche, Mütter und Senioren.

All das hat ihre politische Krise vertieft, die mangelnde demokratische Legitimation bestärkt.

Es zeigt aber auch: solange ein bürgerlicher Politiker im Amt ist, macht er/sie weiter - egal wie unbeliebt. Er versucht aber auch, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.

S 21, der Staat und die Demokratie

Von der DB und Mappus wurde immer erwähnt, dass dieses Projekt demokratisch legitimiert, seit 15 Jahren beschlossen sei und daher der Protest ein Legitimationsproblem hätte. Die Landesregierung verwies auf verschiedene Verfahren zur Bürgerbeteiligung, mehrere tausend Anträge in diesen Verfahren. Gleichzeitig wurden die Protestierenden verleumdet.

Besonders Bahnchef Grube zeigte sein Demokratieverständnis. So ließ er verlautbaren, „er kenne keinen Baustopp“ und den Protestierenden würde es zu gut gehen, weswegen sie gegen alles demonstrieren würden. Ebenfalls fiel ihm ein, dass es „unmöglich“ sei, gegen einen Bahnhof zu demonstrieren. Dadurch wurde auch vielen Protestierenden klar, was für eine Demokratie bei uns herrscht, nämlich die der Interessen des Kapitals. Schnell wurde in der Bewegung die Forderung nach einem Rücktritt der Landesregierung erhoben, allerdings ohne sich darüber klar zu sein, was dann folgen soll. Für eine Mehrheit der Bewegung liegt die Hoffnung in einer neuen Landesregierung. Sie haben weiterhin Illusionen in die parlamentarische Demokratie - eine Grün geführte Landesregierung soll das Ende von S 21 herbeiführen.

Verschiedenste Strömungen in der Protestbewegung wollten bzw. wollen auch einen Volksentscheid über S 21 herbeiführen. Dort sollte dann das Projekt am besten noch vor der Landtagswahl gekippt werden. Dabei wurde klar, wie ein Volksentscheid in Baden Württemberg so läuft. Zum einen war gar nicht mehr genug Zeit, um das in der Legislaturperiode zu veranstalten, zum anderen und entscheidender - das Parlament muss diesem Vorhaben zustimmen. Natürlich verweigerten CDU/FDP dem Volksbegehren die Zustimmung. An diesem Beispiel muss der Bewegung klar werden, dass die Möglichkeiten der parlamentarischen Demokratie begrenzt sind.

Diese parlamentarische Demokratie setzt die Profitinteressen des Kapitals um und bekämpft die Gegner mit allen Mitteln der polizeilichen Gewalt. Das ist die bürgerliche Demokratie. Ebenfalls wurde mehrmals von Land und Bahn festgestellt, dass die Verträge gar nicht gekündigt werden können. Ein Vertrag im Interesse des Monopolkapitals steht natürlich höher als demokratische Forderungen oder Volksentscheide oder andere Illusionen der bürgerlichen Demokratie.

Wenn unsere Bewegung weiter kommen will und positives Beispiel für folgende Proteste sein möchte, dann muss eben diese Demokratie als Gegner ausgemacht werden!

Die Demokratie von Mappus und Grube war am 30.9. für alle im Schlosspark ersichtlich. Die Demokratie von Staat und Kapital haben wir bei der Verlängerung der AKW-Laufzeiten und den Castor-Transporten gesehen - mit dem Knüppel für die Profite der Großkonzerne.

Dieser Demokratie müssen wir unsere demokratischen Strukturen entgegen stellen. Wir brauchen gewählte und transparente Bündnisse, Komitees und Arbeitsgruppen - brauchen Demokratie in unserer Bewegung! Dies ist dann Demokratie von unten, im Interesse des Widerstands und nicht im Interesse bürgerlicher Parteien.

Exkurs: Wunderwaffe Volksbegehren?

