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Putins Regime

Politische und ökonomische Aspekte der kapitalistischen Restauration in Russland

Michael Pröbsting

Selbst ein oberflächlicher Vergleich zwischen dem heutigen Russland unter Präsident Putin und jenem unter Jelzin macht deutlich, dass ein grundsätzlicher Wandel in den politischen und ökonomischen Verhältnissen stattgefunden hat. In den letzten beiden Jahren hat sich das kapitalistische Wertgesetz in der Wirtschaft endgültig durchgesetzt. Wesentlich dafür waren sowohl die ökonomischen Entwicklungen nach dem Kollaps im August 1998 sowie die Herausbildung des Putin-Regimes mit seinen charakteristischen bonapartistischen Zügen.

Was sind jedoch die tieferen Ursachen, die dieser Veränderung zugrunde liegen? Welche Widersprüche haften dem russischen Kapitalismus unter Putin an? Und schließlich: Welche Schlussfolgerungen ergeben sich daraus für marxistische Theorie und Programm? Der folgende Artikel soll Antworten auf diese Fragen geben.

Im vergangenen Jahrzehnt und insbesondere seit der Krise im August 1998 hat der Prozess der Wiedereinführung des Kapitalismus gewaltige Fortschritte gemacht. Dies fand nicht nur in einem eindrucksvollen Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und der Industrieproduktion seinen Niederschlag, sondern auch und insbesondere in einer deutlichen Beschleunigung des Kapitalakkumulationsprozesses.

Die ersten zehn Jahren der kapitalistischen Restauration waren vor allem vom Prozess der ursprünglichen Kapitalakkumulation geprägt. Im Zuge dessen kristallisierte sich ein Klasse von so genannten Oligarchen heraus, die innerhalb weniger Jahre ein immenses Vermögen durch Bestechung der Behörden, Steuerhinterziehung und Kapitalflucht im großem Maßstab, enge Beziehungen zu den Machthabern und skrupelloses Absahnen bei den undurchschaubaren Versteigerungen staatlichen Vermögens zusammenraffte.

Westliche Kommentatoren rümpfen gerne die Nase über die korrupten, kriminellen Oligarchen Russlands und stellen diesen die saubere, westliche Variante des Kapitalismus gegenüber (2). Doch dieselben Kommentatoren, die bis vor kurzem Jelzin und seine Oligarchen als mutige Reformer lobten, vergessen, dass der Kapitalismus im Westen ein ähnliches Entwicklungsstadium durchmachte. Russland vollzieht heute im Zeitrafferaufnahme einen Prozess, der in vielem der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals in Europa ähnelt.

Dieser Prozess der Kapitalakkumulation fand in Russland Mitte der 1990er Jahre seinen Ausdruck in der Formierung so genannter Finanz-Industrie-Gruppen (FIG). Diese waren ein Abbild des parasitären Charakters der kapitalistischen Restauration insofern, als ihre Tätigkeit mehr in der Plünderung von Unternehmensvermögen und der Kapitalflucht ins Ausland bestand anstatt produktiven Investitionen. Die LRKI hat diesen Prozess bereits ausführlicher an anderer Stelle untersucht und wir wollen uns hier auf die qualitative Veränderungen der letzten Jahre konzentrieren (3).

Zusammengefasst zeichnete sich die kapitalistische Restauration in Russland in den 1990er Jahren dadurch aus, dass sie länger als z.B. in Ostmitteleuropa eine Periode der ursprünglichen Kapitalakkumulation durchlief und sich das kapitalistische Wertgesetz - also die Produktion für Profit - über lange Zeit nicht in den wesentlichen Teilen der Ökonomie Russlands durchgesetzt hatte. Doch dies änderte sich in der Periode nach der August-Krise 1998. Die Krise schuf die Voraussetzungen dafür, dass in den folgenden Jahren - also 1999/2000 - die kapitalistische Produktionsweise zur vorherrschenden wurde und sich die wichtigsten Bereiche der russischen Wirtschaft unterwarf.

Wendepunkt August 1998

Bekanntlich kollabierte im August 1998 Russlands Währung - der Rubel - und mit ihm der Finanzmarkt und die Industrieproduktion. Die Rubelabwertung führte zu einer Verteuerung von Importen, was wiederum russischen Produzenten den massiven Ausbau ihres Anteils am Binnenmarkt ermöglichte. Auf der anderen Seite brachte die Rubelabwertung eine Verbilligung russischer Exporte mit sich, deren Folge umso bedeutender ist, als der Preis für Erdöl - das wichtigste Exportprodukt Russlands - im gleichen Zeitraum um das drei- bis vierfache anstieg.

Es ist wichtig festzuhalten, dass diese Entwicklungen im Bereich der Währung und des Handels nicht die eigentliche, tiefere Ursache der Durchsetzung des Wertgesetzes in Russland sind. Sie sind vielmehr nur der Katalysator, der den "unterirdischen" Entwicklungen des Restaurationsprozesse, dem von Erfolgen und Misserfolgen geprägten Vordringen des sich neu formierenden, akkumulierenden Kapitals inmitten des Chaos der zerfallenden Planwirtschaft zum Durchbruch verhilft.

Die August-Krise brachte das widerspruchsvolle Wirtschaftssystem Russland zu Zerplatzen. Diese Ökonomie zeichnete sich durch das eigentümliche und widersprüchliche Nebeneinander eines ursprünglichen Kapitalakkumulationsprozesses auf der einen Seite und eines in weiten Teilen der Wirtschaft verbreiteten Netzes von offenen und versteckten Subventionen sowie einfachen Tauschhandel zwischen den Unternehmen aus. Laut einer Schätzung der Weltbank betrug der Wert der versteckten Subventionen 10% des Brutto-Inlandsproduktes.

Dieses System musste zerplatzen, da es keine lebensfähige, bewusste gesteuerte Planwirtschaft verkörperte und gleichzeitig zu einem gewaltigen Hindernis für das rasch wachsende und in alle Poren der Wirtschaft vordringendes Kapital wurde.

Die August-Krise führte zu einem scharfen Einschnitt und zwang die Unternehmen, ihre Tätigkeit auf kapitalistische Grundlage umzustellen oder Bankrott zu gehen. Dadurch wurde der Tauschhandel zwischen den Unternehmen von knapp 55% aller Transaktionen (im Sommer 1998) auf 19% (Ende 2000) reduziert. Während 1998 nur 16% der Unternehmen von profitablen Produktionsbedingungen berichteten, stieg deren Anteil bis Ende 2000 auf knapp 52%.

Insgesamt stiegen die Profite russischer Unternehmen im 1. Quartal 2000 im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um durchschnittlich 220%. Im Erdölsektor betrug das Profitwachstum gar 340%, aber auch der Metallsektor verbuchte ein Plus von 310%. Insgesamt gehören die produktiven Sektoren der Wirtschaft, wie Industrie und Transport, zu den profitabelsten Bereichen, während der Wohnungs- und Kommunalbereich am schwächsten abschneidet. Statistiken weisen darauf hin, dass der Großteil der Großunternehmen - das Monopolkapital - mit Profit operiert, was bei den größten 200 Betrieben schon 1999 der Fall war.

Damit ging auch ein gewaltiger Prozess der Konzentration und Zentralisation des Kapitals einher. 40% aller Exporteinnahmen gehen auf nur 10 Konzerne zurück.

Die profitable Produktion vieler Unternehmen ist auch die Grundlage für eine rege Investitionstätigkeit. Insgesamt kommen wir also zur Schlussfolgerung, dass sich in der Periode 1999-2000 der Kapitalismus als vorherrschendes System in Russlands Wirtschaft durchsetzen konnte.

