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Arbeiterklasse und Revolution

Thesen zum Marxistischen Klassenbegriff

Markus Lehner, Revolutionärer Marxismus 28, wiederveröffentlicht Revolutionärer Marxismus 42, Oktober 2010

II. Kritik der bürgerlichen Klassentheorien

Die Auflösung des Ständischen ist nicht die Auflösung der Klassen

Die Vielheit der gesellschaftlichen Differenzierungen, die sich im Kapitalismus der letzten Jahrzehnte herausgebildet hat, genauso wie die "Auflösung traditioneller Arbeitermilieus", das vorgebliche Schrumpfen der Industriearbeiterschaft, die fortschreitende "Individualisierung" einer "Mittelstands"- oder "Dienstleistungs"-Gesellschaft - dies und ähnliches sind die beliebten Textbausteine, durch die kurz und bündig die Marxsche Klassenanalyse als "vorgestrig" abgetan wird. Dabei wird sich zeigen, daß diese Erscheinungsformen von Differenziertheit und Individualisierung geradezu unmittelbare Folgen der Verdinglichungsprozesse des Arbeitsvermögens sind, wie sie Marx im "Kapital" beschreibt.

Die Vielheit gesellschaftlicher Differenzierungen im Kapitalismus ist für Marxisten nicht nur "ideologischer Schein", hinter der sich die fortschreitende Polarisierung zwischen Arbeiterklasse und Kapital verbirgt, sie ist auch ein reales Produkt gerade der selben Bewegung, die die Klassenpolarisierung vorantreibt. In dieser gleichzeitigen Vereinfachung der Klassenwidersprüche in der gesellschaftlichen Basis und Verkomplizierung der Differenzierungen an der gesellschaftlichen Oberfläche wird die Spannweite des Problems der Klassenanalyse deutlich.

 

Diesen Zusammenhang von Differenzierung und Vereinheitlichung macht Marx bereits in einem entscheidenden Teil der "Deutschen Ideologie" deutlich, in dem er auf die Entwicklung des Verhältnisses des Individuums zu seiner Vergesellschaftung eingeht:

"Die Individuen gingen immer von sich aus (...). Aber im Lauf der historischen Entwicklung und gerade durch die innerhalb der Teilung der Arbeit unvermeidliche Verselbständigung der gesellschaftlichen Verhältnisse tritt ein Unterschied heraus zwischen dem Leben jedes Individuums, soweit es persönlich ist und insofern es unter irgendeinen Zweig der Arbeit und die dazugehörigen Bedingungen subsumiert ist (...). Im Stand ist dies noch verdeckt, z.B. ein Adliger bleibt stets ein Adliger, ein Roturier [Bürgerlicher] stets ein Roturier, abgesehen von seinen sonstigen Verhältnissen, eine von seiner Individualität unzertrennliche Qualität. Der Unterschied des persönlichen Individuums gegen das Klassenindividuum, die Zufälligkeit der Lebensbedingungen für das Individuum, tritt erst mit dem Auftreten der Klasse ein, die selbst ein Produkt der Bourgeoisie ist. Die Konkurrenz und der Kampf der Individuen untereinander erzeugt und entwickelt diese Zufälligkeit als solche. In der Vorstellung sind daher die Individuen freier als früher, weil ihre Lebensbedingungen zufällig sind; in der Wirklichkeit sind sie natürlich unfreier, weil mehr unter sachliche Gewalt subsumiert". (16)

Während der ständische Handwerker durch eine ganz bestimmte Fertigkeit, Arbeitsweise, einen bestimmten Lebensstil, ein charakteristisches Milieu etc. gekennzeichnet war, gehört es gerade zum Wesen der Arbeiterklasse, daß all diese festen Bestimmungen zu etwas Zufälligem, jederzeit Vergänglichen werden. Die unterschiedlichsten Schichten, mit verschiedensten Lebensstilen, kulturellen Eigenheiten, Werthaltungen, Milieucharakteristika werden durch die sachliche Gewalt der kapitalistischen Akkumulation in eine abstrakt-allgemeine Klassenlage geworfen, ob sie es wahrhaben wollen oder nicht. Alle Auffassungen, die von einem ein für alle Mal festliegenden Arbeitermilieu, einer charakteristischen Arbeiterkultur, -moral oder typischen Arbeiterlebensstilen ausgehen, entwickeln eigentlich eine Theorie des "Arbeiterstandes". Dies ist insbesondere für den sozialdemokratischen und stalinistischen Arbeiterbegriff typisch.

Eine einheitliche "proletarische Lebensweise" ist für den marxistischen Arbeiterklassenbegriff weder notwendig noch wünschenswert. Es muß vielmehr davon ausgegangen werden, daß das proletarische Klasseninteresse eine Vielzahl unterschiedlichster Milieus vereint, die oft auch verschiedenartige politische Schattierungen hervorbringen. Nur der Klassenkampf, die Notwendigkeit von Klassensolidarität und das revolutionäre Klassenziel bringen wesentlich so etwas wie proletarisches Verhalten, proletarische Moral, proletarisches Klassenbewußtsein etc. hervor. Dies bedingt, daß Klassenbewußtsein und Klassensolidarität immer wieder neu hergestellt und erkämpft werden muß, daß immer wieder neue "Koalitionen", "Bündnisse", etc. der verschiedensten Schichten und sie repräsentierenden Strömungen hergestellt werden müssen, in die der Akkumulationsprozeß die Klasse differenziert und dabei alte Zusammenschlüsse auflöst.

Der Klassenbegriff in der bürgerlichen Gesellschaftswissenschaft

Die bürgerliche Soziologie (sofern sie sich überhaupt ernsthaft um wissenschaftliche Erklärung und nicht bloß um herrschaftskonforme Sozialtechnologie bemüht) verliert sich naturgemäß in der Zufälligkeit der gesellschaftlichen Oberflächenerscheinungen und ihren vielfältigen Differenzierungen. Eines der zentralen Werke der traditionellen bürgerlichen Soziologie ist sicherlich Max Webers "Wirtschaft und Gesellschaft", in dem ein Kapitel dem Thema "Klassen und Stände" gewidmet ist. Der Hauptbegriff der Weberschen soziologischen Kategorisierung ist der der "Marktchancen".

