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Bulgarien

Krise in Permanenz

Nikola Tschubelski, Neue Internationale 182, September 2013

Nachdem Anfang des Jahres in Bulgarien die Regierung gestürzt wurde, hatten die Herrschenden der EU bereits ein fertiges Konzept zur Hand, wie mit der Situation umzugehen sei. Es wurde eine provisorische „Expertenregierung“ wie schon zuvor in Griechenland und Italien eingesetzt, am 12. Mai gab es Neuwahlen. Bei diesen sollte „die schweigende Mehrheit“ zu Wort kommen - fragt sich nur, woraus diese sich zusammensetzen soll, wenn laut aktuellen Umfragen etwa 85 Prozent der Bevölkerung die Proteste der letzten Monate unterstützt haben.

Die Wahlergebnisse

GERB (Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens), die Partei, die zuvor allein regiert hatte, erreichte 30,5% - im Gegensatz zu über 40% bei den Wahlen 2009. Die BSP (Bulgarische Sozialistische Partei) bekam 26,6%. Die DPS (Partei der türkischen Minderheit) erhielt 11,2% und  die rechtsextreme Ataka (Attacke) 7,3.

24% der Wahlberechtigten gaben ihre Stimme einer der unzähligen Kleinparteien, von denen keine die 4%-Hürde ins Parlament schaffte, 37% gingen gar nicht wählen. Somit werden diese 4 im Parlament vertretenen Parteien lediglich von 39% der Wahlberechtigten unterstützt, was an sich schon die Frage nach der Legitimation dieses bürgerlichen Parlaments aufwirft.

Das Wahlergebnis verweist auch darauf, was die Protestierenden bereits lange wussten: dass Neuwahlen allein nichts ändern würden.

#Während GERB keine Koalitionspartnerin finden konnte, setzte die BSP auf eine „breite Programmregierung“, die allerdings die GERB ausschließen sollte. Daraus wurde dann eine Koalition von BSP und DPS, allerdings mit dem Problem, dass sie gemeinsam genau 120 der 240 Parlamentssitze haben. Daher brauchen sie für jeden Beschluss die Unterstützung von Ataka, die ihnen auch zugesichert wurde, um die GERB zu überstimmen.

Erster Skandal

Kurz nach der Regierungsbildung am 14. Juni, kam es auch schon zum ersten Skandal. Ein Mitglied der DPS, Deljan Peevski, wurde zum Vorsitzenden des Geheimdienstes DANS ernannt, gleichzeitig wurden die Kompetenzen des Geheimdienstes ausgebaut. DANS ist nun für die gesamte organisierte Kriminalität im Land zuständig. Herr Peevski kontrolliert noch dazu gemeinsam mit seiner Mutter, Irena Krasteva, alle größeren Medien des Landes.

Aufgrund der heftigen Proteste dagegen, wurde er gleich am nächsten Tag seines Amtes enthoben, am allgemeingültigen Prinzip der Korruption in Bulgarien ändert das aber wenig.

Nicht nur die BSP, die ja die Nachfolgepartei der stalinistischen Partei von vor 1989 ist, hat direkte personelle Kontinuitäten zum stalinistischen Regime. Der Vorsitzende der GERB, Bojko Borisov, war für die Sicherheit des letzten stalinistischen Generalsekretärs Todor Schivkov zuständig und ist dann in der Zeit der Restauration mit einem halblegalen Personenschutz- und Inkassodienst zu Geld gekommen. Auch die Spitzen der DPS weisen fast alle Verbindungen zum alten Regime auf.

Währenddessen haben die neuen Regierungen selbstverständlich nichts getan, um Armut oder Korruption zu bekämpfen, trotz fast täglicher Proteste auf der Straße. Stattdessen werden die Proteste regelmäßig brutal niedergeschlagen, wie etwa am 23. Juli, als laut Polizeiangaben 17 Personen (darunter 5 ReporterInnen) verletzt wurden. Das vor den Wahlen von der damaligen Opposition versprochene „Rätesystem“ - ohnedies nur zu Beschwichtigung der Bevölkerung und zur Einbindung von einzelnen VertreterInnen der Massenbewegung gedacht - wurde ebenfalls nicht umgesetzt.