Das bedeutet keineswegs, dass die russische Wirtschaft bereits vollständig nach dem Wertgesetz funktionieren würde. In vielen Unternehmen stehen massive Restrukturierungen bevor, sprich Entlassungen, Erneuerung des Maschinenparks, Rationalisierung der Arbeitsabläufe usw.

Vor allem der Bankensektor funktioniert weitgehend noch nicht nach kapitalistischen Kriterien. Der Kreislaufprozess des Kapitals läuft nur stockend. Vor 1998 bestand die Haupttätigkeit der Banken in der spekulativen Beteiligung an den kurzfristigen Staatsanleihen (z.B. Pyramidenspiele wie die GKO-Anleihen, die zum Schluss Zinsen von 100% versprachen und zentraler Auslöser für die August-Krise 1998 waren) sowie der Kapitalflucht auf ausländischen Banken und Immobilien im Westen.

Dies geht im Wesentlichen auf den noch verhältnismäßig unterentwickelten Grad der Kapitalakkumulation zurück. Im Unterschied zu den etablierten kapitalistischen Ökonomien, wo es im produktiven Sektor eine strukturelle Überakkumulation gibt, die sich in einem massiven Hineinströmen von Kapital in den Geldkapitalsektor niederschlägt, existiert im Finanzsektor Russlands eine Kapitalknappheit.

Dies hat sich in den beiden letzten Jahren nicht grundlegend verändert. Der Anteil der nicht mehr rückzahlbaren Kredite stieg sogar noch von 3% (1998) auf 12%. Kein Wunder, dass der Bankensektor - im Unterschied zum den entwickelten kapitalistischen Ländern - nur eine untergeordnete Rolle bei der Finanzierung der Unternehmensinvestitionen einnimmt. Knapp die Hälfte der Investitionen finanzieren die Unternehmen aus Eigenmitteln (Profite, Ersparnisse, nicht-ausgezahlte Löhne etc.). Nur 3,3% gehen auf Bankdarlehen zurück.

Aber ungeachtet dieser Defizite - und wir werden weiter unten noch einige weitere Strukturschwächen des russischen Kapitalismus aufzeigen - wäre es für Marxisten fatal, den qualitativen Wendepunkt der beiden letzten Jahre zu übersehen: Die russische Wirtschaft ist nun dem kapitalistischen Profitprinzip unterworfen.

Bevor wir auf die Widersprüche der russischen Ökonomie und deren Konsequenzen eingehen, ist es notwendig, die politische Seite der kapitalistischen Restauration näher zu betrachten.

Vorrevolutionäre Krise

Die Entwicklungen der letzten Jahre - die erfolgreiche Durchsetzung des Kapitalismus auf ökonomischer Ebene und die Stabilisierung des bonapartistischen Putin-Regimes - zeigen, welche entscheidende Bedeutung die August-Krise für die Arbeiterklasse besaß.

Im Sommer 1998 traf ein Aufschwung der Arbeiterkämpfe mit dem Kollaps des Wirtschaftspolitik des Jelzin-Regimes zusammen. Damals erhoben sich die Bergarbeiter, aber auch andere Berufsgruppen, um endlich die Auszahlung der ausständigen Löhne zu erzwingen. Sie blockierten Eisenbahnschienen und Autobahnen und legten so teilweise den Transport lahm. Ebenso forderten sie den Rücktritt der diskreditieren Regierung Jelzin. Der Druck der empörten Basis steigerte sich so weit, dass die offizielle Gewerkschaftsbürokratie - eine eingefleischte Gegnerin jeglicher Massenaktion - schließlich einen eintägigen Generalstreik beschloss.

Als dann auch noch gemeinsam mit der russischen Wirtschaft die Regierung Kirijenko kollabierte, war das restaurationistische Jelzin-Regime weitgehend paralysiert. Eine vorrevolutionäre Situation entstand, wo die Herrschenden nicht mehr so weiter konnten wie bisher und die unterdrückten Klassen nicht mehr so weiter wollten wie bisher. Doch diese Krise schlug nicht in eine offen revolutionäre Situation um. Denn in dieser Situation kam ihr die Kommunistische Partei (KPRF) zu Hilfe. Im Austausch für eine Beteiligung an der Regierung Primakow - Juri Maslijukow wurde der für Wirtschaftsfragen zuständige Vize-Ministerpräsident - verzichtete sie auf Massenmobilisierungen gegen das Jelzin-Regime und beschränkte den Protest auf einen gemeinsam mit den Gewerkschaft organisierten, eintägigen, symbolischen Generalstreik, der jedoch bewusst so spät wie möglich angesetzt wurde: 7. Oktober, also fast zwei Monate nach Ausbruch der Krise!

Dabei wäre es damals ein Leichtes gewesen, das schwer angeschlagene Regime zu stürzen. Es ging in Wirklichkeit nur darum, einem bereits Torkelnden den entscheidenden Stoß zu versetzen. Doch die KP-Bürokratie fürchtete gerade einen revolutionären Aufschwung der Massen, der leicht außer Kontrolle geraten und am Ende nicht nur das Jelzin-Regime hinweg fegen hätte können, sondern mit ihm auch gleich die Staats- und regionalen Dumas (4). All die Posten und Privilegien der Abgeordneten und des ganzen Parteiapparates wären damit bedroht gewesen.

Die Folgen des KP-Ausverkaufs waren verheerend. Denn (vor)revolutionäre Situationen sind von ihrer Natur her zeitlich begrenzt. In solchen Situationen erheben sich die Massen und brechen mit der Routine ihres Alltagslebens. Sie gehen auf die Straße, nehmen regelmäßig an Versammlungen teil, riskieren ihren Arbeitsplatz, die Zukunft ihrer Familie und vielleicht auch noch ihr Leben. Ihre ganze Aufmerksamkeit konzentriert sich auf die politische Krise und deren Lösung. Mit anderen Worten: Sie befinden sich in einer Art Ausnahmezustand. Ein solcher Ausnahmezustand kann per definitionem nicht lange dauern. Die Massen können nicht über eine längere Periode in Anspannung gehalten werden. Entweder entlädt sich die Anspannung in revolutionäre Aktionen - oder sie verpufft.

Demokratische Konterrevolution

Umgekehrt verhält es sich mit dem herrschenden Regime. Während es in der Krise paralysiert und geschwächt ist, kann dieser Zustand nicht unbegrenzt andauern. Die Notwendigkeit des Fortgangs der materiellen Produktion birgt in sich den Keim der Überwindung der revolutionären Krise. Darüber hinaus hat das Regime immer einen Vorteil gegenüber den Massen: Es ist bereits an der Macht. Kurz und gut, nur die entschlossene Initiative des Proletariats zum Sturz des Regimes und zur Machteroberung kann verhindern, dass die Herrschenden die Krise zu ihren Gunsten beenden. Stillstand ist nicht möglich - die politische Krise muss enden, entweder auf revolutionäre oder auf konterrevolutionäre Weise.

Die revolutionäre Überwindung der Krise setzt jedoch einen subjektiven Faktor voraus, der sich dieser Gesetzmäßigkeiten des Klassenkampfes bewusst ist und der bewusst und mit einem strategischen Plan bewaffnet das Ziel der Zerschlagung der restaurationistischen Regimes und der Errichtung der Diktatur des Proletariats sucht. Mit anderen Worten: Das Entscheidende ist die Existenz einer revolutionären Partei.