Die Differenzierung der Gesellschaft in Klassen wird dabei primär als Ergebnis der ungleichen Verteilung von Ressourcen dargestellt, die auf dem (Güter- und Arbeits-) Markt unterschiedliche Lebenschancen in Hinblick auf langfristige Erwerbs- und Besitzinteressen hervorbringen: "Prinzipiell konstituiert die Verfügungsgewalt über jede Art von Genußgütern, Beschaffungsmitteln, Vermögen, Erwerbsmitteln, Leistungsqualifikationen je eine besondere Klassenlage". (17)

Bemerkenswert ist bei Weber der Einschluß von "Leistungsqualifikationen" in dieser Liste: der Besitz einer bestimmten Qualifikation liegt hier auf der selben theoretischen Ebene wie etwa der Besitz einer Kohlengrube. Gut qualifizierte Arbeiter einer bestimmten Branche konstituieren damit genauso eine spezifische Klassenlage wie Händler oder gewerbliche Unternehmer. Diese Webersche "Entdeckung" der Bildungsressource für die Soziologie bildet die Basis für eine Vielzahl an Theorien über sogenannte "Mittelklassen". Theoretisch führt Webers Theorie des Zusammenhangs von Marktchancen und Klassenlagen zu einer theoretisch unendlichen Zahl an möglichen Klassenlagen. Beginnend mit Weber wurden daher außerökonomische Momente in die Soziologie eingeführt, die erst aus den möglichen Klassenlagen mehr oder weniger feste soziale Klassen sortieren. Verschiedene Klassenlagen fügen sich bei Weber zu einer sozialen Klasse zusammen, wenn zwischen ihnen ein Wechsel persönlich oder in der Generationsfolge erfolgen kann und als "gesellschaftlich normal" angesehen wird.

Dieser Zusammengehörigkeit entspricht ein gewisser "sozialer Status", der diesen Klassenlagen beigemessen wird, in dem sich sowohl eine gesellschaftliche Werteskala als auch bestimmte kulturelle und politische Typisierungen (der "Idealtyp") ausdrücken. Im Unterschied zu vielen seiner Nachfolger muß man Weber zu Gute halten, daß er zumindest einen eindeutigen Zusammenhang von Klassenfrage und Machtverhältnissen zugegeben hat: Die größeren "Marktchancen" der besitzenden Klassen bieten diesen nicht nur "mehr Lebenschancen", sondern bedeuten vor allem auch "die Chance eines Menschen oder einer Mehrzahl solcher (...), den eigenen Willen in einem Gemeinschaftshandeln auch gegen den Widerstand anderer daran Beteiligter durchzusetzen" (18). Bei Weber reduziert sich die soziale Schichtung nicht auf die ungleiche Verteilung des Reichtums durch den Markt, sondern bedeutet auch eine bestimmte Beziehung zwischen den gesellschaftlichen Gruppen, in der sich Machthaber und Ohnmächtige gegenüberstehen.

Bourdieus bürgerliche Soziologie

Als bedeutendere Weiterentwicklung in der bürgerlichen Soziologie nach Weber ist vor allem Pierre Bourdieus Theorie des "sozialen Habitus" zu nennen (z.B. in "Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft"; "Sozialer Raum und Klassen", ....). Ähnlich wie Weber geht Bourdieus Klassenanalyse von einem Zusammenhang von Klassenzugehörigkeit und unterschiedlichen Zugriffsmöglichkeiten auf "knappe Ressourcen" aus. Anders als Weber betont Bourdieu jedoch viel mehr außerökonomische ("kulturelle") "Besitztümer".

In verwirrender Weise spricht er dabei von Kapital, das er mit "Macht" oder "Verfügungsgewalt" gleichsetzt. Er unterscheidet dabei ökonomisches Kapital von kulturellem Kapital, das wiederum in verschiedenste Dimensionen zerlegt wird (z.B. zählen hier neben Qualifikationen auch "verinnerlichte" Verhaltensdispositionen und "soziale Kompetenzen" dazu). Klassenlagen definieren sich bei Bourdieu danach durch das Volumen an "Kapitalbesitz", die Struktur (Mischung von ökonomischem und kulturellem Kapital), sowie die soziale Laufbahn (typische Lebensläufe in denen dieses Kapital angeeignet wird). Daneben gehen bei ihm sekundäre Merkmale (Geschlecht, Ethnie, geographische Verteilung) in die spezifische Klassenbildung ein.

Auch auf dieser Grundlage ergibt sich wieder die Möglichkeit einer beliebigen, unendlichen Vielfalt von Klasseneinteilungen. Bourdieus Einengung dieser Vielfalt ergibt sich aus seiner Theorie des "sozialen Habitus": Auf der Grundlage des "Kapitalbesitzes" ergibt sich eine Struktur von Verhaltens-, Wahrnehmungs-, Denkweisen, die in Zusammenhang mit einer bestimmten Kapitalstruktur zu einer selbst-reproduktiven Struktur wird. Der Habitus beruht dabei nicht einfach auf Wiederholung "gewohnter" Verhaltensweisen, sondern ist der Veränderung, Anpassung an neue Bedingungen fähig, ohne den Rahmen des "Überkommenen" zu sprengen:

"Da der Habitus eine unbegrenzte Fähigkeit ist, in völliger (kontrollierter) Freiheit Hervorbringungen - Gedanken, Wahrnehmungen, Äußerungen, Handlungen - zu erzeugen, die stets in den historischen und sozialen Grenzen seiner Erzeugung liegen, steht die konditionierte und bedingte Freiheit, die er bietet, der unvorhergesehenen Neuschöpfung ebenso fern wie der simplen mechanischen Reproduktion ursprünglicher Konditionierungen". (19)

Sichtbar macht sich der Habitus nicht nur in Auseinandersetzungen um materiell bedeutsame Interessenskonflikte, sondern auch in "symbolischen Akten der Distinktion": d.h. durch Betonung unterschiedlicher Lebensstile, kultureller und sub-kultureller "Bekenntnisse", Betonung unterschiedlicher Sprachformen, verschiedenen Eßgewohnheiten, unterschiedlicher Wohn- und Freizeitkultur (bis hin zum "Bekenntnis" zu verschiedenen Fußballmannschaften etc.) die vor allem der Abgrenzung gegenüber anderen Sozialtypen dienen und deren sonstiger Inhalt oder "Sinn" minimal ist. Wobei bei diesen "symbolischen Klassenkämpfen" oft mehr (Herz-)Blut fließe als bei tatsächlichen.