Bewegung

Kein Wunder, dass die Protestbewegung sich nicht so leicht mit den „Angeboten“ der Regierung abspeisen lässt. Das hat seinen Grund darin, dass die Massen nicht mehr so weiter machen wollen. Seit der Wiedereinführung des Kapitalismus mit ihrer Raubprivatisierung und der Plünderung des gesellschaftlichen Eigentums hat sich eine kleine Elite schamlos bereichert, ohne eine Perspektive für das Land und die Bevölkerung zu entwickeln. Soziale Einrichtungen wurden gestrichen, die Löhne befinden sich im Sinkflug.So wurden schließlich die Strompreiserhöhungen - auch eine Folge der Privatisierung - zum Auslöser der Proteste. Dieses soziale Elend  kann nicht so leicht mit Schönfärberei überdeckt werden. Die Arbeitslosigkeit beträgt immerhin 19%, die Jugendarbeitslosigkeit liegt sogar bei 40%. Das Durchschnittseinkommen beträgt 350 Euro, wobei die Gehälter im Öffentlichen Dienst deutlich niedriger sind. KrankenpflegerInnen verdienen z.B. nur 128 Euro. Dieses Einkommen liegt sogar deutlich unter der Armutsgrenze von 150 Euro monatlich. Etwa ein Fünftel der Bevölkerung lebt offiziell unter der Armutsgrenze. Alle Reserven und Ersparnisse sind längst aufgebraucht.

Andererseits zeigt sich, dass die herrschende Klasse offensichtlich Angst hat, da es relativ schnell zu Rücktritten gekommen ist, die die Protestbewegung beschwichtigen sollten. In der aktuellen Regierungsperiode zeigt sich, wie die bürgerlichen Parteien in Krisenzeiten näher zusammen rücken - was einerseits ein allgemeines Merkmal für eine Phase verstärkten Klassenkampfs ist, andererseits ein spezifisches Merkmal für ein Land, in dem sämtliche etablierte Parteien aus der stalinistischen Bürokratie entstanden sind.

Die Situation muss als vorrevolutionär bezeichnet werden. Die Bourgeoisie selbst hat Angst davor. So warnt der Journalist A. Bundjulov: "diese Februar-Revolution sollte nicht in einem Oktober gipfeln ". Selbst eine kleine Partei kann in einer solchen Situation, in der die herrschende Klasse unfähig und gelähmt ist, schnell Unterstützung finden. Was sie braucht, ist eine klare revolutionäre Orientierung.

In Bulgarien ist eine solche Gruppe jedoch nicht einmal ansatzweise zu sehen. Die Bulgarische Linke (Ableger der europäischen Linkspartei) hat sich wie überall der EU angebiedert und argumentiert für das Aussetzen der Proteste. Sie unterstützt vorerst die bürgerliche Regierung und hat auch sonst kaum eine Perspektive über die kleinbürgerliche Partizipation innerhalb der imperialistischen EU-Logik hinaus.

Dies ist zwar, wenn man sich die Linke und ihre Positionen international ansieht, durchaus nicht verwunderlich, im Falle Bulgariens, wo die Partei lediglich 0,02% bei der letzten Wahl erreichte und auch sonst keine nennenswerten Parteien links der etablierten bürgerlichen Parteien vorhanden sind, ist es aber bloß ein Armutszeugnis der radikalen Linken.Daneben gibt es noch einige autonome und anarchistische Gruppen, die aber - wie überall - von vorneherein unfähig zur Organisierung der Arbeiterklasse und zum Kampf um die Macht sind.

Arbeiterpartei

In dieser Situation könnte auch eine Initiative für eine Arbeiterpartei auf schnelle Zustimmung stoßen. Es wäre die Aufgabe der Gewerkschaften, diese zu ergreifen, aber bisher trotteten deren Spitzen meist hinter der Bewegung her und gaben Erklärungen ab, als schon alles gelaufen war. Offenkundig sind die Verbindungen zu bürgerlichen Parteien, Staat und Unternehmen stärker als die Verantwortung für die Klasse. Wenn die Bewegung in Bulgarien Erfolg haben will, darf sie sich nicht auf demokratische Forderungen beschränken. Die Forderung nach Neuwahlen läuft letztlich ins Leere, wenn es keine Partei gibt, die mit der Politik zulasten der arbeitenden und arbeitslosen Bevölkerung bricht und die in- und ausländischen Kapitalisten und die reichen Profiteure zahlen lassen will.