Den BefürworterInnen von Volksbegehren, Volksbefragung und Volksentscheiden ist entgangen, dass deren Ausgang keineswegs sicher ist. Angesichts des bürgerlichen Medienmonopols ist ein „Nein“ niemals ausgemachte Sache. Sind diese Kräfte bei einem eventuellen „Ja“ bereit, dann den Kampf einzustellen? Außerdem formuliert nicht „die Bewegung“ die Fragen, die der Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt werden, sondern der bürgerliche Staat! Dieser bestimmt auch, wer abstimmungsberechtigt ist: sind es die BürgerInnen Stuttgarts oder Baden-Württembergs?

Zudem sind die Ergebnisse eines Volksbegehrens bzw. einer Volksbefragung für das Parlament nicht bindend. Ein bindender Volksentscheid dagegen bedarf einer Verfassungsänderung mit 2/3-Mehrheit im Parlament: ihm vorausgehen muss außerdem ein erfolgreiches Bürgerbegehren. Wenn das Verfassungsgericht nicht das Ergebnis des Volksentscheids kassiert, bleibt es Legislative, Exekutive und Gerichtsbarkeit zudem überlassen, das Ergebnis zu interpretieren und umzusetzen. Ein „Nein“ zu S 21 muss noch lange nicht so ausgelegt werden, dass der Bahnhof „oben bleibt“. Sehr viel wahrscheinlicher ist ein modifizierter Plan wie S 21 plus, das jetzige Ergebnis der Schlichtung.

Und zu schlechter Letzt: die großen Monopole und ihre Ziele unterwerfen sich erst recht überhaupt keinen Bürgervoten. Da steht schon das auch von der Bewegungsmehrheit so verehrte Grundgesetz von 1949 vor, das das Recht auf (groß-)kapitalistisches Privateigentum als kardinalen Dreh- und Angelpunkt festschreibt. Wer daran rütteln möchte, braucht eine grundlegend andere Republik. Die Geschichte von Volksentscheiden und -befragungen in der BRD belegt nur deren Untauglichkeit im Kampf für fortschrittliche Ziele. So sprach sich 1946 in Hessen eine überwältigende Mehrheit für die Verstaatlichung der Grundstoffindustrien (Bergbau, Eisen, Stahl), 2005 in Hamburg gegen die Privatisierung des Landesbetriebs Krankenhäuser aus. Die Ergebnisse sind so bekannt wie niederschmetternd für die EnthusiastInnen „direkter“ bürgerlicher Plebiszitdemokratie.

Die „radikalen“ Demokratievorstellungen des Großteils der Bewegung gegen S 21 haben die Illusionen, der Staat sei neutral und lasse sich durch einen gewissen Druck von unten für Zwecke, die gegen die Profitinteressen bedeutender Großkonzerne gerichtet sind, instrumentalisieren, gepflegt und gehätschelt anstatt sie zu zerstören. Das erweist dem ehrlichen Aufbegehren breitester Teile der Bewegung einen Bärendienst, auch und gerade ihren demokratischen Aspirationen. Dieser Staat ist nicht der ihre, schon gar nicht der der überwältigenden Bevölkerungsmehrheit, der Lohnarbeiterklasse. Aber er ist immer mehr ein Staat für immer weniger Großmagnaten und ihre besoldeten Marionetten und damit ein direkter Affront gegen  Arbeiterklasse und ihr nahestehende Schichten und Klassen (nichtausbeutendes Kleinbürgertum, Teile der lohnabhängigen Mittelschichten)!

Selbst die elementarsten demokratischen Ausbrüche gegen Unrecht finden nicht bei ihm Gehör, sondern können nur von der Klasse durchgesetzt werden, die objektiv in der Lage ist, eine ganz andere Demokratie durchzusetzen, die wirklich die Interessen der Mehrheit verkörpern kann. Lohnarbeit und Mittelschichten müssen ihr eigenes demokratisches Programm im Bündnis miteinander durchsetzen - gegen den existierenden Staat.

Es ist gerade das größte Versagen selbst der “radikalsten“ Bewegungen heute gegen S 21, damals gegen AKWs und Mittelstreckenatomraketennachrüstung, der antiautoritären Studentenbewegung von 1968, dieser Gretchenfrage und der Aufgabe, wie das sozialdemokratisch gefesselte Proletariat dafür gewonnen werden muss, aus dem Wege gegangen zu sein.