Diese fehlte jedoch und fehlt auch heute in Russland. Und die KPRF erwies sich als eine konterrevolutionäre Partei; eine Partei, die sich für ein paar Regierungsposten einkaufen ließ und dabei die Absage jeglicher Massenmobilisierung als Mitgift in die Ehe mit Jelzin einbrachte. Im Oktober 1998 gab Jelzin seinen Segen zur Bildung der Regierung Primakow mit Juri Maslijukow (KPRF) als stellvertretenden Ministerpräsidenten. Damit ermöglichte die KPRF die konterrevolutionäre Überwindung der Krise, wenn auch unter demokratischen Vorzeichen. Im Unterschied zu diktatorisch-konterrevolutionären Auswegen aus der Krise, bei denen die Arbeiterorganisationen mit den Mitteln der Repression und Unterdrückung zerschlagen werden, zeichnet sich die demokratische Konterrevolution durch die Bestechung und Inkorporation der Vertreter der Massen wie Fähigkeit zur Integration der Massen selbst aus.

Doch wie so oft erwies sich die Bourgeoisie als undankbarer Partner gegenüber der reformistischen Bürokratie und löste die Ehe ein paar Monate später einseitig auf. Im Mai 1999 entließ Jelzin die Regierung Primakow und ebnete - nach dem kurzen Zwischenspiel mit der bedeutungslosen Übergangsfigur Stepaschin - den Weg für das offen bonapartistische Regime Putin. Die Mitgift der KPRF - sprich die Demobilisierung der Massen - behielt sich das Regime natürlich und konnte nun auf einer gestärkten Basis den Aufbau des neuen Putin-Regime angehen.

Louis Bonaparte Putin

Für Marxisten und Marxistinnen ist es wesentlich, die kapitalistische Restauration als ein politisches und ökonomisches Projekt zu begreifen. Das bürgerliche politische Regime war die Geburtshelferin der kapitalistischen Restauration und gleichzeitig verlieh das Vordringen des Kapitals in die Poren der post-planwirtschaftlichen Ökonomie seiner politischen Herrschaft wachsende gesellschaftliche Grundlage und Gewicht.

Es versteht sich von selbst, dass dieser Prozess sowohl auf der ökonomischen als auch der politischen Ebene von heftigen Erschütterungen und Krisen begleitet ist.

Die August-Krise des Jahres 1998 war nicht nur für das Vordringen des Kapitalismus auf wirtschaftlicher Ebene entscheidend, sondern - damit zusammenhängend - brachte auch entscheidende Veränderungen für den bürgerlich-restaurationistischen Staatsapparat mit sich. Das politische Putin-Regime war ein entscheidender Hebel für den Sieg des Kapitalismus auf ökonomischer Ebene.

Nach der kurzen Periode der demokratisch-konterrevolutionären Regierung Primakow (Oktober 1998-Mai 1999) installierte Jelzin erfolgreich den aus der Spitze des Geheimdienstes FSB stammenden Wladimir Putin als seinen Nachfolger.

Dem Putin-Regime gelang es im Wesentlichen, den russischen Kapitalismus politisch und ökonomisch zu konsolidieren. Jelzin hatte und hat der Restauration des Kapitalismus in Russland auf politischer Ebene den Weg bereitet. Er führte die Konterrevolution zum Sieg, zerstörte den degenerierten Arbeiterstaat und errichtete ein bürgerlich-restaurationistisches Regime. Der Staatsapparat wurde zum Instrument einer neu entstehenden Kapitalistenklasse.

Aber das schwache, halb-bonapartistische Jelzin-Regime konnte auf ökonomischem Gebiet die begonnene Arbeit nicht zu Ende führen. Es gefährdete zunehmend das kapitalistische Restaurationsprojekt, da es den russischen Staatsapparat und die Ökonomie an den Rande des Kollaps führte. Jelzin und seine Gefolgschaft waren für ihre Prunksucht und Bestechlichkeit bekannt und unter der Bevölkerung verhasst, die Oligarchen als geldgierige Mafiosi verrufen und der Staatsapparat in seiner Gesamtheit als korrupt verschrien. Dem restaurationistischen Staatsapparat fehlt dadurch sowohl Effektivität als auch Legitimität. Dies verunmöglichte, dass er das erforderliche Machtzentrum spielen konnte, um die Restauration über die erste, anarchische Phase der ursprünglichen Kapitalakkumulation hinaus zu führen und einen vollständig wieder hergestellten Kapitalismus zu schaffen.

All diese Widersprüche der russischen Restauration verlangten nach einem Regime und einem "Retter", der unbestechlich und unabhängig von den Oligarchen sei, der scheinbar über allen Klassen steht und sich nur dem Wohl der ganzen Nation widme. Einer, der die Würde des Landes wiederherstellt, mit der Korruption aufräumt und gegen Kriminelle und Banditen vorgeht. Kurz und gut, ein Retter der Nation war gefragt, der den gordischen Knoten der Restauration durchschlagen konnte.

Anders formuliert: Die neue herrschende Klasse war zu schwach und zu diskreditiert, ihre Verbündeten in Form der Mittelschichten zu sehr durch die August-Krise angegriffen, verbittert und verunsichert, als dass das Jelzin-Regime - welches eine Art direkte Exekutive der Oligarchen verkörperte - die Restauration aus der Krise holen und vorantreiben hätte können. Ein neues Regime, welches sich durch ideologische Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit von den in bitteren Intrigen und Fraktionskämpfen verstrickten Oligarchen auszeichnete, war gefragt. Die Stunde Putins schlug.

Sein bonapartistisches Regime unterscheidet sich daher nicht nur dem Erscheinungsbild nach von seinem Vorgänger. In der Tat war die neue Bourgeoisie angesichts der explosiven Lage im Lande gezwungen, einen Teil ihrer politischen Macht an Putin abzugeben. Um ihre ökonomische Macht zu retten, war die russische Bourgeoisie gezwungen, ein bedeutendes Stück ihrer politischen Macht abzugeben.

Wenn wir von der politischen Macht Putins sprechen, dann darf das natürlich nicht als Macht einer Person, eines Führers verstanden werden. Vielmehr steht Putin für die neu gewonnene Macht der Repressionsapparates und insbesondere des Geheimdienstes FSB.

Der durch die Folgen der kapitalistischen Restauration völlig zerrüttete Staatsapparat erwies sich als nicht mehr fähig zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Die Polizei ist durch die Bank ineffektiv und korrupt. Die Armee leidet unter den schwindenden Staatsfinanzen, die Soldaten haben oft nicht einmal die notwendigsten Kleidungsstücke und müssen ihre Waffen am Schwarzmarkt verkaufen, um nicht zu hungern. Dies ist auch ein wichtiger Faktor, warum die russische Armee im ersten Tschetschenien-Krieg gegen die Guerillatruppen eines kleinen Volkes eine schwere und demütigende Niederlage einstecken musste und auch heute nicht mit den Rebellen fertig wird.

Stützen des Regimes

Nein, um ihre wirtschaftliche Macht zu retten, musste sich die Bourgeoisie an jenen Teil des Staatsapparates wenden, der als Einziger eine weit gehende Effektivität und Schlagkraft bewahrt hatte: den Geheimdienst.

