Arbeitermacht
Liga für die fünfte Internationale

Nord & Südamerika Europa Asien & Australien


google.de arbeitermacht.de

Datenschutz und Privatsphäre 2015

Sie kommt, sie kommt nicht, sie kommt ... die Vorratsdatenspeicherung

Alex Mayer, Infomail 848, 6. November 2015

Das Jahr 2015 endet bezüglich Überwachung und Einschränkung der modernen, verhältnismäßig freien Telekommunikation so düster wie es begonnen hat – und deren Ende ist nicht in Sicht. Gerade wurde die Vorratsdatenspeicherung durchgewunken und aktuell wird die sog. Netzneutralität in Frage gestellt.

Vom NSU-Skandal zur erneuten „Terrorgefahr“

Nachdem im Sommer 2013 die Snowden-Enthüllungen aufdeckten, wie NSU, BND und andere Geheimdienste flächendeckend das Internet und damit auch die Kommunikation über Telefon und Smartphone überwachen, wurden daraus zwar keine ernstzunehmenden Konsequenzen in der Politik gezogen und erst recht gab es keine massenhafte politische Bewegung auf der Straße, immerhin waren aber Themen wie Privatsphäre im Internet und der Schutz gegen „Schnüffeldienste“ in aller Munde.

Die Massenmedien erklärten Otto-Normalverbrauchern den Einsatz des TOR-Browsers zum anonymen Surfen im Web, das Verschlüsseln von E-Mails mittels PGP und von Festplatten und anderen Datenträgern z.B. mit TrueCrypt. Landauf, landab war man entrüstet über die NSA, und der Staat geriet zum Wolf im Schafspelz. Von Bild bis Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik – alle halfen bei der Gefahrenabwehr am heimischen PC. Während die einen zur Tagesordnung übergingen, beschäftigen sich andere intensiver mit der Thematik. NSA, BND und Co. spitzelten weiter, der Skandal lief sich tot. Alles in allem aber eher schlechte Vorrausetzungen, um eine drastische Maßnahme wie die Vorratsdatenspeicherung politisch durchzudrücken. Noch dazu war die 2007 eingeführte Vorratsdatenspeicherung nach Verfassungsklagen zwischen 2007 und 2010 wieder gekippt worden. Diese Situation änderte sich schlagartig mit den Terroranschlägen auf Charlie Hebdo in Paris im Januar 2015. Der „islamistische Terror“ war nach Europa zurückgekehrt. Endlich gab es Vorwände, den Kampf gegen den Terror an der IT-Front wieder verstärkt aufzunehmen und öffentlich zu propagieren.

Während SPD-Justizminister Heiko Maas noch zauderte, instrumentalisierte CDU-Innenminister Thomas de Maizière bereits in gewohnt populistischer Stimmungsmache die Anschläge von Paris. Wolfgang Schäuble ließ es sich nicht nehmen, ihm zugleich beizupflichten. Auch der „Bund Deutscher Kriminalbeamter“ stand auf der Stelle bereit, um Maas hart anzugehen, ebenso die „Gewerkschaft der Polizei“. Man warnte vor „Denkverboten“ in Bezug auf Überwachungsmaßnahmen, stellte Maas als feige dar und Thomas de Maizière vertrat die Ansicht, dass es absurd sei, dem Staat nicht die technischen Mittel zuzugestehen wie sie die Feinde von „Freiheit und Sicherheit“ auch nutzten.

Die ideologische Grundlage, um die Sicherheit der Bürger einmal mehr zu beschneiden, die de facto bereits existierende Komplettüberwachung der Telekommunikation noch engmaschiger zu gestalten und um die Komponente zu erweitern, völlig verdachtsunabhängig einfach alles zu speichern, war gelegt. Etwas später erfolgte der Angriff auf die Journalisten von netzpolitik.org mittels des Vorwurfes des Landesverrats, weil sie Verfassungsschutz-Akten veröffentlicht hatten. Erst nach einer breiten Debatte und Kritik von allen Seiten endete dieser Angriff mit einer Niederlage für den VS-Präsidenten Maaßen und den ermittelnden Bundesanwalt Range als Bauernopfer. Ihr Dienstherr Thomas de Maizière als Chef des Bundesministeriums des Inneren konnte bleiben und auch die BND-Affäre bestand er quasi unbeschadet (http://www.arbeitermacht.de/ni/ni202/netzpolitik.htm).

