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100 Jahre Massenstreikdebatte

Massenstreik und Revolution

Markus Lehner, Neue Internationale 96, Dez 2004/Jan 2005

Am 22. Januar 1905 bewegte sich eine Demonstration von 200.000 Menschen aus den Elendsquartieren von St. Petersburg in Richtung Zaren-Palais. Vorneweg eine "Freiheitscharta" mit Forderungen nach politischen und sozialen Grundrechten, v.a. nach dem 8-Stundentag.

Nachdem die Polizei in der friedlichen Demonstration ein Blutbad angerichtet hatte, breiteten sich Massenstreiks und -demonstrationen im Zarenreich wie ein Lauffeuer aus. Diese Massenaktionen, die zuerst während der russischen Revolution von 1905 zu Tage traten, zeigten, welches enormes Widerstandspotential im Schoß der Industriezentren entstanden war. Zuvor hatten Massenstreiks für Wahlrecht bereits in Belgien und Schweden gezeigt, dass dieses "Phänomen" nicht auf Russland beschränkt war.

Für viele Führer der damaligen Arbeiterorganisationen war die Idee des politischen Massenstreiks identifiziert mit dem "anarchistischen Generalstreik", der als "gefährliches Abenteurertum" verurteilt wurde, weil er der Reaktion erlaube, mühselig erzielte Errungenschaften wieder einzukassieren. Der "Marxismus" aber lehre, so war es besonders aus der SPD-Rechten zu hören, dass ein revolutionärer Generalstreik nur mit einer umfassenden Organisierung des Proletariats erfolgreich sein könne. Wenn man das Proletariat aber soweit organisiert und gebildet habe, dann falle einem die Macht schon vorher zu. Im Vordergrund stünde daher einerseits die politische Organisierung und Aktion (z.B. im parlamentarischen Kampf um Reformen) und die Schulung des alltäglichen gewerkschaftlichen Kleinkrieges.

Anfang des 20. Jahrhunderts wurde immer deutlicher, dass diese Trennung von "politischem" und "ökonomischem" Kampf unhaltbar wurde. Die ablehnende Haltung gegen den politischen Massenstreik durch eine bestimmte Strömung in der deutschen und internationalen Sozialdemokratie in dieser Zeit fällt zusammen mit der Entwicklung einer Tendenz, die sich praktisch auf Reformen im Rahmen des Kapitalismus beschränkte und theoretisch die Notwendigkeit der revolutionären Überwindung des Kapitalismus ablehnte.

In der SPD war es vor allem Rosa Luxemburg, die den Massenstreik als wesentliches Element einer neuen revolutionären Periode erkannte und die orthodox verkleidete Ablehnung des Massenstreiks als Teil der Abkehr von der Revolution und der marxistischen Methode entlarvte. Insofern stellt ihre Schrift "Massenstreik, Partei und Gewerkschaften" von 1906 einen noch heute lesenswerten Höhepunkt der Massenstreik-Debatte dar.

Luxemburgs Ausgangspunkt ist, dass es keine abstrakt-technische Feststellung der Richtigkeit solcher Kampfmittel wie Massenstreiks oder politische Demonstrationen unabhängig von der historisch-spezifischen Situation, der Entwicklung der Klassenverhältnisse und der Dynamik der sich daraus ergebenden Kämpfe und des sich dabei verändernden Bewusstseins der Beteiligten geben könne.

So waren die Massenstreiks in Russland nicht Resultat der "unverantwortlichen" Agitation einiger "Abenteurer" - vielmehr entstand mit der Dynamik der Entwicklung des Kapitalismus in Russland seit etwa 1895 auch eine Dynamik von Arbeiterkämpfen, in denen die explosionsartig wachsenden Großproduktionsstätten der industriellen Zentren immer wieder Bedingungen für spontan ausbrechende Streiks gegen unzumutbare Arbeitsbedingungen wie gegen staatliche Repression erzeugten.

Russische Revolution 1905

Auch die Ereignisse von Petersburg im Januar 1905 resultierten aus einer Maßregelung zweier Kollegen der Putilow-Werke, die zu einem Solidaritätsstreik aller 12.000 Arbeiter des Werkes führte. Hieraus entwickelte sich die anfangs erwähnte Großdemonstration und schließlich die Kette von Streiks und Generalstreiks, welche die russische Revolution einleitete. Lange vor den mit "mühseliger Kleinarbeit" beschäftigten Gewerkschaftsexperten in Deutschland erkämpfte unter diesen revolutionären Bedingungen die russische Arbeiterklasse den 8-Stundentag.

"Mit einem Wort: Der Massenstreik, wie ihn uns die russische Revolution zeigt, ist nicht ein pfiffiges Mittel, ausgeklügelt zum Zwecke einer kräftigen Wirkung des proletarischen Kampfes, sondern er ist die Bewegungsweise der proletarischen Masse, die Erscheinungsform des proletarischen Kampfes in der Revolution" (RL-Werke 2, S.125).