Die „Lösungen“ aus besagtem Dilemma dieser radikalen Bewegungen schlugen sich in Beschwörungsformeln nieder wie: Ausstieg, Freiheit, Protest, Widerstand, Zivilgesellschaft, Basisdemokratie…

Der Klassencharakter bürgerlicher Demokratie blieb solchen Konstrukten äußerlich. Kein Wunder, sahen sich doch die TrägerInnen solcher Ideologie von vornherein als außer- oder besser oberhalb von Klassen, deren Existenz sie großteils gleich ganz in Frage stellten. Für diese Aufgabe, der organisierten Arbeiterbewegung den bürgerlichen Staat als den ihrigen zu verkaufen, besoldet die wirklich herrschende Klasse der KapitalistInnen eine umfangreiche Schicht von bürokratischen ArbeiterfunktionärInnen recht fürstlich. Die „aufgeklärten“ FührerInnen der „radikalisierten“ Zwischenschichten tun das ganz gratis und aus freien Stücken.

Ihr „Radikalismus“ beschränkt sich auf den Horizont eines wachsamen Liberalen, der sich bewegt fühlt, seiner Demokratie - dem Standbein - etwas „kritische“ Begleitmusik - das Spielbein - aufzuzwingen, damit er auch gehört, beachtet, gefühlt wird, um am Katzentisch der monopolistischen Fassadendemokratie etwas sozialverträgliche bunte Farben einzuhauchen namens Meinungsfreiheit und Kritik - wohlwollend geduldet von den wirklich Mächtigen, die sich im Gegenzug ihre Demokratie- und Toleranzfähigkeit ans Revers heften dürfen - nichts gibt's ohne Gegenleistung!

Mit der unerbittlichen Logik der Geschichte endet solche „Radikalität“ zwangsläufig in den Armen der Grünen, der FDP zweiter Linie, deren „Ökologieprimat“ sich in Trittins Dosenpfand, der regulierten AKW-Laufzeitverlängerung bis zu „Schwarz-Gelb“ und zahlreichen Posten im Staatsapparat erschöpft. Leider führen sie auch die Bewegung gegen S 21 nicht nur mit ihren Ideologien mehrheitlich an, sondern auch in Form  dessen, dass die „radikalen“ Kräfte, die im Gegensatz zur offiziellen Politik der GRÜNEN, weiter am Kampf festhalten, sich von solchen kleinbürgerlichen Demokratie- und Bewegungsillusionen nicht lösen können.

Deren ehrlichen und ernst gemeinten Illusionen in die Wirksamkeit von Plebisziten dürfen KommunistInnen nicht einfach den Rücken zuwenden. Kommt es zu einer Volksabstimmung, müssen sie vielmehr in der entsprechenden Kampagne - analog zur Taktik der kritischen Unterstützung für reformistische Parteien bei Wahlen - gemeinsam mit diesen Kräften zu einem „Nein“ aufrufen, aber gleichzeitig die Beschränktheit der Volksabstimmungsmöglichkeiten aufzeigen. So können die demokratischen Illusionen des Großteils der Bewegung einem echten Test in der Praxis unterzogen werden, ohne ihnen die kalte Schulter zu zeigen.

Die Aufnahme der Schlichtung

Nachdem Staat und Bahn am 30.9. mit Gewalt gegen die Bewegung vorrückten, mussten sie feststellen, dass ihr Plan nicht aufgegangen war. Zwar wurde der Schlosspark geräumt und die Arbeiten konnten dort beginnen, aber die Bewegung konnte politisch nicht geschwächt werden. Die Versuche, die Bewegung in militante und friedliche Teile zu spalten, gingen nicht auf. Zu deutlich war am 30.9., von wem die Gewalt ausgeht, wer Wasserwerfer, Pfefferspray und Knüppel gegen SchülerInnen, Beschäftigte und Rentner einsetzt.