Durch empirische Lebensstilanalyse in Kombination mit ökonomischen und bildungssoziologischen Untersuchungen glaubt Bourdieu (ähnlich wie Weber) in den Industrienationen eine Dreiklassengesellschaft (Oberschichthabitus, Mittelklassehabitus, Arbeiterhabitus) nachweisen zu können, wobei jede dieser Klassen wieder in zwei Fraktionen zerfällt, je nachdem ob ökonomische oder kulturelle Faktoren bestimmender für die spezielle Ausprägung des Habitus sind.

An Bourdieu angelehnt wurde eine Vielzahl empirischer Untersuchungen durchgeführt, die traditionelle Klasseneinteilungen der empirischen Sozialforschung nach Berufen und Einkommensunterschieden um ausgefeilte "Lebensstilanalysen" und "ideologisch/kulturelle Distiktionshaltungen" erweiterten. Dabei wurde die habituelle Dreiteilung in den letzten Jahren um die Unterscheidung "traditioneller", "materialistischer" und "post-materialistischer" Lebensstile ergänzt.

“Postmaterialismus”

So zeichnet sich etwa der traditionelle "Arbeiterhabitus" durch die Verbindung bestimmter Berufe (z.B. Facharbeiter in einer Fabrik) mit solchen Elementen wie Wohnen im "Arbeiterviertel", Zugehörigkeit zu Arbeiterorganisationen (oft schon seit Generationen), bewußtes Bekennen zur Herkunft als "Arbeiter", etc. aus. In ähnlicher Weise lassen sich traditionelles Kleinbürgertum und ebenso Oberschichten durch Bezug auf bestimmte überkommene Klassenmerkmale definieren. Materialistische Lebensstile zeichnen sich dadurch aus, daß die Erreichung bestimmter schichtspezifischer Einkommensziele und damit verbundenem Lebensstandard zentral für die Selbstdefinition und die gesellschaftlichen Handlungsweisen sind. Bei post-materialistischen Lebensstilen dagegen sind nicht so sehr an vergegenständlichten "Reichtumskategorien" als vielmehr an solchen Dingen wie "Selbstverwirklichung", möglichst viel selbstbestimmte Freizeit etc. interessiert.

Auf der Grundlage dieser Unterscheidungen wurde etwa für Deutschland folgende Verteilung bestimmt, wobei die Prozentzahlen jeweils die Zahlen 1982 und 1992 anzeigen (Siehe Tabelle; Quelle: M. Vester, "Das Janusgesicht sozialer Modernisierung", in: "Politik und Zeitgeschichte 26-27", S.3-19) Interessant ist hier einerseits, daß das schrittweise Verschwinden des "traditionellen Arbeitermilieus" sicher nicht nur eine ideologische Schimäre ist, andererseits, daß die bewußtseinsmäßige "Vermittelklassung" der Arbeiterschaft nicht mehr weiter fortschreitet. Außerdem wird hier die Tendenz zur Aufspaltung im Mittelschicht-Milieu bereits deutlich, die wir später aus anderen Gründen wieder finden werden.

Ideologiegeschichtlich besonders einflußreich waren in der BRD die Werke von H.Schelsky, der in den 60er Jahren verkündete, daß die Klassengesellschaft durch eine nivellierte Mittelstandsgesellschaft ersetzt würde (siehe z.B. "Auf der Suche nach Wirklichkeit"). Dabei behauptete er einerseits, daß aufgrund einer gestiegenen "sozialen Mobilität" die alten Klassengegensätze und Hierarchien so deutlich abgebaut worden seien, daß man von einer "Nivellierung" der wirtschaftlichen und politischen Stati der Menschen sprechen könne. Andererseits würden sich die verschiedenen Milieus immer mehr als kleinbürgerlich-mittelständischen Verhaltensformen und Lebenslagen anpassen. Dabei sei allerdings insgesamt ein "Entschichtungsvorgang" zu beobachten, d.h. (ganz im Unterschied zu Bourdieu) eine geringer werdende Rolle von schichtbezogenen Voraussetzungen für die Handlungsdispositionen der Individuen.

Der “Dritte Weg” in die Risikogesellschaft

Letzteres ist als "Individualisierungsthese" so etwas wie das Lieblingsthema der heutigen Soziologie und "politischer Hintergrundliteratur" geworden. Ein Hauptprotagonist dieser These, Ulrich Beck, brachte es gar zum Themengeber für die "Neue Mitte"-Politik. "Individualisierungsschübe" bestehen nach Beck im Prozeß der Herauslösung von Individuen aus überlieferten "Familien-, Kollegen-, Berufs- und Betriebsbedingungen, sowie (aus ...) Bindungen an eine bestimmte regionale Kultur, Tradition und Landschaft (...)" (20). Insbesondere sind damit Auflösungserscheinungen von "industriegesellschaftlichen Lebensformen" gemeint - die "post-industrielle Gesellschaft" gehört ja auch zu den modernen Lieblingsmotiven - und damit auch die "Herauslösung aus ständisch geprägten Klassen", die auch für die Industriegesellschaft angeblich noch so prägend gewesen seien. Das Individuum, das so immer weniger in "traditionale Vorgaben 'eingebettet'" sei, wird immer mehr zum "Konstrukteur, Jongleur, und Inszenator seiner Biographie, seiner Identität, seiner sozialen Netzwerke, Bindungen, Überzeugungen (...)" (21).

