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Hartz IV in Berlin

Wohnst du noch oder fliegst Du schon?

Gerald Waidhofer, Neue Internationale 133, Oktober 2008

Die Hartz-Gesetze stehen zurecht im Zentrum der Empörung über die Politik der Regierungen Schröder und Merkel, sie sind fast zum Synonym für Neoliberalismus in Deutschland geworden.

So mussten diverse Pseudo-Verbesserungen her, um den Zorn von SPD-Mitgliedern und -WählerInnen zu besänftigen. Für die LINKE wiederum ergibt sich immer gerade in Berlin der Spagat zwischen einer Opposition gegen die Hartz-Gesetze und deren „selbstverständlicher“ Umsetzung als mitregierende Partei.

Forderungen des Bundes

Vor diesem Hintergrund gibt es jetzt in Berlin eine Zuspitzung durch Angriffe der Bundesebene auf die angeblich „zu zaghafte Umsetzung“ der gesetzlichen Vorgaben durch den Senat. In Berlin gelten bereits 12,8% der Bevölkerung als arm, rund 600.000 Menschen beziehen Hartz IV (ALG II). Immer mehr davon sind „Aufstocker“, also Erwerbstätige, die zusätzliche Leistungen benötigen. 2006 betraf das bereits 18,3% der Berliner Erwerbstätigen.

Eine Schätzung der Folgen der ursprünglich veranschlagten Angemessenheit der Wohnkosten ergab, dass mit 40.000 bis 70.000 Zwangsumzügen zu rechnen ist. 2005 wurden Ausführungsvorschriften zur Ermittlung angemessener Kosten der Wohnung (AV Wohnen) zur Milderung der Folgen der Hartz-Gesetze beschlossen und seit 2006 umgesetzt. Nun prangern Finanzministerium und Rechnungshof für die BezieherInnen von Hartz IV (ALG II) beispielsweise die Übernahme der vollen Miete für ein Jahr, die mangelnde Quadratmeter-Begrenzung und zu hoch angesetzte Mietobergrenzen an. Mithilfe offensichtlich unseriöser und kurzsichtiger Rechenmodelle wird Berlin als besonders verschwenderisch dargestellt und eine riesige finanzielle Schädigung kritisiert.

In der öffentlichen Diskussion stellen sich jetzt die SPD und DIE LINKE als sozial engagiert dar und hoffen auf Rückhalt aus der Bevölkerung. Die zunehmende Distanz zwischen den Berliner Regierungsparteien und der Bevölkerung bleibt aber bestehen. Dass beide Parteien, und v.a. die SPD, in den Umfragen nicht noch schlechter dastehen, hat u.a. mit der chaotischen Situation der Berliner CDU zu tun.

Ein Beispiel für das Verhältnis zwischen dem Senat und den von den Hartz-Gesetzen direkt Betroffenen war eine Veranstaltung der AhA (Arbeitslose helfen Arbeitslosen) und der Volkssolidarität am 26. September. Zum Thema „Heute arbeitslos, morgen Wohnung los?“ versammelten sich rund 30 AktivistInnen in Berlin-Spandau zu einer Podiumsdiskussion. Neben der Berliner Mietergemeinschaft und der Kampagne gegen Zwangsumzüge waren auch SPD und LINKE eingeladen.

In kurzen Einführungen wurden einige aktuelle Entwicklungen vorgestellt. So wurden die Richtwerte für Wohnungsmieten seit 2005 nicht mehr angepasst, obwohl diese seither etwa um 5,8% angestiegen sind, „ALG II-gerechte Wohnungen“ im Zuge der gestiegenen Nachfrage sogar um über 10%. Durch die behördlichen Vorgaben wurden die Mietpreise auch gezielt auf die amtlich finanzierte Höhe angehoben, wodurch eine öffentliche Subventionierung der VermieterInnen stattfand.

Durch die sprunghafte Erhöhung der Energiepreise drohen jetzt massiv steigende Mieten, wodurch sich viele plötzlich in einer zu teueren Wohnung befinden und umziehen müssen. Als besonders alarmierend wurde eine sich abzeichnende soziale „Entmischung“ in Berlin dargestellt, was sich etwa in der Herausbildung von Ghettos auf der einen und ALG II-freien Zonen auf der anderen Seite zeigt.

SPD und LINKE

Für die LINKE sagte die Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales Knaake-Werner ihr Kommen zu und die Bezirksorganisation signalisierte Unterstützung. Doch die Unterstützung kam über die Ankündigung kaum hinaus und als Mobilisierungserfolg tauchte nur kurz ein Mitglied aus der LINKEN-Bezirksorganisation auf. Die Senatorin teilte wenige Stunden vor ihrem öffentlichen Auftritt mit, dass sie einen wichtigeren Termin wahrnehmen müsse. So konnte sie freilich nicht erläutern, wie es zu erklären ist, dass inzwischen Zwangsumzüge von ALG II-BezieherInnen stattfinden, obwohl sie dies zuvor ausgeschlossen hatte.