Als Reaktion gingen am Tag darauf bis zu 150 000 auf die Straße, bezeichneten Staat und Medien als „Lügenpack & Kinderschläger“ und forderten „Mappus weg!“. Das Kalkül der Landesregierung war nicht aufgegangen. Anstelle von Abschreckung und Spaltung solidarisierten sich nochmals Zehntausende zusätzlich mit dem Protest. Diese Bewegung war in der Lage, die Stadt lahm zu legen.

Nachdem die Landesregierung diese Situation realisierte, spielte sie ihren letzten möglichen Joker aus - Verhandlungen mit den Gegnern, ein „runder Tisch“, eine Schlichtung sollte sie retten.

Als Schlichter wurde dann Heiner Geissler angefragt. Dieser, vorgeschlagen von den Grünen in Baden-Württemberg, sagte auch zu und die Schlichtung konnte starten. Damit war die Landesregierung erst mal gerettet. Sie konnte sich in die Verhandlungen flüchten - die Gewalt des 30.9. wurde Nebensache. Allein die Tatsache, dass die Grünen eine Schlichtung inklusive Hauptperson vorschlugen, zeigte, welche Perspektive diese angebliche „Protestpartei“ hegte - Verhandlungen im kleinen Kreis, netter Austausch der Argumente - so hätte die Anti-AKW-Bewegung (Ursprung der Grünen) niemals Wackersdorf oder Brokdorf bekämpfen können. Aber heute ist eine Schlichtung mit dem Gegner die Lösung aller Konflikte.

Mit Geissler, ehemaliger CDU-Generalsekretär und aus Baden-Württemberg, wurde ein Schlichter gewählt, der inhaltlich durchaus die Schnittmenge zwischen CDU und Grünen symbolisiert. Schließlich ist Geissler seit vielen Jahren bei Attac im wissenschaftlichen Beirat tätig.

Der schwierige Start

Natürlich war die Aufnahme der Verhandlungen ein Erfolg der Bewegung gegen S 21. Die fast allmächtig wirkende CDU in Baden-Württemberg wurde an den Verhandlungstisch gezwungen und mit ihr der staatliche Monopolist DB. Dieser Erfolg zeigte aber auch, wie widersprüchlich die S 21-GegnerInnen in sich sind.

Als Forderung für die Aufnahme der Verhandlungen wurde ein Baustopp benannt. Wie die Bahn den Begriff „Baustopp“ auslegte, wird später noch angeschnitten. Hier muss aber erwähnt werden: die Bewegung hätte ein Ende des gesamten Projekts fordern müssen. Nie war die Bedingung dafür so gut wie Anfang Oktober. Damals standen Landesregierung und DB mit dem Rücken zur Wand. Doch die Spitzen der Protestbewegung gingen mit ihnen an den Verhandlungstisch.

Am Anfang betrieb vor allem die Bahn eine Verzögerungstaktik - sie legte den Begriff „Baustopp“ zu eigenen Gunsten aus. So wurde noch drei Wochen nach dem Start auf dem besetzten Gebiet im Schlosspark weiter gebaut. Dort wurden Bauarbeiten am Grundwassermanagement betrieben, die vor Wintereinbruch & Frost beendet werden mussten. Dabei geht es um eine Umleitung der dortigen Grundwasserströme aufgrund der S 21-Tunnel. Gleichzeitig wird auch dem Schlosspark sprichwörtlich das Wasser abgegraben. So konnte die Bewegung jeden Tag sehen, dass „ihre“ Führung unverdrossen verhandelt, während im Park und unter dem Park weiter gebaut wurde.

Aus diesem Grund verließ die Gruppe der „aktiven Parkschützer“ (APS) das K 21-Bündnis und gründete eine eigene Gruppe : „Bei-Abriss-Aufstand“. Diese Gruppe kritisierte zu Recht die  Verhandlungen und das Zugeständnis des K 21-Bündnisses, weniger Demonstrationen während der Verhandlungen durchzuführen.

Das Ziel der Verhandlungen

Für die Landesregierung war und ist das Ziel klar - sie will ein Ende der Proteste, ein Ende der Massenbewegung. Bahn und Landesregierung wollen den Protest auf der Straße beenden. Sie haben Interesse an Verhandlungen, obwohl ihrer Ansicht nach ein Ende von S 21 gar nicht verhandelt werden kann.