Diese Auflösung von gesellschaftlichen Großgruppen geht nach Beck einher mit dem Bedeutungsverlust von "Verteilungskämpfen" oder Überhaupt des Problems von Besitz versus "echter materieller Not". Dagegen seien die vereinzelten Individuen im "Zuge der exponentiell wachsenden Produktivkräfte" gleichzeitig kollektiv derart durch "Risiken und Selbstbedrohungspotentiale" betroffen, daß eine neue kollektive Handlungsoption einsetzt: Die entstehenden "Risikogesellschaften" setzen nach Beck eine Dynamik frei, "die weder in der Tradition der 'Klassenformierung' von Karl Marx, noch in der Tradition der ständisch-marktvermittelten Vergemeinschaftung in 'sozialen Klassenlagen' bei Max Weber zureichend begriffen werden kann" (22).

Die Frage einer "gerechten Risikoverteilung" ersetze die Frage der "gerechten Reichtumsverteilung". Risiken beziehen sich dabei sowohl auf globale Umweltprobleme, wie auch auf "soziale Risiken", wie Arbeitsplatzverlust oder Gesundheits- und Altersversorgungsrisiken. Diese Risiken würden sich längst querlegen zu den traditionellen Klassen- und Schichtlagen und würden daher neue, übergreifende politische Handlungsdynamiken auslösen: "Risikogesellschaften sind keine Klassengesellschaften - das ist noch zu wenig. Sie enthalten in sich eine grenzsprengende, basisdemokratische Entwicklungsdynamik, durch die die Menschheit in eine einheitliche Lage zivilisatorischer Selbstgefährdung zusammengezwungen wird" (23).

Die bürgerliche Soziologie mag die Bedeutung von Klassen anerkennen oder nicht, sie durch Differenzierungs-, Pluralisierungs-, Individualisierungsthesen etc. relativieren, immer jedoch stößt sie auf das methodische Problem, wie sich denn die Vergesellschaftung ihrer "vereinzelten Einzelnen" und "des Menschen" zu den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsbedingungen und -möglichkeiten verhält.

Die grundlegende Methode der bürgerlichen Sozialwissenschaft

Die in der bürgerlichen Sozialwissenschaft herrschende Methode kann mit einem Begriff von Schumpeter bzw. Popper als "methodologischer Individualismus" bezeichnet werden. Die grundsätzliche Herangehensweise ist es dabei, daß sich gesellschaftliche Erscheinungen nicht durch eigenständige spezifisch-gesellschaftliche Gesetze erklären lassen, sondern letztlich auf das Verhalten und die Dispositionen der handelnden Individuen reduzieren lassen. Individuen werden so als "Atome" von gesellschaftlichen Formationen gesehen, so daß gesellschaftliche Veränderungen aus den Wechselwirkungen der zugrundeliegenden Atome erklärbar seien.

Popper betont in seinem Buch "Das Elend des Historizismus", daß der Glaube an "übergeordnete historische Gesetze" zu menschenverachtender Ignoranz gegenüber den tatsächlichen Bestrebungen der Individuen führe, und daß es "die Aufgabe der Gesellschaftswissenschaft (ist), unsere soziologischen Modelle vorsichtig in deskriptiven oder nominalistischen Begriffen zu konstruieren und zu analysieren, d.h. in Begriffen von Individuen, ihren Haltungen, Erwartungen, Beziehungen, etc. - ein Postulat, das man ´methodischen Individualismus´ nennen kann".

Der methodologische Individualismus ist daher erstens ontologischer und moralischer Individualismus (die gesellschaftliche Wirklichkeit ist aus unabhängigen Individuen zusammengesetzt, deren "Individualität" eine "unantastbare" Tatsache ist). Er ist zweitens eine Form von Rationalismus: Die Individuen versuchen, ihre Ziele auf der Grundlage ihrer Handlungsvoraussetzungen in optimaler Weise zu erreichen, d.h. sie handeln rational. Er ist drittens eine Form von Reduktionismus: Eine wirklich "wissenschaftliche" Erklärung gesellschaftlicher Probleme erhält man nur, wenn man sie auf eine Theorie über die handelnden Individuen und ihre Wechselwirkungen reduzieren kann.

Damit komplexere gesellschaftliche Vorgänge dabei überhaupt erklärt werden können (was nach Popper genaugenommen gar nicht möglich ist), müssen die handelnden Individuen in wenige homogene Grundtypen (wie z.B. Webers Idealtypen) zusammengefaßt werden, deren Handlungsmotive (z.B. Profitmaximierung) und Handlungsmöglichkeiten annähernd ähnlich sind. Die rationale Lösung gesellschaftlicher Konflikte ergibt sich sodann aus der (spieltheoretischen) Optimierung des Nutzens für die beteiligten Individuen bei der Auswahl aus den gegebenen Handlungsalternativen.

Klassentheorie und "analytischer Marxismus"

Obwohl der methodologische Individualismus, wie unten ausgeführt werden wird, der marxistischen Methode diametral entgegengesetzt ist, hat sich in den letzten Jahrzehnten eine vor allem in den USA angesiedelte Schule des akademischen Marxismus entwickelt, die marxistische Theorie und Praxis durch den methodologischen Individualismus "begründen" wollen. Diese Schule, der sogenannte "analytische Marxismus" hat auch ausführliche klassentheoretische Studien hervorgebracht (z.B. Roemer "A General Theory of Exploitation and Class", E.O.Wright "Classes").