Anders als in einer mechanistischen Vorstellung von "Revolution", in der diese sich auf einen bestimmten Machtergreifungs-Akt auf der politischen Bühne beschränkt, ist sie in der marxistischen Sicht ein Prozess der grundlegenden gesellschaftlichen Umwälzung aller Verhältnisse.

Insofern ist sie in nicht auf den Aufstand oder die Machtergreifung zu reduzieren, sondern eingebettet in einen revolutionären Prozess, eine revolutionäre Periode. Insofern ist es "die Revolution", die revolutionäre Periode, die den Massenstreik hervorbringt, wie Luxemburg sagt, nicht umgekehrt der Massenstreik, durch den die "Revolution gemacht wird", wie es sowohl Anarchismus wie Revisionisten unterstellen. Diese Ansicht Luxemburgs ist auch völlig konträr zu der verbreiteten Meinung des Großteils der heutigen Linken, für die selbst Massenaktionen immer nur Mittel sind, um mehr oder weniger umfassende Reformen zu erzwingen, jedoch nicht in Verbindung mit der Machtergreifung des Proletariats gesehen werden.

Luxemburg erkannte den Massenstreik als jene Kampfform, die sich in der Epoche des entwickelten Industriekapitalismus in Phasen revolutionärer Zuspitzung naturwüchsig entwickelt:

"In den früheren bürgerlichen Revolutionen, wo einerseits die politische Schulung und Anführung der revolutionären Masse von den bürgerlichen Parteien besorgt wurde und wo es sich andererseits um den nackten Sturz der alten Regierung handelte, war die kurze Barrikadenschlacht die passende Form des revolutionären Kampfes. Heute, wo die Arbeiterklasse sich selbst im Laufe des revolutionären Kampfes aufklären, selbst sammeln und selbst anführen muss und wo die Revolution ihrerseits gegen die alte Staatsgewalt wie gegen die kapitalistische Ausbeutung gerichtet ist, erscheint der Massenstreik als das natürliche Mittel, die breitesten proletarischen Schichten in der Aktion selbst zu rekrutieren, zu revolutionieren und zu organisieren, ebenso wie er gleichzeitig ein Mittel ist, die alte Staatsgewalt zu unterminieren und zu stürzen und die kapitalistische Ausbeutung einzudämmen" (S.148).

Diese Massenaktionen sind sowohl das Mittel, die Ausgebeuteten aus ihrer "Vereinzelung" zu reißen und zu einer Kampfeinheit zu organisieren, als auch die einzige Möglichkeit, gerade in der sich verschärfenden Krise noch irgendwelche ökonomischen Erfolge zu erzielen. Politische und ökonomische Kämpfe müssen sich daher in einer solchen Situation ineinander verschränken, auseinander hervorgehen, letztlich kombiniert auftreten.

10 Jahre vor der Schrift von Luxemburg hatte bereits ein russischer Marxist den Zusammenhang von neuer Periode und der Notwendigkeit einer neuen revolutionären Strategie entwickelt: Alexander Helphand, genannt "Parvus".

Beitrag von Parvus

Er hat in seiner Kritik am Revisionismus Bernsteins die ökonomischen Bedingungen für die Neubestimmung der Kampfformen der Arbeiterklasse entwickelt. Bernstein nahm die 1896 einsetzende Aufschwungphase als Beleg für die falsche "Zusammenbruchserwartung" des Marxismus, sah Möglichkeiten für die Überwindung der Krisentendenzen und die Grundlage für eine friedlich-reformerische Entwicklung des Kapitalismus hin zum Sozialismus.

Demgegenüber verteidigte das Zentrum um Kautsky weiter die Perspektive einer "ständig sich verschärfenden Krise", die auf den Zusammenbruch hinauslaufe - auf den dann die Massen zu warten hätten, um unter Führung der Sozialdemokratie die Macht zu ergreifen.

Parvus dagegen entwickelte eine dynamische Vorstellung von der Art der Entwicklung der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus, die viel von Lenins Imperialismustheorie vorwegnahm:

"Die wirtschaftliche Depression ist zu Ende - es beginnt eine neue Sturm- und Drangperiode der kapitalistischen Industrie. Das darf aber nicht so aufgefasst werden, dass nunmehr keine Rückschläge erfolgen werden und lauter Prosperität herrschen würde. Es handelt sich vielmehr nur um das Tempo der Entwicklung, die immerhin den Gesetzen der kapitalistischen Wellenbewegung folgt (...) Nunmehr wird der industrielle Aufschwung ganz andere Anläufe machen, einen weit größeren Umfang erreichen, der Zusammenbruch schroffer und schärfer auftreten, zerstörender wirken, der neue Aufschwung noch kolossalere Dimensionen annehmen - bis das ungeheure, in Angriff genommene Produktionsgebiet von Grund aus durchgewühlt ist und die entfesselten, enorm entwickelten Produktivkräfte wieder keinen Ausweg mehr finden" (Parvus, "Gewerkschaften und Sozialdemokratie").