Jede Initiative für eine neue Arbeiterpartei müsste sich nicht nur an die Gewerkschaften und linke Gruppen richten, sondern v.a. an die AktivistInnen der Bewegung, ihre proletarischen Teile und v.a. die Jugend. Sie müsste sich v.a. als eine Partei der Bewegung, eine Partei der Straße, der AktivistInnen mit einem klaren Programm präsentieren.

Ein solches Aktionsprogramm müsste beinhalten:

Sofortige Rücknahme aller Preiserhöhungen für Strom und Wasser! Entschädigungslose Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle!

Betriebe, die stillgelegt wurden und ArbeiterInnen entlassen haben, müssen verstaatlicht und unter Arbeiterkontrolle gestellt werden, auch in der Landwirtschaft! Die Arbeiterkontrolle ist entscheidend, da eine Rückkehr zu Herrschaft der Bürokraten keine Alternative ist, da diese selbst zu „Unternehmern“ geworden sind.

Sofortiger Mindestlohn und Mindestrente von 300 Euro monatlich!

Beschlagnahme aller Vermögen, die durch Raubprivatisierung zustande gekommen ist! Offenlegung aller Geschäftsbücher und Übertragungsgeschäfte! Bildung von Kontrollausschüssen zur Überprüfung der Besitzrechte!

Etablierung eines Notplans zur Reorganisation der Wirtschaft auf Grundlage demokratischer Planung gemäß der wichtigsten Bedürfnisse der Massen in Stadt und Land!

Man könnte sagen, dass es in Bulgarien derzeit gar keine wirkliche Führung der Bewegung gibt. Stattdessen prägen kleinbürgerliche NGOs das Bild vom Widerstand. Diese fordern mehr „EU“ und mehr „Demokratie“ und verbreiten damit die Illusion, die Korruption in Bulgarien beenden zu können. Es ist daher notwendig, die breit diskutierte Forderung nach einem Rätesystem auch tatsächlich umzusetzen - und zwar nicht auf einer parlamentarischen Ebene, sondern an der Basis. Nur so können letztlich auch die utopischen Verwirrungen, die in Bulgarien in dieser Diskussion vorherrschen, und ein Missbrauch der Rätelosung - indem diese nur als eine „Ergänzung“ der parlamentarischen Demokratie benutzt wird - durchbrochen werden.

Direkt aus den Protesten und Straßenversammlungen müssen demokratische Kampfstrukturen gebildet werden, die den Kampf gegen die Regierung und die Kapitalisten bündeln und die Verteidigung der Aktionen gegen die Angriffe der Polizei wie auch gegen rechte Provokateure sichern.

Vor allem aber geht es darum, die Bewegung in den Betrieben und im Öffentlichen Dienst, in den Städten wir am Land zu verankern. Bei einer Massenbewegung, die die große Mehrheit der Bevölkerung umfasst, sind natürlich auch die meisten auf der Straße Lohnabhängige. Um als Klasse in Erscheinung zu treten, braucht es aber nicht nur eine politische Organisation, sondern auch ein Schwergewicht auf andere Kampfformen: auf eine politische Streikbewegung in den Betrieben, auf Besetzungen, auf einen Massenausstand, der nicht nur die Regierung zu Fall bringen kann, sondern auch die Forderungen nach Arbeiterinspektion, Kontrolle, Reorganisation der Produktion praktisch zu verwirklichen beginnt. Eine solche Bewegung muss - um nicht selbst auf halbem Wege stecken zu bleiben - nicht nur den Sturz der Regierung ins Auge fassen, sondern muss sie auch ersetzen durch eine Arbeiter- und Bauernregierung, die sich auf  Räte anstelle des bürgerlichen Staatsapparates stützt und mit dem Kapitalismus bricht.

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Nr. 182, September 2013
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*  Energiepolitik: Preis der billigen Braunkohle
*  Zur Politik der Linkspartei: Keine Alternative
*  Flüchtlingspolitik von EU und Deutschland: Humanitärer Imperialismus
*  Berlin Hellersdorf: Hände weg vom Flüchtlingsheim!
*  75. Jahrestag der Gründung der Vierten Internationale: Aufbruch und Zerfall
*  Bolivien: Neue Arbeiterpartei
*  Bulgarien: Krise in Permanenz
*  Ägypten: Das blutige Wüten der Konterrevolution