Hier können nur einige Grundelemente dieser Strömung wiedergegeben werden. Ausgangspunkt ist der Versuch einer "Individualisierung" des Ausbeutungsbegriffs. Als treibendes Motiv der gesellschaftlich handelnden Individuen wird das Streben dargestellt, so wenig wie möglich arbeiten zu müssen. Daher versucht jeder einzelne, so gut es geht in den Besitz von "Ressourcen" zu gelangen, die ihm Arbeit ersparen. Durch die Knappheit dieser Ressourcen führt dies zu Ungleichverteilung, so daß die Ersparung von Arbeit durch einige, zur Ausbeutung von Arbeit bei vielen führe.

Wright etwa führt dabei dann folgende Ressourcen mit ungleicher Verteilung an: Produktionsmittelbesitz, Qualifikation, Besitz von Anleitungsfunktionen in einer hierarchischen Organisation. Durch alle möglichen Kombinationen von hohem/mittlerem/niedrigem Grad an Besitz einer dieser Ressourcen definieren sich dadurch Klassenlagen. Dabei unterscheidet Wright die Klasse der Produktionsmittelbesitzer, die Mittelklasse (kein Produktionsmittelbesitz, aber dafür Besitz von Qualifikations- oder Organisationsressourcen) und die Arbeiterklasse (kein Ressourcenbesitz überhaupt).

Für Deutschland ergibt sich danach gemäß den repräsentativ erhobenen Daten des "Projekt Klassenanalyse" (Gesamthochschule Duisburg) aus dem Jahr 1985  folgendes Zahlenmaterial  (24), das in der Tabelle auf Seite 12  dargestellt ist.

Die Einkommenshöhe für die Bourgeoisie wird von den Autoren als verzerrt angesehen, einerseits, weil in einer repräsentativen Studie auch bei mehreren tausend Befragten eben nur wenige Bourgeoisie angetroffen werden, andererseits deren Angaben über ihr Einkommen wenig glaubhaft war, wenn sie nicht überhaupt die Angabe verweigerten. Dieses Beispiel zeigt aber auch die Beliebigkeit, zu der solche theoretischen Zugänge bei der Kategorisierung z.B. der Mittelklassen führen.

Wie immer man diese Ergebnisse bewertet, interessant bleibt natürlich die Frage, wie denn "höhere" oder "mittlerer" Besitz von Qualifikations- oder Organisationsressourcen bei den verschiedenen Berufsgruppen erhoben wird, beziehungsweise was deren Besitz eigentlich für gesellschaftlich-politische Konsequenzen haben soll, warum gerade diese Typenbildungen entscheidende soziologische Einsichten vermitteln sollen.

Klassentheorie und strukturalistischer Marxismus

Erwähnt werden muß hier noch eine weitere einflußreiche Schule des akademischen Marxismus, die einen Beitrag zur Klassentheorie geleistet hat, der "Strukturalismus" (Althusser, Balibar, Poulantzas). Insbesondere das Buch "Politische Macht und gesellschaftliche Klassen" von Poulantzas war von einigem Einfluß. Der Strukturalismus behauptet, daß der "hegelianische Marxismus" dem ungenügenden Ansatz der bürgerlichen Theorie (das gesellschaftliche Ganze wird von seinen Teileinheiten bestimmt) einen metaphysischen Holismus entgegenstellen würde (die Teilelemente der Gesellschaft werden vom Gesellschaftsganzen bestimmt, das jeweils durch einen wesentlichen Widerspruch seine Gesetzmäßigkeit erhält).

Der Strukturalismus hält nichts von der angeblichen "Metaphysik des Wesens gesellschaftlicher Verhältnisse": Statt daher einen zentralen Widerspruch zu suchen, um den angeblich alles kreist, wird die Gesellschaft als "dezentrale Totalität" gesehen, d.h. gesellschaftliches Handeln ist immer determiniert nicht nur von einem Ganzen (= einer Struktur), sondern einer Vielzahl von Strukturen.

Neben der ökonomischen Struktur sind dann auch die politische, die ideologische, kulturelle, etc. zu betrachten. Eine Wechselwirkung zwischen diesen Strukturen wird zwar gesehen, aber letztlich relativiert (die ökonomische Struktur ist "letztlich" entscheidend, aber was das heißt, bleibt dunkel). Auch die Analyse gesellschaftlicher Klassen bezieht sich laut Poulantzas daher "niemals nur auf die ökonomische Struktur ..., sondern auf die Gesamtheit der Strukturen einer Produktionsweise und einer Gesellschaftsformation, und auf die Verhältnisse, die zwischen den verschiedenen Ebenen bestehen" (25).

Mehr oder weniger folgerichtig sieht Poulantzas die Arbeiterklasse vor allem durch die ökonomische Struktur bestimmt. Daher reduziert sie sich bei ihm im wesentlichen auf die produktive Arbeiterschaft in Privatunternehmen. Dagegen werden alle Beschäftigten des Staates, auch von verstaatlichten Industrien durch ihre Integration in die politische Struktur des herrschenden Systems zur Mittelklasse gerechnet. Andere Berufsgruppen wiederum, wie z.B. Techniker werden aufgrund bestimmter ideologischer Elemente ("Ideologie des technischen Fortschritts", besonderer gesellschaftlicher Status etc.) ebenfalls nicht der Arbeiterklasse zugerechnet. Auch in den "herrschenden Klassen" selbst werden aufgrund der Strukturanalyse unterschiedliche Fraktionen dargestellt. Daraus ergibt sich auch, daß Poulantzas Klassenanalyse sich besonders eignete für theoretische Rechtfertigungen von anti-monopolistischen Bündnissen, da die Arbeiterklasse nur "gesellschaftliche Mehrheiten" finden kann, wenn sie Spaltungen in Mittelklassen und Bourgeoisie nützt.

