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Bolivien

Vor dem Bürgerkrieg

Keith Spencer, Neue Internationale 115, November 2006

Bolivien befindet sich in einer revolutionären Situation. Streiks, Blockaden und Stilllegungen durch Arbeiter und Bauern, rechte Drohungen mit Bürgerkrieg und der Abtrennung ganzer Provinzen deuten alle darauf hin. Auch die Verfassungsgebende Versammlung ist seit zwei Monaten gelähmt - ein souveränes Organ, das gewählt wurde, um die Landesverfassung neu zu schreiben und über politische Inhalte zu beschließen wie z.B. Landbesitz und Boliviens Öl- und Gasreichtümer.

Dieser Aufruhr, in dem auch die Kräfte der Konterrevolution mobilisieren, setzt ein deutliches Zeichen der zunehmenden Klassenpolarisierung. Für die Arbeiterklasse und die Armut in Stadt und Land stellt sich die Frage, wie die Lage positiv gelöst werden soll und wie das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten entschieden werden kann, wie die Macht ergriffen werden kann.

Die reformistische Politik von Evo Morales und seiner MAS-Regierung (Bewegung zum Sozialismus) wird durch die realen Klassenkräfte und -kämpfe hin und her gerissen. Die zentralen politischen Punkte auf dem Regierungsprogramm, Landreform und Öl- und Gasverstaatlichung, die durch die Verfassung gebende Versammlung verabschiedet worden sind, stehen unter schwerem Druck.

Demokratie

Die Verfassungsgebende Versammlung wurde am 6.8. in die alte Hauptstadt Sucre einberufen. Morales hatte bereits den Rechten zugestanden, dass alle Maßnahmen nur mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden würden, eine äußerst undemokratische Methode, die nur darauf abzielt, den Willen der Arbeiter, armen Bauern und eingeborenen Gemeinschaften auszubremsen, die einen grundlegenden Wandel zur Erfüllung ihrer Bedürfnisse erwarten.

Anfang September wurde das Abstimmungssystem geändert auf einfachen Mehrheitsentscheid, aber mit der Klausel versehen, dass der abschließende Verfassungsentwurf von einer Zweidrittelmehrheit beschlossen werden soll. Während der Debatte in der Verfassungsgebenden Versammlung darüber brach ein handgreiflicher Streit aus, bei dem ein Aktivist der sozialen Bewegungen von rechten Schlägern so schwere Verletzungen davon trug, dass er noch jetzt im Koma liegt.

Die Rechten zogen sich aus der Versammlung zurück. Letzte Zugeständnisse wie die Wiedereinführung der Zweidrittel-Stimmenmehrheiten bei der Entscheidung über regionale Unabhängigkeit haben nicht gefruchtet. Ende September lehnten die Rechten auch die Machtbefugnisse der Verfassungsgebenden Versammlung über Regierung und Justiz  ab, was von Morales unterstützt wurde. Daraufhin kam es zu noch mehr Auszügen und Handgemenge bei der Versammlung.

Die Landbesitz- und Finanzoligarchie, die ihre Hochburgen in den 4 reichsten Provinzen Santa Cruz, Tarija, Beni und Pando hat, antwortete am 8.9. mit eigenen Straßensperren und Geschäftsschließungen. Die Innenstadt von Santa Cruz war lahm gelegt, aber in den Elendsquartieren und auf dem Lande trotzten die Massen den bürgerlichen Aktionen. Der rechte Flügel organisierte bewaffnete Banden aus der Crucenista Jugendunion, die dafür bekannt ist, die indigene Bevölkerung rassistisch zu provozieren und eindeutig protofaschistisch ist. Aber ihnen traten bewaffnete Anhänger von Morales und der MAS entgegen.

In den reichen Provinzen spitzt sich die Polarisierung weiter zu durch gegeneinander arbeitende Bürgerkomitees wie in Santa Cruz. 2 Wochen nach der bürgerlichen Lahmlegung haben MAS-Kräfte die Straßen nach Santa Cruz gesperrt aus Rache für die Blockade der Oligarchie gegen das Gesetz zur Landreform.

Die rechten Provokationen sind ausgerichtet, um den Sturz der Regierung vorzubereiten.  Nach Morales Wahlsieg sollen sich die Spitzen von Militär, Wirtschaftsverbänden, Beamtenapparat und der Podemos-Partei (Demokratische und Soziale Macht) zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung nach Morales Sturz, dessen Regierung sie nur wenige Monate Lebensdauer einräumten, zusammen gefunden haben. Podemos ist eine rechte Partei, die auch unter dem Namen Accion Democratica Nacionalista, einer Gründung des ehemaligen Präsidenten und Diktators Hugo Banzer, agiert. Jorge Quiroga, den Morales bei der Präsidentschaftswahl 2005 schlug, führt die Partei jetzt. Seither hat es noch weitere Zusammenkünfte dieser Art gegeben.