Aus den Widersprüchen des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst entwickelt Parvus die Phänomene von Kapitalexport, Kartellbildung und Herrschaft des Finanzkapitals, welche die Widersprüche des Kapitalismus jedoch nicht aufheben - wie Bernstein glaubte -, sondern nur viel schärfer auf anderen Ebenen wieder auftreten lassen.

Gegenüber der Macht von Staat und Kapital, von ungezügelter Machtentfaltung der Großkonzerne einerseits und dem wachsenden Militarismus hält Parvus die Vorstellung von "Abmilderung" oder gar grundlegenden Reformen durch parlamentarische oder gewerkschaftliche Mittel für illusorisch. Stattdessen werde der Massenstreik zu einem zentralen Punkt der "Sammlung, Organisation, revolutionären Begeisterung des Volkes auf der einen Seite, Desorganisation des Militärs auf der anderen".

Massenstreik und Partei

Bei Parvus wie bei Luxemburg fehlt noch eine ausgearbeitete Vorstellung von der Rolle der Partei im Massenstreik. Von beiden wird aber die Wichtigkeit der politischen Führung durch die Partei erkannt:

"Die Parole, die Richtung des Kampfes zu geben, die Taktik des politischen Kampfes so einzurichten, dass in jeder Phase und in jedem Moment des Kampfes die ganze Summe der vorhandenen und bereits ausgelösten, betätigten Macht des Proletariats realisiert wird und in der Kampfstellung der Partei zum Ausdruck kommt, dass die Taktik der Partei nach ihrer Entschlossenheit und Schärfe nie unter dem Niveau des tatsächlichen Kräfteverhältnisses steht, sondern vielmehr diesem Verhältnis vorauseilt, das ist die wichtigste Aufgabe der Leitung in der Periode des Massenstreiks" (RL-Werke, S.133).

Erst bei Lenin finden wir die konkrete Antwort auf die Frage der Umsetzung dieser Aufgabe, und zwar im Konzept der in den Massenkämpfen verankerten Kampfpartei, die der Dynamik der Kämpfe entsprechende organisierende Formen entwickelt (z.B. die aus den Kämpfen geborenen Räte zu Machtorganen vorantreibt).

Parvus` Vision von 1896, den Massenstreik ins Zentrum der Kampfperspektive zu rücken, fand in der Partei damals kaum Gehör. Doch mit der russischen Revolution von 1905 fanden die von Luxemburg weiterentwickelten Perspektiven immer mehr Gehör in der internationalen Arbeiterbewegung. Trotzdem gelang es ihr und der Linken letztlich nicht, die 2. Internationale für die Perspektive des internationalen Massenstreiks gegen den drohenden Weltkrieg zu gewinnen (wie sie es z.B. auf dem Stuttgarter Kongress 1907 in einer gemeinsamen Resolution mit Lenin formuliert hatte). Diese Perspektive hätte wohl den Entwicklungen des letzten Jahrhunderts eine wesentlich andere Richtung geben können.

Die klassenanalytische und polit-ökonomische Begründung der Bedeutung des Massenstreiks zeigt, dass es sich hier um keine rein historische Debatte handelt. Die Konzentration ökonomischer und damit auch politischer Macht hat genauso zugenommen, wie die Krisentendenzen des kapitalistischen Ausbeutungssystems.

Aktualität

Der Massenstreik ist daher weiter zentral - sowohl zur Überwindung der Vereinzelung der Opfer dieser Tendenzen, wie auch zum Aufbau von eigenen Machtstrukturen. Die von den reformistischen Führungen gewollte Trennung von ökonomischen und politischen Kleinkriegen stellt daher ein entscheidendes Hindernis dafür dar, dass sich das aufgestaute Protestpotential in Massenstreiks Bahn bricht.

Spontane Streiks wie bei Opel Bochum, die große Beteiligung von betrieblichen Kontingenten an Demonstrationen wie dem 1. November 2003 unabhängig von der Gewerkschaftsführung etc. zeigen, dass das Potential für Massenstreiks und -demonstrationen auch hierzulande wächst. Angesichts der Wut vieler KollegInnen über Kürzungen, über Arbeitszeitverlängerungen und gleichzeitig wachsender Arbeitshetze fehlt umso mehr der berühmte Funke. Legen wir also die Zündschnüre!

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Nr. 96, Dez 2004/Jan 2005

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