Kritik des methodologischen Individualismus

Das Grundproblem eines "methodologischen Individualismus" wird bereits bei einem Rekurs auf Hegels Kritik am Atomismus klar (in der "Wissenschaft der Logik" (26)): Der Versuch, alle Erscheinungen auf die Wechselwirkung von absolut einfachen und "für sich seienden" Einheiten zu reduzieren, muß entweder dazu führen, daß diese Einheiten (als absolut einfache und unzerlegbare) völlig bestimmungslos werden, oder daß ihnen Eigenschaften beigelegt werden, die ihre "Einfachheit" und "Unbegründbarkeit" als völlig willkürlichen Ausgangspunkt machen:

"Sonst aber sind weitere Bestimmungen der Alten [Philosophen der Antike] über eine Gestalt, Stellung der Atome, die Richtung ihrer Bewegung willkürlich und äußerlich genug und stehen dabei in direktem Widerspruch mit der Grundbestimmung der Atome. An den Atomen, dem Prinzip der höchsten Äußerlichkeit und damit der höchsten Begrifflosigkeit, leidet die Physik in den Molekülen, Partikeln ebensosehr als die Staatswissenschaft, die von dem einzelnen Willen der Individuen ausgeht". (27)

Die Figur des "vereinzelten Individuums", dessen Fähigkeiten, materielle Ressourcen, Handlungsmotive, rationale Alternativenabwägung etc. im methodologischen Individualismus als unhinterfragbare Gegebenheiten erklärt werden, ist ein ebenso willkürlicher Ausgangspunkt, ja, wie Marx nachweist, eine spezifisch historische Erscheinungsform:

"Erst in dem 18. Jahrhundert, in der ´bürgerlichen Gesellschaft´ treten die verschiedenen Formen des gesellschaftlichen Zusammenhangs dem einzelnen als bloßes Mittel für seine Privatzwecke entgegen als äußerliche Notwendigkeit. Aber die Epoche, die diesen Standpunkt erzeugt, den des vereinzelten Einzelnen, ist gerade die der bisher entwickeltsten gesellschaftlichen Verhältnisse. Der Mensch ist im wörtlichsten Sinne ein zoon politikon, nicht nur ein geselliges Tier, sondern ein Tier, das sich nur in der Gesellschaft vereinzeln kann. Die Produktion des vereinzelten Einzelnen außerhalb der Gesellschaft - eine Rarität, die einem durch Zufall in die Wildnis verschlagenen Zivilisierten wohl vorkommen kann, der in sich dynamisch schon die Gesellschaftskräfte besitzt - ist ein ebensolches Unding als die Sprachentwicklung ohne zusammen lebende und zusammen sprechende Individuen". (28)

Die Abstraktion vom gesellschaftlichen Charakter der Individuen selbst ist schwieriger vorstellbar in anderen Gesellschaftsepochen: Was bringt etwa die Erklärung der Rolle eines Sklaven in der römischen Antike, wenn man von den individuellen Fähigkeiten und Wünschen des einzelnen Sklaven ausgeht. Es ist gerade das widersprüchliche Verhältnis von subjektiven Handlungsdispositionen (individuellen Fähigkeiten, Bedürfnissen,...) und objektiven Handlungsmöglichkeiten (Lebensbedingungen,...), welches in allen bisherigen Gesellschaftsepochen (auch der kapitalistischen) die Herausbildung sozialer Rollen bestimmt hat - und nicht ein zweckrationales Verhältnis der beiden.

Die mangelhafte Erfüllbarkeit bestimmter Bedürfnisse aufgrund gegebener Lebensbedingungen bedeutet nicht, daß sich Menschen bestimmter Gruppen keine "rationalen" Ziele setzen, sondern umgekehrt: die herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen zwingen den Menschen bestimmte individuelle Dispositionen und Bedürfnisse (sprich ihre soziale Rolle) als ihre "eigenen" auf. Erst in der bürgerlichen Gesellschaft erscheint der Schein einer zweckrationalen "freien Wahl" der Entwicklung von Fähigkeiten bzw. der Befriedigung von Bedürfnissen - tatsächlich wird diese Wahl weiterhin durch soziale Rollen eingegrenzt, und die Rolle des Sklaven und die des Lohnabhängigen unterscheidet sich nur graduell und der Form nach.

Die zentrale Marxsche These ist nicht, daß "der Mensch" prinzipiell "über-individuellen" Gesetzen unterworfen ist, sondern daß die historisch bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse (inklusive des Kapitalismus) solche sind, in denen die Entwicklung von Fähigkeiten und Bedürfnissen der Individuen, wie auch ihrer Verhaltensweisen, von den gesellschaftlichen Bedingungen bestimmt werden und diese daher gerade nicht aus ersteren erklärbar sind. Gleichzeitig ist die Zielsetzung eines "guten Lebens", eines "wirklichen Reichtums", einer "Selbstverwirklichung der menschlichen Möglichkeiten" für Marx das materialistische Prinzip das sich im geschichtlichen Prozeß verwirklicht: "In fact aber, wenn die bornierte bürgerliche Form abgestreift wird, was ist der Reichtum anderes als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte, usw. der Individuen? Die Vollentwicklung der menschlichen Herrschaft über die Naturkräfte, die der sogenannten Natur sowohl, wie seiner eigenen Natur? Das absolute Herausarbeiten seiner schöpferischen Anlagen, ohne andere Voraussetzung als die der vorhergegangenen historischen Entwicklung, die diese Totalität der Entwicklung, das heißt die Entwicklung aller menschlichen Kräfte als solcher, nicht gemessen an einem vorgegebenen Maßstab zum Selbstzweck macht, wo er sich nicht reproduziert in einer Bestimmtheit, sondern seine Totalität produziert? Nicht irgendetwas Gewordenens zu bleiben sucht, sondern in der absoluten Bewegung des Werdens ist". (29)

Daß diese Entwicklung des "reichen Lebens" im Geschichtsprozeß durch ihr absolutes Gegenteil läuft, ja laufen muß - das verelendete, entfremdete Leben einerseits und die Konzentration von verdinglichtem Reichtum andererseits -, ist nur durch eine dialektische Gesellschaftstheorie verstehbar.