Gebrochene Versprechen

Doch statt entschlossen diese Machenschaften aufzudecken und gegen das Komplott und die Sabotage der Rechten vorzugehen, verhält sich die Morales-Regierung abwartend und versöhnlerisch. Die im Mai angekündigte Verstaatlichung der Gas- und Ölindustrie ist kaum durchgeführt worden. Die Besteuerung der Ölgesellschaften ist lediglich erhöht worden, und die staatlichen Ölgesellschaften dürfen 51%-Anteile der ausländischen Konzerne erwerben. Das Programm verstrickt sich in Verhandlungen, Prozessen und wiederholten Aufschüben.

Auch das Vorhaben die bolivianischen Gasfelder von dem brasilianischen Staatskonzern Petrobas abzukaufen wurde von Lula abgelehnt, den Morales unterwürfig "großen Bruder" nennt - genau wie die Forderung nach fairen und höheren Preisen für das boliviasnische Gas von Lula mit Petrobas abgelehnt wurde.

In der Folge wurde der radikale Energieminister Andres Soliz, der die Industrie stärker kontrollieren wollte, von Morales ausgebremst und der stellvertretende Präsidente Alvaro Garcia Linera musste seinen Rücktritt einreichen. Soliz offenbarte, dass ein ‚Teil der Regierung' Dinge nicht geschehen lassen will. Morales ist auch damit gemeint. Er hat sich gegen Streiks der Transportarbeiter gegen höhere Benzinpreise, solche der  Bergarbeiter für die staatliche Beteiligung an den Bergwerken, und jene der Lehrer für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen gewandt. Der Bildungsminister Felix Patzi ist neulich einem Lehrerstreik entgegen getreten und hat Eltern unterstützt, die vor das Streiklokal gezogen sind. Er griff die Lehrer wegen ihres politischen Engagements an, denn in der Streikführung saßen einige linke Morales-Kritiker.

Während der dortigen Wintermonate schickte die Regierung Polizei aus, um Bauern aus der Bewegung der Obdach -und Landlosen (MST) anzugreifen. Sie hatten Land besetzt und nicht erst auf Morales Landgesetz gewartet, das ohnehin nur halbherzig ist und den dringenden Bedürfnissen der ländlichen Bevölkerung keine Perspektive bietet. Es fordert nur die Verstaatlichung von Land, das derzeit nicht von den Großgrundbesitzern genutzt wird, statt die Übergabe aller großen Ländereien und Landbetriebe an Kleinbauern und Landarbeiter.

Vor kurzem haben blutige Zusammenstöße mit 9 Toten und über 40 Verletzten auf der großen Huamuni-Mine nahe Oruro stattgefunden, als ‚kooperative' Bergarbeiter die ergiebigeren Erzadern der staatlichen Comibol-Gesellschaft in Beschlag nehmen wollten. Der Bergbau-Minister Walter Villaroel steht hinter den Kooperativistas. Die staatliche Bergarbeiter-Gewerkschaft FSTMB und der bolivianische Gewerkschaftsverband COB haben sich über Verzögerungen bei dem versprochenen Ausbau der Bergwerke beklagt.

Feindschaft und Verhinderungspolitik schlagen Morales auch innerhalb der Regierung entgegen, so dass er sich weiter auf die Volksbewegungen bezieht und davon spricht, Bolivien den Massen der indigenen Bevölkerung zu übergeben. Linera gilt eher als gemäßigter Sozialdemokrat, hat allerdings auf einer Rede im September die Massen dazu aufgerufen, sich zu bewaffnen und die Regierung gegen die Oligarchie zu verteidigen.

Die MAS als Regierungspartei setzt sich aus etlichen sozialen (indigenen, bäuerlichen, proletarischen sowie intellektuellen) Bewegungen aus Stadt und Land zusammen. Durch den klassenübergreifenden Charakter der MAS kann diese Partei eher als Koalition bezeichnet werden. Verschiedene Teile der MAS nehmen in den Medien gegeneinander Stellung. Auf einer Versammlung in La Paz kam es sogar zu einem Kampf zwischen MAS-Mitgliedern, so dass die Polizei einschreiten musste. Hier zeigen sich Parallelen zu Venezuela, wo die bolivarische Bewegung aus Revolutionären, Radikalen und Leuten besteht, die eine moderne kapitalistische Ökonomie verwirklichen wollen. Der politische Gewerkschaftsverband COB scheint nun seit der Juni-Konferenz mehr auf Morales Seite gerückt zu sein. Ihr linker Führer Jaime Solares, der vor knapp einem Jahr Morales als Verräter gebrandmarkt hatte und einen Generalstreik gegen ihn organisieren wollte, ist abgelöst worden.

Insgesamt steckt die populistische Bewegung von Evo Morales in der Klemme zwischen den Ränkespielen und Drohungen der Rechten und den Forderungen der Massen nach einem tief greifenden Wandel. Die Rechte bereitet eine Offensive vor, entweder die Abtrennung der 4 reichsten Provinzen, und damit fast aller Öl- und Gasvorräte des Landes, oder plant einen Militärputsch gegen das Morales-Regime. Es könnte sich sogar ergeben, dass die Abtrennung von den Reaktionären als Vorwand für ein militärisches Eingreifen benutzt wird, um ‚die Einheit des Landes zu schützen'.