Dabei beziehen sie sich auf gültige Verträge zwischen Land, Bund und Bahn - diese Verträge zu kündigen wäre viel zu teuer. Also können nur Einzelheiten am Projekt S 21 verhandelt werden, nicht aber das Projekt als ganzes!

Dieser Taktik haben sich die Verhandlungsführer von K 21 angeschlossen. Grüne, SÖS, BUND und ihre Experten haben innerhalb von 7 Wochen die Verhandlungen missbraucht, um den Protest lahm zu legen und sich schrittweise einer gemeinsamen Lösung zu nähern. So gab es widersprüchliche Aussagen der Grünen, ob sie denn - im Fall der Regierungsübernahme im März - S 21 sofort stoppen würden. Einige, wie Parteichef Özdemir, versprachen es lauthals. Andere, wie Baden-Württembergs Fraktionschef Kretschmann, verwiesen auf die laufenden Verträge. Diese müssten erst geklärt werden.

Während der Verhandlungen gab es eine erfolgreiche Besetzung des Südflügels im Anschluss an eine Kundgebung am Schlossplatz. Dort gelang es mehr als 30 AktivistInnen, in den Südflügel einzudringen. Die Reaktion der Vermittler zeigte den beginnenden Verrat an der Bewegung.

SÖS-Spitzenprotestler Gangolf Stocker fand diese Besetzung „unproduktiv“. Schließlich würden die Verhandlungen ja geführt um den weiteren Abriss zu verhindern. Am Beispiel Stockers wurde schnell deutlich, was eine informelle und kleinbürgerliche Führung ausmacht. Sobald sie mit am Katzentisch der Macht sitzen, distanzieren sie sich möglichst von weitergehenden oder gar militanten Aktionen und versuchen ihrerseits die Bewegung zu spalten und zu schwächen.

Als Vorwand dienen dann gerne die „Mittel“ des Widerstands. Sobald mehr als Demos, Kundgebungen oder Gebete veranstaltet werden, stört dies angeblich den friedlichen Aktionskonsens. So sprach Stocker bei einer Kundgebung vor der Südflügel-Besetzung über das Verhältnis zur Stuttgarter Polizei.

Die Protestbewegung sollte kein schlechtes Verhältnis zur Stuttgarter Polizei haben. Die lokalen Polizisten wären ja nicht für die Gewalt des 30.9. verantwortlich, sondern die Landesregierung und auswärtige Einheiten. Diese Einstellung wurde in den Wochen zuvor schon durch die Aussage „Wessen Polizei? Unsere Polizei!“ zum Ausdruck gebracht. Durch den 30.9 wurde diese Aussage zur Karikatur.

Diese beiden Stränge, auf der einen Seite Schlichter Geissler mit Bahn und Landesregierung im demokratischen Prozedere und auf der anderen Seite die Unterhändler von K 21 in Abgrenzung zu Aktionen der Massenbewegung, sorgten für eine Schwächung letzterer. 

Die Samstagsdemos

Neben der öffentlichen Distanzierung von der Besetzung  des Südflügels reichte das K 21-Bündnis das Ende der wöchentlichen Großdemos (Freitag/Samstag) auf dem Verhandlungstisch nach. Stellvertretend erkläre Stocker, dass die Bewegung auch „müde“ sei und durch die Verhandlungen keine Notwendigkeit für Großdemos mehr bestünde.

Ohne jegliche Rückkopplung mit der Bewegung, ohne einen Funken demokratischer Legitimation verkünden die Verhandler des Bündnisses das Ende der Großdemos - einmal im Monat würde schon reichen. Damit verzichtet K 21 ganz offen auf den stärksten Faktor, den die Bewegung bislang hatte - die Straße!