Bereits bei der Installation Putins als Ministerpräsident und Nachfolger Jelzins erwies sich der FSB als ausschlaggebend. War es doch der Geheimdienst, der im Sommer und Herbst 1999 die politische Atmosphäre schuf für die Legitimität des paranoiden großrussischen Chauvinismus und der hysterischen Suche nach einem starken Mann. Seine Mittel: die Bombenanschläge mit hunderten Todesopfern in Arbeitervierteln russischer Großstädte, die dann den Tschetschenen in die Schuhe geschoben wurden, das über Geheimdienstkanäle provozierte Vordringen radikaler Islamisten nach Dagestan und der darauf folgende Vernichtungskrieg gegen das tschetschenische Volk. Dementsprechend errang der FSB rasch einen enormen Einfluss auf politischer Ebene. Um nur einige wenige Beispiele herauszugreifen, weisen wir auf den Aufstieg von Sergei Iwanow zum Vorsitzenden des Nationalen Sicherheitsrates und dann - als erster Nicht-Militär - zum Verteidigungsminister hin.

Von den sieben "Super-Governeuren" - welche die Arbeit der 89 regionalen Gouverneure überwachen und direkt dem Präsidenten unterstellt sind - kommen fünf aus dem FSB oder aus der Armee, unter ihnen der berüchtigte KGB-Offizier und nunmehrige Generalleutnant Viktor Cherkesov, Vizedirektor des Geheimdienstes FSB. Die Kontrolle des FSB über die Medien wurde drastisch ausgeweitet. Seit Anfang 2001 sind die Operationen der russischen Armee in Tschetschenien dem Oberkommando des FSB unterstellt. Unzählige weitere Beispiele könnten angeführt werden.

Selbstverständlich schwebt die gewachsene politische Macht des Repressionsapparates nicht im luftleeren Raum. Vielmehr ruht die Herrschaft Putins auf einer Allianz des Repressionsapparates mit Teilen des alten Jelzin-Apparates (z.B. der Chef der Präsidentschaftskanzlei Aleksandr S. Voloshin) und Teilen der Oligarchen (z.B. Roman Abramovich, Anatoli Chubais) sowie der mit ihnen verbundenen bürgerlichen Ökonomen (German Gref, Andrei Illarionov). Aber das veränderte Kräfteverhältnis innerhalb dieses herrschenden Blocks ist unverkennbar: Das Gewicht des Repressionsapparates ist deutlich gestiegen.

Und es kann auch gar nicht anders sein, denn welche Struktur soll sonst den bürgerlichen Staat zusammenhalten, soll sonst die notwendige eiserne Faust bilden, um die kapitalistische Restauration mit ihren brutalen, unmenschlichen Folgen weiter voran zu treiben.

Wohin geht Russland?

Wenden wir uns noch einmal genauer der Rolle des Putin-Regimes zu im Zusammenhang mit künftigen Herausforderungen und Widersprüchen der kapitalistischen Restauration in Russland.

In der Tat muss das Putin-Regime sowohl als Wächter als auch "power house" der kapitalistischen Restauration gesehen werden. Durch das skrupellose Aufpeitschen des großrussischen Chauvinismus und Militarismus, den Ausbau und die Konsolidierung des Staatsapparates, die Zentralisierung der politischen Macht (inklusive der Unterordnung einzelner aufbegehrender Oligarchen, Machtbeschneidung der regionalen Gouverneure und Medien) schuf es die politischen Rahmenbedingungen für die Vorantreibung der Restauration im ökonomischen Bereich.

Die Rolle des Staates im ökonomischen Bereich ist mehrfacher Natur. Erstens fungiert er als Eigentümer. Dies ist v.a. im Energiebereich der Fall wie z.B. beim Gaskonzern Gazprom, an dem Moskau 38% der Aktienanteile kontrolliert oder bei RAO EES oder der Eisenbahn.

Damit sind wir jedoch auch schon bei einer der größten Herausforderungen der kapitalistischen Restauration in Russland: der Krise der öffentlichen Infrastruktur und des Maschinenparks. Viele Pipelines, Elektrizitätswerke und Produktionsmitteln sind völlig veraltet. Laut einem 1999 in Moskau veröffentlichten Bericht haben beispielsweise mehr als die Hälfte aller Wärmekraftwerke und 60% aller Wasserkraftwerke Russlands ihre Lebensdauer von 25 Jahre z.T. weit überschritten (5). In anderen Bereichen sieht es nicht besser aus. Katastrophen wie der Brand des Moskauer Fernsehturms Ostankino oder der Untergang des Atom-U-Bootes Kursk sind hier vorprogrammiert. Nur durch massive Investitionen - durch den Staat oder zumindest staatliche Unterstützung - kann ein den weiterer Niedergang der wirtschaftlichen Infrastruktur verhindert werden.

Auf dem Gebiet der ökonomischen Vereinheitlichung Russlands - so existieren z.T. unterschiedliche Gesetze und Handelsbarrieren zwischen den einzelnen Regionen - hat Putin bereits einige Erfolge verzeichnen können. Aber noch gibt es auch hier offene Punkte.

Weitere zentrale Fragen sind notwendige kapitalistische Reformen wie das geplante neue Arbeitsgesetz, welches den Unternehmern größere Vollmachten bei Arbeitszeit, Entlassungen usw. gegenüber den Arbeitern und den Gewerkschaften verschafft; oder die kapitalistische Landreform, die den Kauf und Verkauf von Land ermöglicht; Steuerreformen, die die steuerliche Belastung noch mehr auf die Masse der Arbeiterklasse umwälzt. Schließlich sei noch die für das Kapital überfällige Reform des Bankensektors und Umstrukturierungsmaßnahmen im Unternehmenssektor erwähnt, wodurch viele nicht konkurrenzfähige Betriebe in den Bankrott gestoßen werden und sich der Prozess der Konzentration und Zentralisation des Kapitals beschleunigt.

All diese Maßnahmen dienen dem Zweck, die Ausbeutung der Arbeiterklasse, damit der massiven Steigerung des Mehrwerts und der Schaffung eines inneren kapitalistischen Marktes.

Aufgrund der damit verbundenen wachsenden Spannungen zwischen den Klassen ist es für die Bourgeoisie vordringlich, den Staatsapparat weiter zu konsolidieren. Dazu zählt neben der Stärkung des Zentralstaates auf Kosten der Macht der Regionen insbesondere die Professionalisierung der Armee. In ihrem jetzigen Umfang ist die Armee sowohl teuer als auch ineffektiv. Ein Drittel des niedrigeren Offizierskorps (Zug- und Kompanieführer) sind unbesetzt. 40% der Flugzeuge und die Hälfte der Flugabwehr und der Helikopter gelten als reparaturbedürftig (6).

Deswegen beschloss das Regime Anfang des Jahres Pläne, die Soll-Stärke der Streitkräfte bis zum Jahr 2005 von 1,2 Millionen Soldaten auf etwas über 800.000 Soldaten zu reduzieren. Durch die Kosteneinsparung sollen Finanzmittel für die regelmäßige Bezahlung der verbleibenden Soldaten sowie die technische Modernisierung der Waffenarsenale umgeleitet werden.

Neuer Imperialismus?

Die Krise von 1998 beschleunigte den Prozess der Bildung kapitalistischer Monopole in Russland. Die Abwertung des Rubels verminderte die Importe und schuf damit die Voraussetzung für die russischen Produzenten, den heimischen Markt zurückzuerobern. Ebenso ermöglichten die Rubel-Abwertung und der später einsetzende Anstieg der Erdölpreise den russischen Monopolkonzerne im Energie-, Waffen- und Aluminiumsektor enorme Gewinnsteigerunge. Einige Monopole wie Gazprom, LukOil oder dem Energiekonzern RAO EES investieren sogar nicht unbeträchtliche Kapitalvolumen v.a. in den GUS-Staaten inklusive der Ukraine sowie Ungarn oder Polen oder kaufen Unternehmen auf.