Die Arbeiter und Bauern müssen für die Auseinandersetzung gewappnet sein und für ihre eigenen Interessen kämpfen und dürfen sich nicht auf die falsche Führung von Morales und der MAS verlassen. Angesichts ihrer Erfahrung mit Selbstorganisation in Organen wie dem Bund der Nachbarschaftsräte (Fejuve) und der Regionalen Arbeiterzentrale (COR) in El Alto besteht diese Möglichkeit durchaus. Die Schaffung einer revolutionären Führung ist die dringendste Aufgabe.

Morales handelt als bonapartistische Gestalt, lenkt die Wünsche der Massen auf sich und hemmt und demobilisiert damit die Massen. Wenn er damit Erfolg hat und die Massenbewegung niedergeht, werden die Rechten am Zug sein.

Aktionsprogramm

Die Antwort muss eine Massenoffensive sein, die die Maßnahmen erzwingt, mit denen die Bedürfnisse der Arbeiter und der Armut gestillt werden können, die die Reaktion enteignet und entwaffnet und den Weg frei macht für eine Arbeiter- und Bauernregierung. In dieser Mobilisierung müssen die brennenden Fragen in einem Aktionsprogramm zusammengefasst werden:

Die Massen, die ihre Abordnungen für die Verfassungsgebende Versammlung gewählt haben, müssen nun dafür sorgen, dass dieses Organ zur Waffe der gesellschaftlichen Umwälzung und nicht zum Blockadeinstrument für die Reaktion wird. Die Arbeiter und Bauern sollen darauf dringen, dass alle Entscheidungen mit einfacher Mehrheit ohne Zweidrittelklausel gefällt werden und dass die Verfassung gebende Versammlung als Souverän über Regierung, Senat und Justizapparat gesetzt ist.

Morales muss aufgefordert werden, die Gas- und Ölindustrie völlig und entschädigungslos zu verstaatlichen und sie unter Arbeiterkontrolle zu stellen. Andere Industrien wie der Bergbau sollten gleichfalls unter Arbeiterkontrolle verstaatlicht werden.

Das Land soll sofort an die Kleinbauern verteilt werden. Alle Ländereien und landwirtschaftlichen Großbetriebe müssen enteignet werden. Die Bewegung der armen Bauern und Landlosen sollte bei ihre Besetzungen und Landnahmen Unterstützung genießen.

Die letztjährige revolutionäre Offensive wurde von dem El Alto Fejuve angeführt, einem sowjetähnlichen Gebilde. Dies muss wiederbelebt werden, und es müssen ähnliche Delegiertenräte im ganzen Land errichtet werden, um die verschiedenen Massenbewegungen der Arbeiter und Bauern in Einklang zu bringen. Diese Räte sollen die Kontrolle über die Delegierten der Verfassung gebenden Versammlung ausüben und sie auch unverzüglich absetzen und ersetzen können, wenn diese nicht die revolutionären Maßnahmen fördern oder sich mit den Rechten versöhnen wollen. Die Räte können auch ein alternatives Macht- und Regierungszentrum werden, das eine Grundlage für eine neue Staatsart, einen Arbeiterstaat, schafft.

Bewaffnung der Massen in Arbeiter- und Bevölkerungsmilizen und Gewinnung der Mannschaftsgrade aus dem Heer ist ebenfalls eine wichtige Aufgabe. Solche Milizen müssen  zur Verteidigung der Arbeiter und Bauern gegen rechtsgerichtete Attacken wie z.B. durch die Crucenista Jugendunion, Polizei oder Armee aufgebaut werden. Ferner müssen Teile der Armee aufgefordert werden, sich auf die Seite der Massen zu schlagen und ihre Vorgesetzten und obersten Befehlshaber, die Brutstätte für den nächsten Putsch, zu entmachten.

Die ArbeiterInnen brauchen ihre eigene Partei, kein populistisches Klassengemenge wie die MAS. Der COB, der den Gedanken einer Partei auf seiner diesjährigen Konferenz erörterte, sollte schleunigst einen Kongress zur Parteigründung anberaumen. Diese Arbeiterpartei muss mit einem revolutionären sozialistischen Programm ausgestattet sein und ihren Rückhalt in den Gewerkschaften, bei der armen Landbevölkerung und den sozialen Bewegungen haben.

Eine solche Partei muss sich für die Machtübernahme rüsten und den bewaffneten Aufstand der Massen organisieren, um eine Regierung aus Arbeitern und armen Bauern ins Amt zu bringen. Diese Regierung ist den Räten der Arbeiter und Bauern verantwortlich.

Bolivien steckt mitten in einer revolutionären Lage, aber sie kann nicht lange währen. Morales macht Zugeständnisse, einmal den Rechten, dann wieder an die Massen. Die Reaktion will die Regierung stürzen und die Kämpfe der Massen ersticken. Der einzige Weg, diese Pläne zu durchkreuzen, ist der Sturz des Kapitalismus und der Beginn einer revolutionären sozialistischen Umwandlung Boliviens, die Ausbreitung der Revolution auf den gesamten Erdteil sowie die schließlich Schaffung eines Arbeiterstaatenbundes in Lateinamerika.

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Nr. 115, November 2006

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