Mit dem Aufkommen der „Flüchtlingsproblematik“ konnte de Maizière die Situation gleich mehrfach ausnutzen. Einerseits konnte er sie vom Schreibtisch aus rassistisch befeuern. Der braune Mob in Heidenau war ein willkommener Anlass, um schärfere Waffen für den Staat gegen „Extremisten“ zu fordern. Gleichzeitig nutzte er die Gelegenheit, um vor möglichen Salafisten und Islamisten unter den Flüchtlingen zu warnen, welche die Sicherheitslage in Deutschland gefährden könnten. Gleichzeitig waren seine rassistischen Einwürfe in die Flüchtlingsdebatte ein gelungenes Ablenkungsmanöver, um über seine etlichen eigenen Skandale (Euro-Hawk, Bundeswehr-Auslandseinsätze, BND-Affäre, NSU-Untersuchungsausschuss) Gras wachsen zu lassen und die Vorratsdatenspeicherung im stillen Kämmerlein vorantreiben zu können.

Gesetzesverschärfung

Am 16. Oktober stimmte eine breite Mehrheit im Bundestag der Gesetzesvorlage der Bundesregierung zur „Einführung einer Speicherpflicht und Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten“ – ergo zur Vorratsdatenspeicherung – zu. Konkret verpflichtet das Gesetz die Kommunikationsunternehmen zur Speicherung folgender Daten:

Standortdaten der TeilnehmerInnen aller Mobiltelefonate bei Beginn des Telefonats, zu speichern für 4 Wochen;

Standortdaten bei Beginn einer mobilen Internetnutzung, zu speichern für 4 Wochen;

Rufnummern, Zeit und Dauer aller Telefonate, zu speichern für 10 Wochen;

Rufnummern, Sende- und Empfangszeit aller SMS-Nachrichten, zu speichern für 10 Wochen;

Zugewiesene IP-Adressen aller Internetnutzer sowie Zeit und Dauer der Internetnutzung, zu speichern für 10 Wochen

Die Daten müssen im Inland gespeichert und nach Fristende gelöscht werden. Angefordert werden können sie von Polizeibehörden und Geheimdiensten ohne richterliche Anordnung. Konkret ist die Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung ein wichtiger Stein im fast kompletten Mosaik der Totalüberwachung. Dabei spielen die von den Befürwortern angeführten Argumente (weniger Kriminalität, mehr Schutz vor Terroranschlägen) kaum eine reale Rolle. Studien vom Max-Planck-Institut, Stellungnahmen des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung sowie etliche Auswertungen der jährlichen Kriminialitätsstatistiken zeigen auf: die Kriminalität wird durch mehr Überwachung kaum bekämpft.

Um was geht es dann? Erstens wird erneut die Unschuldsvermutung ausgehebelt. Jeder ist verdächtig. Es geht nicht mehr darum, wer etwas getan hat, es geht darum, wer etwas tun könnte. Die informelle Selbstbestimmung ist passé. Bei jeder Information wird davon ausgegangen, dass der Staat sie irgendwann gebrauchen könnte, auch in anderen Lebensbereichen wie z.B. im Gesundheitswesen. Und zweitens geht es nicht um Kriminalität. Vielmehr geht es darum, politische Bewegungen und kritische Aktivitäten zu überwachen und ausforschen zu können, ein Klima zu schaffen, in der Menschen schon aus Angst vor staatlicher Repression davor zurückschrecken, bestimmte Rechte in Anspruch zu nehmen (z.B. sich auf linken Websites oder Portalen zu informieren oder sich zu positionieren) oder selbst aktiv zu werden.