Allerdings mangelt es Russland an einem starken, bedeutenden Finanzkapital. Der Bankensektor ist nach wie vor unterkapitalisiert und war daher im Fusionsprozess von Banken- und Industriekapital nicht der vorantreibende Teil - im Unterschied zur historischen Entstehung des Finanzkapital in den imperialistischen Staaten vor hundert Jahren.

Der russische Staat wird von einer dramatischen Schuldenlast gedrückt. Die Auslandsverschuldung wird auf rund 140 Milliarden Dollar geschätzt, rund die Hälfte davon Kredite bei internationalen Banken. Der größte Gläubiger ist die BRD. Im letzten Jahrzehnt haben westliche Banken und die entstehende russische Bourgeoisie daraus Milliardengewinne gemacht. So auch bei der Krise 1998. Rund 40 Prozent des Haushaltes mussten zu diesem Zeitpunkt zur Bedienung der meist kurzfristigen Kredite verwandt werden. Die IWF-Kredite, die zur "Rettung des Staatshaushalts" vergeben wurden, hätten gleich direkt auf die Konten der westlichen Banken und russischen Oligarchen überwiesen werden können. Sie retteten selbstredend auch nichts und konnten die Entwertung des Rubel und damit auch der Geldvermögen der Arbeiter und Arbeiterinnen nicht stoppen.

Die Struktur der russischen Wirtschaft hat eine überaus einseitige Zusammensetzung. Die neo-liberalen Reformen der 90er Jahren führten zur weitgehenden Zerstörung großer Teile der Industrie, vor allem der Konsumgüterproduzenten. Das russische Kapital ist auf die Energiewirtschaft, Bergbau und Rüstungsindustrie konzentriert. Die neuen Eigentümer diese Industrien, die Oligarchen, stehen jedoch vor einem enormen Problem.

In manchen Regionen Russlands - so in Sachalin - gelang es den westlichen Konzernen praktisch alle russischen Gas- und Ölkonzerne von den Nutzungsrechten der dort vermuteten Rohstoffvorkommen auszuschließen. Die üblichere Strategie besteht jedoch darin, russische Konzerne als Juniorpartner in gemeinsame Konsortien einzubeziehen (z.B. in der Region am Kaspischen Meer).

Das strategische Problem der russischen Kapitalisten ist die überaltete technische Ausstattung ihrer Firmen. In den kommenden Jahren werden Investitionen erforderlich, die ihre Potenzen weit überschreiten. Neben dem Schuldenhebel sehen die imperialistischen Kapitale - egal ob US-amerikanischer, japanischer, deutscher oder britischer Provenienz - darin ihre Chance, die operative Kontrolle selbst über die großen russischen Monopole zu übernehmen.

Aus all diesen Gründen vertreten wir die Auffassung, dass Russland weniger die Charakterzüge eines imperialistischen Landes trägt, sondern eher einem halb-kolonialen Land gleicht. Es besitzt eine regional bedeutende Ökonomie, wichtige multinationale Konzerne im Energie- und Waffensektor, jedoch gleichzeitig ein schwaches Finanzkapital und ist vor allem hoch verschuldet und spielt eine marginalisierte Rolle auf den Weltkapitalmärkten. So z.B. ist Russland verpflichtet, im Jahre 2003 Schulden zurückzuzahlen, die bei gegenwärtigen Projektionen die Hälfte der Budgeteinnahmen ausmachen (7).

Russland ist abhängig von den Bewegungen auf den Kapitalmärkten, den weltweiten Zinsentwicklungen usw. und ist nicht einmal ein Juniorpartner einer Koalition imperialistischer Staaten, die diese Bewegungen beeinflussen könnte. Insofern hat die Niederlage im Kalten Krieg, die Knute der von Imperialisten aufgezwungenen Restaurationsprogramme, der soziale Niedergang (Reduzierung der Bevölkerung, Ausbreitung von Krankheiten usw.) dazu geführt, dass Russland dem Status eines halb-kolonialen Staates näher ist als dem eines imperialistischen. Insofern ist es wahrscheinlich, dass Russland ein regional starker halb-kolonialer Staat im Einflussbereich der Europäischen Union wird.

Fassen wir zusammen: Dem reaktionären Putin-Regime sind - vor dem Hinterrund der Niederlage der russischen Arbeiterklasse in der vorrevolutionären Krise im Herbst 1998 - durch die Errichtung einer bonapartistischen Herrschaft ohne Zweifel wichtige Erfolge beim Vorantreiben der kapitalistischen Restauration und der Konsolidierung des bürgerlichen Staatsapparates gelungen. Gleichzeitig steht der russische Kapitalismus nach wie vor enormen wirtschaftlichen und politischen Problemen gegenüber, die zu einer erneuten Krise und revolutionären Krisen führen kann.

Was bedeutet dies alles für die Arbeiterbewegung Russlands? Sicherlich hat das Proletariat im Herbst 1998 eine schwere Niederlage erlitten. Eine Niederlage, die für die ganze darauf folgende Periode der Bourgeoisie die Initiative überließ und die Arbeiterklasse in eine Defensive drängte.

Vor diesem Hintergrund setzte in der Arbeiterbewegung eine wichtige Polarisierung ein. Angesichts der Nähe der offiziellen Gewerkschaftsführung zum Regime haben sich mehrere unabhängige, kämpferische Gewerkschaften gebildet, von denen insbesondere die Gewerkschaft Zashita - "Selbstverteidigung" - zu erwähnen ist. Ihr Führer, Oleg Shein, wurde bei den Wahlen zur Staatsduma im Dezember 1999 zum Abgeordneten gewählt.

Folgen für die ArbeiterInnenbewegung

Zashita ist zwar landesweit eine eher kleine Gewerkschaft mit ca. 10.000 Mitgliedern, verfügt aber insbesondere in der Industrieregion Astrakhan über eine signifikante Verankerung und hat bereits Kämpfe gegen den Gaskonzern Gazprom angeführt und auch gewonnen.

In den letzten Jahren gab es einige wichtige betriebliche Auseinandersetzungen wie den Besetzungsstreik in Vyborg. Der wichtigste Kampf in den beiden letzten Jahren war der gegen die geplante Reform des Arbeitsgesetzes. Diese Kampagne ist auch ein Schwerpunkt von Zashita und insofern von großer Bedeutung, als es sich nicht um eine betrieblich-ökonomische Auseinandersetzung, sondern eine allgemeine politische Kampagne gegen eine reaktionäre Initiative der Regierung handelt.

Oleg Shein hat in der Duma ein alternatives Arbeitsgesetz vorgelegt, welches eine Ausweitung der Rechte der Lohnabhängigen vorsieht. Dieses alternative Arbeitsgesetz hat aber v.a. agitatorische Bedeutung und keine Chance auf Annahme. Wichtiger ist hier vielmehr die Kampagne in den Betrieben und auf der Straße. Zashita hat bislang zwei landesweite Aktionstage organisiert, die auch von anderen Gewerkschaften bzw. lokalen Sektionen unterstützt wurden und an denen sich zehntausende Menschen beteiligten.

Dies alles soll jedoch nicht über die grundlegend defensive Situation hinwegtäuschen, in der sich die russische Arbeiterklasse befindet. Der gegenwärtige Wirtschaftsaufschwung wird zwar die ökonomische Position der Beschäftigten stärken, aber es wäre illusionär zu glauben, dass der katastrophale Dreifachschlag, den das Proletariat Russlands einstecken musste, ohne Folge bliebe:

die stalinistische Herrschaft und die damit verbundene politische Atomisierung der Arbeiterklasse

die Verarmung und materielle Atomisierung in den 1990er Jahre durch die kapitalistischen Restauration

die Niederlage im Herbst 1998.