Dialektische Methode

Die dialektische Methode in der Gesellschaftswissenschaft unterscheidet sich vom methodologischen Individualismus nicht einfach dadurch, daß das Verhalten der Einzelnen durch die Gesetzmäßigkeiten des Gesellschaftsganzen erklärt würde, statt umgekehrt. Daß also an sich überindividuelle "historische Gesetze" behauptet würden, die sich (bewußt oder unbewußt) in den Handlungen der Einzelnen und sozialer Gruppen durchsetzen würden.

Es ist vielmehr so, daß die dialektische Methode über den unendlichen Progreß von wechselnden Erklärungsansätzen hinausgeht: Ein Progreß, der etwa damit beginnt, daß das Ganze aus den Teilen erklärt; dann darauf stößt, daß die Teile wiederum aus dem Ganzen erklärt werden müssen; wiederum diese Wirkungsweise des Ganzen aus den Eigenschaften der Teile erklärt; irgendwann auf die Widersprüchlichkeit des Anspruchs kommt, das eine oder das andere als den Ausgangspunkt zu behaupten, etc.. "Dieser Progreß ist daher der Widerspruch, der nicht aufgelöst ist, sondern immer nur als vorhanden ausgesprochen wird". (30) Die Anerkennung der Wirklichkeit dieser Unauflöslichkeit ("der Wirklichkeit des Widerspruchs") ergibt sich in der Dialektik durch die zentrale Kategorie der "konkreten Totalität".

Die Totalität ist nicht einfach das abstrakte Ganze, das abstrakte Wesen oder eine "Idee", die getrennt von der Wirklichkeit seiner Teile, Erscheinungen oder Verkörperungen besteht, sondern etwas, das eine lebendige Einheit mit ihnen bildet, die nur als Prozeß zu fassen ist. "Es ist ein alter Satz, daß das Eins Viele und insbesondere daß das Viele eins ist. Es ist hierüber die Bemerkung zu wiederholen, daß die Wahrheit des Eins und des Vielen in Sätzen ausgedrückt in einer unangemessenen Form erscheint, daß diese Wahrheit nur als ein Werden, als ein Prozeß, (...) nicht als das Sein, wie es in einem Satze als ruhige Einheit gesetzt ist, zu fassen und auszudrücken ist". (31)

Die "unangemessene Form" in der wir in unseren Sprachen die Prozeßhaftigkeit von Totalitäten erfassen können, ist die des dialektischen Widerspruchs. Denn die Bewegung der Totalität bedarf keines äußeren Anstoßes, keiner "ersten Ursache", keines "Anfangs". Sie entsteht aus sich selbst heraus, aus ihrer "inneren Widersprüchlichkeit". Nicht aus den Wechselwirkungen von Dingen (isoliert bestimmten Ganzheiten) wird Veränderung erklärt, sondern der Widerspruch besteht in den Dingen, besser gesagt in der Totalität des Wirklichen selbst!

Die Elemente, in denen sich die Totalität auf verschiedenen Entwicklungsstufen entfaltet, sind immer bloß unvollkommene Verkörperungen ihrer inneren Möglichkeiten. Ihr Gegensatz zu anderen Elementen wird zum Widerspruch mit den eigenen Existenzgrundlagen. Zugleich stiftet das Wesen der Totalität gerade auch die innere Einheit der widersprüchlichen Elemente und macht so die Aufhebung des Widerspruchs möglich hin zu einer höheren Qualität der Entwicklung des Ganzen. Das Problem des Anfangs ("Was war zuerst, das Ganze oder die Teile") löst sich bei Hegel im Bild des Kreises: der Prozeß hat nirgends einen bestimmten Anfang, sondern kehrt immer wieder an dieselben Punkte zurück, aber entwickelter, in einer "reicheren" und "inhaltsvolleren" Form.

"Das Einzige, um den wissenschaftlichen Fortgang zu gewinnen (..) ist die Erkenntnis des logischen Satzes, daß das (...) sich Widersprechende sich nicht in Null, in das abstrakte Nichts auflöst, sondern wesentlich nur in die Negation seines besonderen Inhalts, oder daß eine solche Negation nicht alle Negation, sondern die Negation der bestimmten Sache, die sich auflöst, somit bestimmte Negation ist; daß also im Resultate wesentlich das enthalten ist, woraus es resultiert (...). Indem das Resultierende, die Negation, bestimmte Negation ist, hat sie einen Inhalt. Sie ist ein neuer Begriff, aber der höhere, reichere Begriff als der vorhergehende (...). Es ist der Inhalt in sich, die Dialektik, die er an ihm selbst hat, welche ihn fortbewegt". (32)

In der idealistischen Philosophie Hegels ist es "die Idee", die den Grund des Prozesses bildet: die Idee ist zwar immer schon "an sich" da, aber der Prozeß ihrer Verwirklichung oder "Manifestation", ist ihr nicht äußerlich, sondern ihr eigentliches Wesen, ohne den sie ein abstraktes Nichts wäre. Somit ist in Hegels Dialektik zwar immer schon das Ziel des Prozesses vorhanden (in diesem Sinne ist die Bezeichnung "Teleologie" richtig), aber seine konkrete Verwirklichung, Gestalt und Form der Hervorbringung ist völlig offen.

Marx Gesellschaftstheorie

In der dialektischen Gesellschaftstheorie Marx' taucht die konkrete, sich selbst erzeugende Totalität, deren Entfaltung durch den dialektischen Widerspruch vorangetrieben wird, in einer materialistisch gewendeten Form wieder auf: Nicht mehr ein sich selbst begründendes philosophisches System ist das Ziel, in dem sich die "absolute Idee" entfaltet, sondern der die Bedingungen seiner (gesellschaftlichen) Existenz selbst schaffende/produzierende Mensch ist das Zentrum einer Theorie, in der Gesellschaftlichkeit ein dynamischer Prozeß ist - und kein statisches Teil-Ganzes-Konglomerat. Es ist das Ziel des "guten Lebens", das in den verschiedenen Formen der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion der

Lebensbedingungen der Gesellschaftsteile seine bestimmte historische Konkretisierung erhält.