Im Hintergrund beschwerten sich die „Innenstadt-Kaufleute“ über nahende Demos in der Adventszeit und verlangten ein Ende dieser möglichen Konsumstörung bei Stadt, Land und Polizei. Gleichzeitig schwadronierten Geissler und die Verhandler von K 21 über die sog. „Friedenspflicht“ während der Schlichtung. Alle Weichen wurden gestellt, um die Massenbewegung vor Weihnachten an die Wand zu fahren.

Ergebnis der Verhandlungen

Während der Verhandlungen kamen die Tatsachen auf den Tisch, die zuvor schon bekannt waren. Dieser Austausch über Kosten, Fahrstrecken, Tunnel, Mineralien, Bäume, neue Wohngebiete usw. brachte wenig Neues auf den Tisch. Die Bahn kalkuliert sehr „optimistisch. Es gibt keine vergleichbaren Angebote in der Höhe. Die Tunnel sind teilweise zu schmal. Es gibt offene Fragen bezüglich des Verhältnisses der S-Bahn zum ICE bei Verspätungen und der Zugang zu allen Fakten wird auch während der Schlichtung nur erschwert gewährt. So mussten die Schlichtungsteilnehmer von K 21 zur DB nach Frankfurt fahren, um in die Baupläne zu schauen. Das durften sie für 90 Minuten und es war nicht gestattet, Notizen anzufertigen.

Als „Highlight“ entpuppte sich, dass die Bahn zugeben musste, S 21 bringe keinen Vorteil bei den europäischen Strecken und die Verbindung Paris - Bratislava (vorher stets als Vorteil benannt) überhaupt nicht Teil der Planungen war und es beim europäischen Netz allein um die Nord-Süd-Verbindung ging. Ebenfalls war erstaunlich, dass auch Geissler zugeben musste, dass die vermutete Zeitersparnis mit 11 Minuten auf den ICE-Strecken doch eher bescheiden ausfällt, vor allem wenn man berücksichtigt, dass es längere Wartezeiten auf die Regio-Züge gibt.

Die Verhandlungen zeigten, dass die Bahn lügt und trickst, während die Landesregierung zustimmend nicken darf und sich bei der „Basisbewegung“ Pro S 21 ganz eigentümliche kleinbürgerliche Reaktionäre tummeln - aber das durfte nicht wirklich überraschen. Stattdessen bemühte sich Geissler zumindest als Unterhalter mit kauzigen Bemerkungen zur Bahn und zur Einhaltung der Tagesordnung. Jede einzelne Verhandlungsrunde hätte genügend Anlass zu Großdemos gegeben, stattdessen gab es die Verhandlungen live bei Phönix.

Statt einer Bewegung auf der Straße rühmten sich die Beteiligten an den öffentlichen Verhandlungen mit deren Beitrag zur Demokratie und Diskussionskultur.

Am 30.11. verkündete Geissler kein Ergebnis, sondern einen „Schlichterspruch“. Bei tariflichen Schlichtungen kennen wir das Procedere. Aus beiden Vorstellungen wird ein Kompromiss verhandelt, welcher dann auch von beiden Seiten getragen werden muss. Bei dieser Schlichtung war klar: ein Kompromiss zwischen „oben“ und „unten“ ist architektonisch und planerisch schwer vorstellbar, ein Konzept musste sich durchsetzen.

Heiner Geissler verkündete dann das, was vorher schon alle wussten - der Vertrag zwischen DB und Baden-Württemberg ist gültig und diese Schlichtung kann keine gültigen Verträge kündigen. Damit wurde festgestellt, dass die „Demokratie“ und alle möglichen Spielarten wie „Runder Tisch“ und „Schlichtung“  dort aufhören, wo kapitalistisch-bürgerliche Verträge anfangen. Während der Verhandlungen wurde auch bekannt, dass die mögliche Kündigung der Verträge hohe Bußgelder zur Folge hätte, zumindest höhere als die aktuellen Planungskosten. Diese Verträge sollen somit „unkündbar“ erscheinen und Verträge mit einem öffentlichen Unternehmen, wie es die Bahn noch ist, unterliegen natürlich keiner demokratischen Kontrolle.

S 21 Plus?