Es ist daher wenig wahrscheinlich, dass das Putin-Regime kurzfristig durch eine Offensive der Arbeiterklasse in die Krise gerät. Das Proletariat muss vielmehr versuchen, die eigenen Abwehrkämpfe zu bündeln und zu politischen Kampagnen zusammenzufassen (wie im Fall des Kampfes gegen das Arbeitsgesetz), um so die eigenen Kräfte zu sammeln und neu zu formieren. Zweifellos ist es auch notwendig in diesem Zusammenhang von Aktions- und Kampfformen in anderen Ländern zu lernen, wie z.B. den Blockadeaktionen in Argentinien, durch die Arbeitslose, Unterbeschäftigte, Frauen und Rentner organisiert und mobilisiert werden konnten.

Die russische Arbeiterbewegung muss solche Aktionen mit dem Kampf gegen die Ausschaltung demokratischer Rechte und gegen den großrussischen Chauvinismus verbinden. Der mörderische Tschetschenienkrieg und der vom Regime geschürter Antiislamismus dienen dem Regime, um die Arbeiterklasse zu spalten und gegen die unterdrückten Nationen aufzuhetzen.

Umso wichtiger ist es, dass die Keime der Wiederbelebung der Arbeiterbewegung nicht erneut durch reformistische Bürokraten in die Niederlage geführt werden. Der Aufbau einer revolutionären Arbeiterpartei als Teil der revolutionären Internationale ist heute die vordringlichste Aufgabe in Russland um sich in den weltweiten Kampf für die soziale Revolution einzureihen. In diesem Sinne ist die Tätigkeit der LRKI in Ost und West ausgerichtet: Vorantreiben der Weltrevolution!

Fußnoten

(1) Central European Quartlerly I-II/2001, Wirtschaftsinformationen aus Mittel- und Osteuropa, S. 48; die Angaben für 2001 sind Prognosen.

(2) Ein gutes Beispiel dafür ist das neue Buch der langjährigen Moskau-Korrespondentin der bürgerlichen Financial Times Chrystia Freeland "Sale of the Century" (London 2000). In den Jahren davor pries Freeland noch die "mutige Schritte zur Marktwirtschaft" unter Jelzin.

(3) siehe Keith Harvey: The death agony of a workers state, Trotskyist International Nr. 22, 1997. Von bürgerlicher Seite geben folgende Bücher einen informativen Überblick über den Niedergang Russlands in den 1990er Jahren: Thane Gustafson: Capitalism Russian-style, Cambridge 1999; David Woodruff: Money unmade --Barter and the Fate of Russian Capitalism, New York 1999; Thomas F. Remington: Politics in Russia; New York 1999; Vladimir Tikhomirov: The second collapse of the Soviet Economy: Myths and Realities of the Russian Reform, in: Europe-Asia Studies, 2/2000, S. 207-236; G. Khanin/N. Suslov: The Real Sector of the Russian Economy: Estimation and Analysis, in: Europe-Asia Studies, 8/1999, S. 1433-1454; Philip Hanson: The Russian Economic Crisis and the future of Russian Economic Reform, in: Europe-Asia Studies, 7/1999, S. 1141-1166; Roland Götz: Die Privatisierung der russischen Industrie in Theorie und Praxis, in: Osteuropa 10/2000, S. 1097-1114; Hans-Henning Schröder: El'tsin and the Oligarchs: The role of Financial Groups in Russian Politics Between 1993-1998, in: Europe-Asia Studies, 6/1999, S 957-988. Eine Einschätzung des Russlands der 1990er Jahre von einer fortschrittlicheren wenn auch reformistischen Perspektive bietet Roy Medvedev: Post-Soviet Russia: A Journey through the Yeltsin Era, New York 2000

(4) Die Staats-Duma ist das All-Russische Parlament. Daneben gibt es auch Dumas in den regionalen Gouvernements.

(5) Siehe Johnson Russia List: Research and Analytical Supplement No. 1, 4. 9. 2001

(6) Siehe dazu u.a. On some results of the reform of the Russian Armed Forces; Russian Military Analysis - DEFENSE AND SECURITY Issue No. 53, 11 May 2001

(7) So wuchs Russlands Auslandsverschuldung alleine zwischen 1996 und 1999 von 34.3% auf 83.9% an! Seitdem konnte das Niveau zwar wieder auf heuer 58.7% gedruckt werden, aber die Last der Zinszahlungen ist nichtsdestotrotz gewaltig.

(8) Quelle: Oleg Shein: On the All-Russian campaign in Defense of KZoT and on the unscurpulous speculations around it, 19.1.2001

 

Exkurs 1: Die Bedeutung der nationalen und demokratischen Frage

Die Herausbildung eines machtvollen bonapartistischen Staatsapparates mit all seinen politischen und ideologischen Konsequenzen und die Defensive der Arbeiterklasse verleihen der nationalen und demokratischen Frage eine besondere Bedeutung. Mit Beginn des zweiten Tschetschenien-Krieges setzte eine massive Welle des großrussischen Chauvinismus und Militarismus ein, der sich nicht bloß gegen "den westlichen Einfluss" richtete, sondern viel mehr und viel militanter in einem Rassismus gegen "die Schwarzen" - sprich die Menschen aus dem Kaukasus - und Moslems sowie einem virulenten Antisemitismus Ausdruck fand.

Der Tschetschenien-Krieg, der in diesem kleinen, nach Unabhängigkeit strebende Land mit einer Bevölkerung von einer Million Menschen Armageddon Wirklichkeit werden lässt, besitzt wegen des Ausstiegs Putins und als Mittel zur Spaltung der Arbeiterklasse strategische Bedeutung für das Regime.

Aber der restaurationistische Bonapartismus stieg nicht nur auf den Leichen der Tschetschenen empor, sondern stärkte sich auch durch die zunehmende Knebelung der Medien. Unliebsame bürgerliche Journalisten wie Babitsky und Medieneigentümer wie der Oligarch Gusinsky, die kritisch über das Regime berichteten, wurden kaltgestellt, verhaftet und ins Exil getrieben.

Als Marxisten und Marxistinnen haben wir keinerlei Illusionen in bürgerliche oder kleinbürgerliche Kräfte wie die tschetschenische Führung um Maschkadow oder Bassajew oder den liberalen Oligarchen Gusinsky, der erst liberal wurde, als er aus dem innersten Zirkel um Jelzin verstoßen wurde. Die Arbeiterklasse sollte keine Hoffnungen in diese Leute setzen und muss ihnen jede politisch Unterstützung verweigern.

Wir sind uns auch im Klaren darüber, dass das Regime sich nicht deswegen gegen sie wendet, weil sie Bürgerliche sind, sondern weil sie - im Falle der Tschetschenen - an der Spitze eines gerechten nationalen Befreiungskampfes stehen oder weil sie - wenn auch aus bürgerlichen Interessen heraus - durch eine kritische Berichterstattung Sand ins Getriebe der Propagandamaschinerie des Regime streuen.

Deswegen dürfen revolutionäre Kommunisten und Kommunistinnen aber keineswegs neutral bleiben, sondern müssen diese klipp und klar gegen das Regime verteidigen, ohne die politische Kritik an diesen arbeiterfeindlichen Kräften auch nur einen Augenblick zurückzustellen. Deswegen steht die LRKI bedingungslos auf Seiten der tschetschenischen Guerillakämpfer und deswegen lehnen wir die Verfolgung unliebsamer bürgerlich-liberaler Kritiker durch das Putin-Regime ab.