Deren unvollkommene Manifestation mußte sich in den bisherigen Geschichtsepochen auf Grund der Beschränktheit der materiellen Produktivkräfte in widersprüchlicher Weise ergeben: Als "gutes Leben" für eine Minderheit der Gesellschaft, als Konzentration des Reichtums der Gesellschaft auf wenige, die diese Begrenzung gleichzeitig als "Reichtum der Gesellschaft an sich", als einzige Form des "guten Lebens", die in dieser Welt möglich sei, erscheinen lassen. D.h. die Form, in der sich die Entfaltung der menschlichen Verwirklichungsbedingungen bisher abspielte, ist die der Kontrolle ihrer Produktionsbedingungen durch eine jeweils herrschende Klasse.

Durch diese Negation der eigenen Existenzbedingung (der geschichtlichen Tendenz zur Vollentwicklung der menschlichen Fähigkeit zur gesellschaftlichen Selbstproduktion) schafft die herrschende Klasse objektiv widersprüchliche Bedingungen, die zur Aufhebung in einer neuen Qualität der gesellschaftlichen Entwicklung drängen. In diesem Sinn ist das bisherige Verhältnis von Individuum und Gesellschaft durch die Entfremdung der von den Einzelnen in ihrem gesellschaftlichen Tun erzeugten Verhältnissen von ihren eigenen Zwecksetzungen bestimmt: "Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken...".

Erst eine Gesellschaft ohne Klassengegensätze ermöglicht eine gesellschaftliche Entwicklung, in der die Entfaltung des Einzelnen und die Produktion von gesellschaftlichen Reichtum in ein nicht mehr widersprüchliches, sondern unmittelbares Verhältnis treten:

"Die Gesetze ihres eigenen gesellschaftlichen Tuns, die ihnen bisher als fremde, sie beherrschende Naturgesetze gegenüberstanden, werden dann von den Menschen mit voller Sachkenntnis angewandt und damit beherrscht. Die eigene Vergesellschaftung der Menschen, die ihnen bisher als von Natur und Gesellschaft oktroyiert gegenüberstand, wird jetzt ihre eigene freie Tat. Die objektiven, fremden Mächte, die bisher die Geschichte beherrschten, treten unter die Kontrolle der Menschen selbst. Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewußtsein selbst machen, erst von da an werden die von ihnen in Bewegung gesetzten gesellschaftlichen Ursachen vorwiegend und in stets steigendem Maße auch die von ihnen gewollten Wirkungen haben". (33)

Solange dieser Zustand nicht erreicht ist, bewirkt die geschichtliche Totalität der jeweiligen Produktionsweise, daß die Wirkungen von gesellschaftlichem Handeln letztlich nur durch ihr Verhältnis zum Klassenwiderspruch und seinen Manifestationen, bzw. in ihrer Beziehung zu seiner revolutionären Aufhebung im Klassenkampf verstanden werden können (siehe auch Lukacs "Ontologie des gesellschaftlichen Seins", wo allerdings auch klargestellt wird, daß die Geschichte der "Entfremdung" mit dem Ende von Klassengesellschaften nicht zu Ende sein wird). Der Klassenbegriff ist die zentrale Vermittlungsinstanz zwischen den subjektiven und objektiven Momenten des materialistisch/dialektisch verstandenen Geschichtsprozesses.

Die ihre Lebensbedingungen selbst schaffenden Menschen schaffen diese zugleich als ihnen fremde, sie beherrschende Bedingungen, die den Kern ihres Untergangs von Beginn an in sich tragen. Der objektive Widerspruch, das Umschlagen der Entwicklungsmöglichkeiten von Reichtum unter einem herrschenden Produktions- und Eigentumsregime in Verelendungsbedingungen für die Masse der Produzenten, manifestiert sich auf der Ebene der subjektiv Handelnden in der sozialen Kraft, die zur bestimmten Negation der bisher herrschenden Verhältnisse in der Lage ist, und derjenigen, die den bestehenden gesellschaftlichen Reichtum repräsentiert.

Auch wenn die Akteure aufgrund der Entfremdung der Auswirkungen ihrer Handlungen von ihren Zielsetzungen daher im allgemeinen nicht "verantwortlich" für diese Wirkungen sind ("gute" oder "schlechte" Menschen sind), sondern eher Objekte eines gesellschaftlichen Prozesses, so erzeugt die Möglichkeit der Überwindung bestehender Klassenherrschaft eine entscheidende Verantwortlichkeit der Handelnden. Von ihrem entschiedenen oder falschen Handeln hängt tatsächlich der Fortgang der Geschichte der menschlichen Befreiung ab. Klassen sind daher soziale Verkörperungen des in einer historischen Gesellschaftsformation möglichen gesellschaftlichen Subjektbildungsprozesses. Sie treten um so schärfer zu Tage, je weiter sich der ökonomische Widerspruch und damit auch der Klassenwiderspruch entfaltet.

Fußnoten und Anmerkungen

(16) K. Marx / F. Engels, Die deutsche Ideologie, MEW Band 3, S.75f.

(17) M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Köln/Berlin 1956, S.177

(18) ebd., S.531

(19) P. Bourdieu, "Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft", FfM 1987, S.103

(20) U.Beck, Die Erfindung des Politischen, Ffm., 1993; S.41

(21) ebd.,S.151

(22) U.Beck, Die Risikogesellschaft - Auf dem Weg in eine andere Moderne, Ffm., 1983; S.51)

(23) ebd., S.63

(24) aus: M. Koch, Vom Strukturwandel einer Klassengesellschaft, Münster 1994, S.78f.

(25) N. Poulatzas, Politische Macht und gesellschaftliche Klassen, FfM 1980, S.61

(26) Hegel Werke Band 5, S.184

(27) ebd.

(28) K. Marx, "Ökonomische Manuskripte 1857/1858", MEW Band 42, S.20

(29) ebd., S.395f

(30) Hegel Werke Band 5, S.155

(31) ebd., S.193

(32) ebd., S.49f.

(33) F. Engels, "Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft", in: MEW Band 20, S.264

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