Die SPD war zwar auch nicht mit der angekündigten Präsenz erschienen, aber zumindest nahm der Bezirksstadtrat für Soziales und Gesundheit, Matz, am Podium teil. Es dauerte auch nicht lange, bis sich eine emotionale Diskussion zu seinen Ausführungen entzündete. So betonte er, dass die Kritik des Bundesrechnungshofes nebensächlich sei und bisher ohnehin nur weniger Umzüge erzwungen wurden als erwartet. Prinzipiell würde er ja auch das Recht auf freie Wahl des Wohnortes verteidigen, aber es frage sich eben, wer das bezahlen soll. Hartz IV verteidigte er damit, dass dadurch viele Menschen vom Sozialamt zum Jobcenter gelangten und keine (!) Verschlechterung dadurch entstanden sei. Nach empörten Protesten aus dem Publikum stellte er dann klar, dass eine rigide Sozialpolitik zum Erhalt der politischen Handlungsfähigkeit eben erforderlich ist.

Das Dilemma reformistischer Politik zeigte sich darin ganz offensichtlich. Ursprünglich angetreten, den Kapitalismus in den Sozialismus „hineinwachsen“ zu lassen und seine sozialen Schäden zu reparieren, geht es mittlerweile kaum noch um mehr als die Verwaltung der Missstände. Von einer grundsätzlichen Überwindung der Grundlagen des Kapitalismus wie Privateigentum, Konkurrenz, Lohnarbeit usw. ist sowieso nicht mehr die Rede - auch nicht bei der LINKEN.

Um seinen Handlungsspielraum zu erhalten, muss sich der Reformismus entweder als politische Exekutive der ökonomischen Vorgaben des Kapitals präsentieren oder in der Opposition über die sozialen Schieflagen lamentieren - ohne freilich dagegen wirklich zu kämpfen und zu mobilisieren. Die Sozialdemokratie machte sich unter Schröder gar zum Zugpferd für eine gigantische Offensive des Sozialabbaus.

Unter dem Etikett der Verringerung der Langzeitarbeitslosigkeit wurden die Rechte und die Einkommen der Langzeitarbeitslosen verringert und die Erwerbstätigen massiv unter Druck gesetzt. Es zeigt sich insgesamt, dass mit zunehmendem Druck seitens des Kapitals die Bemühungen reformistischer Politik zu Selbsterhaltung immer verzweifelter werden.

Das wichtigste an der Veranstaltung war jedoch, dass die Anwesenden beschlossen gemeinsamen mit anderen Initiativen und Kampagne von Arbeitslosen ein Aktionsbündnis aufzubauen. Das drückt auch die am Ende beschlossene Resolution aus:

„Zehntausenden drohen eine weitere drastische Verschlechterung ihrer Lebenslage und Zwangsumzüge! Wir lehnen diese menschenverachtende und zynische Praxis ab. Wir wollen sie bekämpfen und die Zwangsumzüge verhindern!

Während von Parteien wie der CDU und FDP keine soziale Politik zu erwarten ist, stellen sich die LINKE und die SPD in Berlin jetzt sozial engagiert und bedrängt dar und hoffen auf eine „moderate“ Lösung. Diese Parteien haben allerdings schon bisher die Hartz-Gesetze umgesetzt und durch Privatisierungen, Personalabbau und massive Kürzungen in lebenswichtigen Bereichen das Geschäft der Reichen besorgt.

Eine „moderate“ Lösung ist nur eine „moderate“ Fortsetzung dieser falschen, gegen die Erwerbslosen gerichteten Politik. Wir wollen gemeinsam gegen alle Zwangsumzüge vorgehen, gemeinsam die Hartz-Gesetze kippen. Dazu rufen wir auf, dazu wollen und werden wir auf die Straße gehen und Aktionen durchführen. Wir fordern LINKE und SPD auf, diesen Weg zu beschreiten und mit ihrer bisherigen Politik zu brechen!

Volle Finanzierung aller Wohnungskosten!

Keine Zwangsumzüge!

Übernahme sämtlicher Kosten bei gewünschtem Wohnungswechsel!

Mitbestimmungsrecht der Arbeitslosenvertretungen zu allen sie betreffenden Entscheidungen!“

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Nr. 133, Okt. 2008
*  Krise und Klassenkampf: Abwehrkampf organisieren!
*  Finanzkrise: Kapitalismus am Ende?
*  Neue SPD-Spitze: Alter Wein in alten Schläuchen
*  Sri Lanka: Solidarität mit internationalistischen Gewerkschaften!
*  Heile Welt
*  Pakistan: US-Angriffe stoppen!
*  US-Präsidentschaftswahlen: Gegen Obama und McCain! Für eine neue Arbeiterpartei!
*  Großdemo gegen Budgetdeckelung: Alibi oder Auftakt?
*  Österreich: Rechtsruck als Abstrafung der Sozialdemokratie
*  Hartz IV in Berlin: Wohnst Du noch oder fliegst Du schon?
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