Unter dieser „Zauberformel“ präsentierte Geissler seinen Schlichterspruch. Das Plus bedeutet dabei, dass S 21 gebaut wird, aber einige Komponenten aus dem K 21 Konzept übernommen werden sollen, aber nur wenn die DB feststellt, dass dies zu realisieren sei.

Die Übernahme einiger Bestandteile von K 21 sollte den K 21-Vermittlern die Möglichkeit geben, den Schlichterspruch auch als „Sieg“ feiern zu können. Dementsprechend klopften sich dann besonders die Grünen-Unterhändler auf die Schulter und alle waren froh, die Argumente gegen S 21 gesagt zu haben!

Am Ende waren die Gegner also zufrieden, dass sie auf Phönix auftreten durften. Dass die Bewegung eine Niederlage in den letzten Monaten erlitten hatte, stand für sie nicht auf der Tagesordnung.

Besonders groß war die Freude auf der S 21-Seite. Mappus, Grube und Co. freuten sich über die Bestätigung durch die Schlichtung - ihre Seite hatte gewonnen und konnte jetzt auch beanspruchen, alle „demokratischen“ Instanzen bestanden zu haben!

Die „Auflagen“ für S 21 sollen jetzt von der DB simuliert werden. D.h. wie schon bei den eigentlichen Plänen gibt es keine öffentliche Kontrolle, keine Einsicht, keine Offenlegung aller Unterlagen.

Das vorhersehbare Ergebnis (danach war das plötzlich auch allen K 21-Verhandlern klar) kam auch zu dem Schluss, warum K 21 nicht gebaut werden könnte. Zwar schmeichelte Geissler dem K 21-Bündnis und den vielen guten Argumenten der GegnerInnen, aber Entscheidendes konnte das K 21-Gespann nicht vorweisen.

Es gibt keine Baugenehmigung und kein endgültiges Planfeststellungsverfahren für den erweiterten Kopfbahnhof, deshalb könnte sich die Schlichtung auch nicht für K 21 aussprechen. Allein diese Aussage verhöhnt den gesamten so genannten „demokratischen Prozess“. Von Beginn an war klar, dass K 21 keine Chance hat, da keine Verträge vorliegen!

Auch bei einem anderen beliebten Thema der GegnerInnen, den Kosten und der Kostenkalkulation der Bahn konnte K 21 nur „Pyrrhussiege“ erringen. Zwar stellten mehrere Gutachten fest, dass die Kalkulation der Bahn „optimistisch“ sei und die Gutachter nirgendwo vergleichbare Angebote gefunden hatten, aber daraus resultierte nichts. Die Bahn kann weiterhin mit gefälschten Zahlen hantieren, die Schlichtung hat auch dies nicht beendet.

Das K 21-Bündnis ist dadurch wieder am Ausgangspunkt vor der Schlichtung angekommen. Wieder wird ein „Baustopp“ bis zur Überprüfung der Auflagen gefordert und wieder gibt es keine Kontrolle über die DB - allerdings gibt es auch einen entscheidenden Unterschied zum Beginn der Schlichtung: die Massenbewegung gegen S 21 ist zahlenmäßig und politisch geschwächt. Schon direkt nach der Schlichtung wurde von der Landesregierung verkündet, dass sich Demos gegen die Schlichtung nicht lohnen würden und nun alle doch erst mal die Ergebnisse des „Stresstests“ der Bahn abwarten sollten.

Wieder entscheidet die Bahn, welche Zahlen und welche Ergebnisse zustande kommen. Die Massenbewegung und das K 21-Bündnis haben keinen Einfluss darauf.

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Die Schlichtungs-Seifenblase ist geplatzt

Wie weiter im Widerstand?

Eine marxistische Analyse des Ursprungs, Charakters und der Perspektiven der Bewegung gegen Stuttgart 21

Januar 2011

*  Vorwort
*  Das Projekt
*  Die Bewegung und ihre Führung
*  Entwicklung der Bewegung und die Frage des Staates
*  K 21-Bündnis und Aktionskonferenzen
*  Wie weiter?
*  Nachsatz: Die Landtagswahlen im März