Diverse Zentristen rechtfertigen ihre Weigerung, in solchen politischen Auseinandersetzungen Partei zu ergreifen mit dem Argument, dass dies bloß ein Streit zwischen Bürgerlichen sei. Es ist das klassische Argument des Ökonomismus, der nicht verstehen kann, dass die kapitalistische Gesellschaft nicht bloß aus dem ökonomischen Klassengegensatz besteht, sondern dieser Klassengegensatz in einem komplexen Netz politischer, ideologischer, kultureller Antagonismen eingebettet ist und darüber hinaus diese Gesellschaft aus verschiedenen Klassen und Schichten besteht und auch diese Klassen wiederum von verschiedenen Widersprüchen durchzogen sind.

Der Kapitalismus ist nicht bloß ein wirtschaftliches, sondern ein umfassendes gesellschaftliches System. Die Auspressung des Mehrwerts erfordert ein entsprechendes politisches System, einen Staat, Gesetze, Repressionsorgane etc. Und schließlich ist noch ein umfassender ideologisch-kultureller Apparat notwendig - Medien, Schulen usw. - was wiederum damit zusammenhängt, dass der Kapitalismus nicht ohne ein Proletariat und Zwischenschichten existieren kann mit einem entsprechenden bürgerlichen Bewusstsein.

Das klassenbewusste Proletariat darf daher bei solchen politischen Auseinandersetzungen, die nicht im betrieblichen Bereich stattfinden, keine passiv-kommentierende Haltung einnehmen. Vielmehr geht es darum, jeden Konflikt auszunützen, um die herrschende Klasse zu schwächen und durch die Verteidigung nationaler und demokratischer Rechte die Stellung des Proletariats zu stärken und Verbündete unter den Bauern, Kleinbürgertum und den Mittelschichten zu gewinnen.

Der Widerstand gegen alle Angriffe auf demokratische und nationale Rechte ist notwendig, da die herrschende Klasse dadurch ihre Macht ausbauen und die Arbeiterklasse besser unterdrücken kann. So stellt sich die Lage heute in Russland dar und daher sollten revolutionäre Arbeiterinnen und Arbeiter klar und unmissverständlich gegen Putins bonapartistisches Regime Stellung beziehen.

 

Exkurs 2: Das marxistische Konzept des restaurationistischen Bonapartismus

Der Restaurationsprozess - also der historisch einmalige konterrevolutionäre Prozess des Übergangs von der Planwirtschaft zum Kapitalismus - war und ist eine der wichtigsten programmatischen Herausforderungen für Marxisten und Marxistinnen in der jüngeren Vergangenheit. Die LRKI hat im letzten Jahrzehnt einen Schwerpunkt darauf gelegt, den Restaurationsprozess zu analysieren und programmatisch zu verarbeiten. Auf dem letzten LRKI-Kongress haben wir unsere politischen Analyse weiterentwickelt und das Konzept des "bürgerlich-restaurationistischen Staates" erarbeitet.

Hier wollen die konkreten Formen des bürgerlich-restaurationistischen Staates betrachten. Am Beispiel des Putin-Regimes untersuchen wir ein wichtiges politisches Phänomen der kapitalistischen Restauration. Mit dem Prozess der kapitalistischen Restauration in den vergangenen zehn Jahre hat sich eine spezifische Form des Bonapartismus herausgebildet - der restaurationistische Bonapartismus.

Er zeichnet sich zuallererst durch seine spezifische Aufgabe aus: der erfolgreichen Transformation der Ökonomie und der gesellschaftlichen Institutionen vom degenerierten Arbeiterstaat hin zum Kapitalismus. Dementsprechend ist die Basis des restaurationistisch-bonapartistischen Regimes eine Allianz der pro-kapitalistischen Bürokratie (einer Kaste, die noch aus der Zeit des degenerierten Arbeiterstaates entstammt) mit der neu entstehenden Bourgeoisie. Diese politische Transformation findet vor dem Hintergrund des mit der Zerstörung proletarischer Eigentumsverhältnisse unweigerlich verbundenen wirtschaftlichen Kollapses und der Zerrüttung der gesellschaftlichen Verhältnisse statt.

Daraus ergibt sich auch die ambivalente Grundlage des restaurationistischen Bonapartismus. Auf der einen Seite besitzt er eine relativ schwache, fragile soziale Basis. Die neue Bourgeoisie ist noch verhältnismäßig klein und darüber hinaus diskreditiert sie sich rasch als Plünderin des Volksvermögens. Die Mittelschichten besitzen ebenso noch ein eher geringes gesellschaftliches Gewicht. Die Bürokratie selber befindet sich in einem Umwandlungsprozess von der politisch herrschenden Kaste im Stalinismus hin zur Dienerin der Bourgeoisie. Den eben erst zur Marktwirtschaft Konvertierten fehlt das Vertrauen der Bevölkerung und sie hoffen, dass ihre Vergangenheit im Stalinismus rasch in Vergessenheit gerät.

Die durch die kapitalistische Restauration hervorgerufene wirtschaftliche und politische Zerrüttung stellt die Grundlage für massive Spannungen und Auseinandersetzungen innerhalb der neuen herrschenden Klasse dar, die zu wiederholten Regierungskrisen und -wechseln bis hin zu Staatsstreichen führen kann.

Mit dem wirtschaftlichen Kollaps ergibt sich eine Reduzierung der materiellen Ressourcen zur Finanzierung des Staatsapparates. Dies schwächt allgemein die Fähigkeit des Regimes, ihre Gesetze durchzusetzen und die Gesellschaft zu regulieren. Allgemein gesprochen erhöht es die Gefahr eines Zusammenbruchs des Staatsapparates in Zeiten offener gesellschaftlicher Krisen. Als Beispiele hierfür sei der Zusammenbruch von Berishas Staatsapparat und die albanischen Revolution 1997 angeführt, der Rückzug der Polizei vor dem rumänischen Bergarbeitermarsch im Jänner 1999, oder auch der erbärmliche Zustand der russischen Armee, die sich 1994-96 und teilweise auch heute noch als unfähig erweist, das kleine Tschetschenien zu erobern und zu befrieden.

Gleichzeitig jedoch verfügt das restaurationistisch-bonapartistische Regime über einen immensen Vorteil: die Atomisierung, Konfusion und Demoralisierung seines Feindes - der Arbeiterklasse, die durch die soziale Konterrevolution eine historische Niederlage erlitten hat.

Der Mangel einer stabilen Unterstützung durch die Klassen der Gesellschaft führt dazu, dass das Regime auf den bewaffneten Staatsapparat - Armee, Polizei und Geheimdienste - bzw. die Bürokratie im Allgemeinen angewiesen ist. Der Aufstieg der Geheimdienstleute im neuen Regime Russlands - inklusive dem Präsidenten - sind ein aktuelles Beispiel dafür.

Untersucht man den bürgerlich-restaurationistischen Staatsapparat genauer, so kann man klare Unterschiede zwischen dem Entwicklungsweg Osteuropas (inklusive dem Baltikum) sowie der GUS-Staaten (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, d.i. die ehemaligen Sowjetunion ohne dem Baltikum) erkennen. In Osteuropa wurde und wird der Restaurationsprozess im Großen und Ganzen durch bürgerlich-demokratische Regimes durchgesetzt (wenn auch z.T. mit bonapartistischen Elementen in Form eines starken Präsidenten). In den GUS-Staaten hingegen existieren überall restaurationistisch-bonapartistische Regime - wenn auch manchmal mit demokratischen Elementen kombiniert.