Schon vor der Einführung der Vorratsdatenspeicherung bewiesen Geheimdienste und Polizeibehörden täglich, gegen wen sich Überwachungsmaßnahmen richten. Bei den Gegenaktivitäten zum Nazi-Aufmarsch im Februar 2011 in Dresden registrierte die Polizei alle Handys und Smartphones die sich auch nur ansatzweise in der Nähe des Einsatzortes befanden und dort in eine Funkzelle eingeloggt waren. Gezielt suchte die Behörde nach Leuten, die in der Vergangenheit schon einmal im Verdacht standen, gegen Polizisten vorgegangen zu sein. Auch wurden die Daten genutzt, um gegenüber linken AktivistInnen, denen Straftaten vorgeworfen wurden, zu beweisen, dass sie vor Ort waren. Diese massive Überwachungsmaßnahme war richterlich genehmigt. Durch die Vorratsdatenspeicherung benötigt die Polizei keine richterliche Genehmigung mehr, braucht sich keine kritischen Fragen gefallen lassen und muss nicht einmal mehr aufgrund einer Gefahrenprognose abwägen, ob es Sinn macht, Daten zu sammeln. Sollten sich irgendwo spontan nicht angemeldete Aktionen oder Proteste ereignen, kann sie sofort die Herausgabe der Daten vom Telekommunikationsunternehmen verlangen und erzwingen.

Außerdem stellt das Gesetz eine Bedrohung für kritische, investigative JournalistInnen dar, die Kontakt zu InformantInnen pflegen, die aufgrund der oftmals brisanten Themen und der Weitergabe von Informationen trotz eigentlicher Verpflichtung zur Verschwiegenheit anonym bleiben müssen. Da nutzt es nicht, dass die JournalistInnen ihren InformantInnen Anonymität zusichern, wenn sie diese nicht mehr gewähren können. Auch AnwältInnen und ÄrztInnen stehen vor diesem Problem.

Massive Überwachung, bescheidener Protest

Während in Deutschland die Überwachung also immer massiver wird, fällt der Widerstand dagegen seit den Protesten gegen die Volkszählung 1987 ernüchternd aus: alljährlich ein paar tausend AktivistInnen auf der „Freiheit statt Angst“-Demo in Berlin, ein paar tausend BesucherInnen auf dem ChaosComputerClub-Kongress und eine verhältnismäßig große Bewegung gegen das ACTA–Abkommen 2012. ACTA steht für „Anti-Counterfeiting Trade Agreement“ und wendet sich vordergründig gegen Produktpiraterie und Urheberrechtsverletzungen, beinhaltet u.a. aber die Einschränkung einer ganzen Reihe rechtsstaatlicher Verfahrensnormen und beschneidet auch den Zugang zu Medikamenten (Generika).

Die Anti-ACTA-Bewegung konnte an ihre Erfolge nicht anknüpfen und den Kampf gegen Überwachung und Einschränkung von freier Kommunikation fortsetzen, sicherlich auch aufgrund der Dominanz der de facto nicht mehr existenten kleinbürgerlichen Piraten-Partei in eben dieser Bewegung und der gleichzeitig völlig unterrepräsentierten deutschen Linken sowie mangels weitergehender Forderungen.

GegnerInnen der Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung haben bereits angekündigt, vor dem Bundesverfassungsgericht zu klagen. Ob diese Überwachungsmaßnahmen auf Dauer durch Verfassungsklagen gestoppt werden, ist fragwürdig. Noch dazu bricht der Überwachungsstaat auch immer wieder die eigenen Gesetze oder sucht sich Schlupflöcher; die Daten werden derweil weiter gesammelt. Wichtiger denn je wäre eine breite Massenbewegungen der Jugend und der ArbeiterInnen gegen staatliche Repression und Einschränkung demokratischer Rechte.

Leserbrief schreiben   zur Startseite

Wöchentliche E-News
der Gruppe Arbeitermacht

:: Archiv ::

Nr. 204, November 2015
*  Einheit und Perspektive: Für eine anti-rassistische Massenbewegung
*  Verschärfung des Asylrechts: Refugees welcome, aber nicht in Europa
*  Massendemonstration gegen TTIP: Wie weiter gegen die Wirtschafts-NATO?
*  Konferenz zu Streikrecht und Union-Busting: Was tun gegen neue Angriffe?
*  VW-Skandal: Grenzwerte und Systemgrenzen
*  Syrien: Der Krieg, seine regionalen und globalen Auswirkungen
*  Neuwahlen in der Türkei: AKP bombt sich zurück zur Alleinregierung
*  Vorwahlen zur US-Präsidentschaft: Bernie Sanders for President?
*  60 Jahre Bundeswehr: Alter Zopf und neuer Zoff
*  Veranstaltungsreihe: Griechenland nach den Wahlen
*  Marxistisches Forum in Berlin: Ideen unter Feuer
*  Politische Perspektive: Krise der EU - Krise der Linken?!