Was sind die Ursachen für diesen unterschiedlichen Weg? Allgemein gesprochen ist die Herausbildung eines restaurationistischen Bonapartismus mit der Entwicklung des Kapitalismus selbst verbunden.

Sicherlich spielen dabei politische Widersprüche eine wichtige Rolle wie z.B. nationale Kriege bzw. Bürgerkriege (wie z.B. auf dem Balkan, im Kaukasus und z.T. auch in Zentralasien).

Im Falle Russlands hat auch die Größe des Landes eine Bedeutung für die Schwierigkeiten des kapitalistischen Transformationsprozesses. Aber dies ist nicht der ausschlaggebende Faktor, denn wir können dieselben Schwierigkeiten des kapitalistischen Restaurationsprozesses in den kleineren GUS-Staaten beobachten.

So wichtig all diese Faktoren auch sind, so muss ein marxistisches Verständnis des restaurationistischen Bonapartismus bei den Ursachen der unterschiedlichen Entwicklung des Kapitalismus im Allgemeinen und der unterschiedlichen Entwicklung des Formationsprozesses der kapitalistischen Klassen im Besonderen ansetzen. Genauer gesagt, das Phänomen des restaurationistischen Bonapartismus ist mit der unterschiedlichen Stärke der Klassen und Schichten, die die Basis für die kapitalistische Restauration bilden, untrennbar verbunden.

In dieser Hinsicht spielt der Zufluss von ausländischen, imperialistischen Kapital eine wichtige Rolle. So flossen in den entscheidenden Jahren der kapitalistischen Transformation der Großteil der ausländischen Direktinvestitionen nach Osteuropa und nur wenig in die GUS. So beträgt der zwischen 1989-1999 kumulierte Auslandskapitalstock pro Kopf beispielsweise in Rumänien und Bulgarien rund $250, in Litauen und Polen rund $500, in der Tschechischen Republik über $1.300 und in Ungarn gar über $1.700. In Russland und der Ukraine hingegen liegt der entsprechende Betrag bei bloß rund $50 (i).

Es liegt auf der Hand, dass ein solch immenser Kapitalfluss wesentlich für die Herausbildung einer neuen Bourgeoisie ist, wobei dieser Prozess gleichzeitig auch über den spezifischen Charakter des neuen Kapitalismus in Osteuropa entscheidet: nämlich eines halb-kolonialen Kapitalismus - formell-staatlich unabhängig, aber von seinem ökonomischen und damit auch letztlich politischen Wesen her den imperialistischen Staaten untergeordnet.

Damit einher geht auch der genauere Charakter der neuen Bourgeoisie in Osteuropa. Sie besteht entweder direkt aus imperialistischem Kapital - sprich die multi-nationalen Konzerne und deren Dependancen - oder aus "nationalem" Kapital, das jedoch zu schwach ist, um eine eigenständige Rolle zu spielen und sich daher mit dem dominanten imperialistischen Kapital arrangiert. Selbst in der Tschechischen Republik - einem der industriell entwickeltsten Ländern Osteuropas - zeichnen die multi-nationalen Konzerne für über 2/3 aller Exporte verantwortlich.

Aber dies beantwortet die Frage nicht zur Genüge, sondern führt uns vielmehr zur nächsten Frage: Warum floss so viel ausländisches Kapital in Form von Direktinvestitionen nach Osteuropa und in das Baltikum und nicht in die GUS?

Wir kommen damit zur grundlegendsten Ursache für das unterschiedlich rasche Voranschreiten der kapitalistischen Restauration und damit die unterschiedlichen Formen des politischen Regimes - nämlich der unterschiedlichen historischen Basis für den Kapitalismus. In Osteuropa und auch dem Baltikum wurde der Kapitalismus erst Ende der 1940er Jahre abgeschafft, während er in den GUS-Staaten seit mehr als siebzig Jahren nicht existierte.

In Ländern wie Polen, Ungarn oder Jugoslawien gab es sogar schon vor 1989 eine nennenswertes Kleinbürgertum, welche das Rohmaterial für die relativ rasche Formierung einer neuen kapitalistischen Klasse lieferte.

Aber auch in Ländern, wo in der Zeit des Stalinismus kaum ein Kleinbürgertum existierte (wie z.B. der Tschechoslowakei, Albanien oder Rumänien) gab es nichtsdestotrotz Schichten, deren Ursprung in bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Klassen lag - sei es persönlich oder via deren Eltern. Die Mittelschichten, die Bauern, ja auch wesentliche Teile der Bürokratie konnten sich daher aufgrund ihrer direkten oder indirekten Erfahrung mit dem Kapitalismus viel rascher auf die Erfordernisse der kapitalistischen Restauration umstellen. Auf dieser historischen Grundlage konnte die Formierung einer neuen Bourgeoisie und Mittelschichten selbst in Ländern, wo es anfänglich wenig ausländische Direktinvestitionen gab (z.B. die Slowakei) relativ zügig voranschreiten. Im Gegensatz dazu fehlte diese historische Tradition in der GUS-Staaten.

Ein zentraler Grund besteht jedoch im unterschiedlichen Verhältnis zu Russland und in den unterschiedlichen Ambitionen der russischen Staatsbürokratie und Bourgeoisie. Diese will keine abhängige halb-koloniale Rolle unter Dominanz des westeuropäischen oder irgend eines anderen Imperialismus spielen. Sie beansprucht für sich weiter die Rolle einer internationalen Großmacht, auch wenn die ökonomische Basis dafür nicht vorhanden sein mag.

Die konkreten historischen Bedingungen nach 1945 markierten einen wichtigen Unterschied zwischen Osteuropa, dem Baltikum und der ehemaligen GUS. Wenn auch unfreiwillig, sah sich die Sowjetunion und später Russland gezwungen, diese Einflussgebiete dem Westen zu überlassen. Die GUS-Staaten wurden jedoch weiter als russischer Einflussbereich beansprucht - was umgekehrt auch der Westen bis zu einem gewissen Grad anerkannte und bis heute anerkennt. Serbien versuchte im ehemaligen Jugoslawien einen ähnlichen Anspruch durchzusetzen, scheiterte jedoch am Widerstand der unterdrückten Nationen und des Imperialismus.

Die besondere Rolle Russlands in den GUS-Staaten führt auch dazu, dass viele diese Regime in politischer wie wirtschaftspolitischer Hinsicht eine abwartende Haltung einnehmen - ob Russland seine imperialistischen Ansprüche verwirklichen kann oder vollends zu einer Halbkolonie des imperialistischen Kapitals wird.

Die Ambitionen der russischen Staatsführung und der Kapitalistenklasse führen notwendigerweise auch dazu, dass der russische Staat im Prozess der kapitalistischen Restauration versucht, die ökonomische Basis für eine imperialistische Zukunft zu retten oder zu schaffen. Mag dieses Vorhaben auch schwer durchführbar sein, so wird die russische Kapitalistenklasse es nicht freiwillig und leichtfertig aufgeben - woraus sich sowohl die Notwendigkeit eines starken, bonapartistischen Staates wie auch weiterer innerer Krisen der Restauration ergeben werden.

All diese unterschiedlichen historischen Voraussetzungen erklären, warum in den GUS-Staaten - im Unterschied zu den meisten Ländern Osteuropas - restaurationistisch-bonapartistische Regimes an der Macht sind.

Fußnote

(i) Business Central Europe, Juni 2000, S. 64

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