Arbeitermacht
Liga für die fünfte Internationale

Nord & Südamerika Europa Asien & Australien


google.de arbeitermacht.de

Hongkong

Zwei „Systeme“ - eine Diktatur

Peter Main, Infomail 778, 20. Oktober 2014

Solch massive Proteste wie aktuell hat Hongkong seitdem die britische Verwaltung 1967 Demonstrationen niedergeschlagen hat, nicht mehr erlebt. Zehntausende Protestierende, die  v.a. das Recht fordern, die politischen Repräsentanten ihres Gebietes frei wählen zu können, wurden mit Polizeiknüppeln, Tränengas und Pfefferspray überzogen.

Wenn die Stadtverwaltung unter Leung Chun-ying nun dachte, den DemonstrantInnen, angeführt von StudentInnen und SchülerInnen, damit eine Lehre erteilen zu können, lag sie damit aber völlig falsch. Ein paar Stunden nach den ersten Polizeiattacken strömten weitere Tausende auf die Straße, um gegen die Brutalität zu protestieren und die Freilassung der studentischen FührerInnen aus dem Polizeigewahrsam zu fordern.

Diese Antwort unterstreicht die Mobilisierungskraft solcher elementar demokratischen Forderungen und zugleich, dass die massiven Proteste eine grundsätzliche Bedrohung nicht nur für die Stadt-, sondern auch für die Zentralregierung in Peking darstellt.

Die Proteste in Hongkong dauern nun schon mehrere Wochen an. Täglich kommt es zu Zusammenstößen zwischen AktivistInnen und der Polizei. Lt. den lokalen Medien gab es erneut mindestens zwei Dutzend Verletzte. Korrespondenten berichteten, dass einige Demonstranten schwere Kopfverletzungen erlitten hätten, als Polizisten auf sie einschlugen. Die Protest-Bewegung hat mehrere Camps aufgebaut und Barrikaden errichtet, die inzwischen zum Teil gewaltsam von der Polizei geräumt wurden.

Im Vordergrund steht die Wahl einer neuen Stadtverwaltung 2017. Entsprechend dem Grundgesetz, das zwischen der chinesischen Führung und der Thatcher-Regierung ausgekungelt worden war, gilt formell, dass die Wahl der Mitglieder der Legislative und des Oberhaupts letztlich durch allgemeines Wahlrecht erfolgen soll. Doch Peking verweigert die freie Nominierung der Kandidaten.

‚Occupy Central’

Die letzte Entscheidung liegt beim ständigen Komitee des nationalen Volkskongresses. Es wurde jedoch schnell klar, dass es nicht darum ging, wer das Recht zu wählen hat, sondern wer das Recht hat zu kandidieren. In diesem Zusammenhang tauchte die Forderung nach ‚Occupy Central’ auf, das seinen Ursprung in der Occupy-Bewegung von 2011 hat und bedeutet, dass der Hauptbezirk für Finanzhäuser der Insel Hongkong besetzt werden sollte, wenn die vollen demokratischen Rechte einschließlich des passiven Wahlrechts nicht gewährt werden würden.

Am Tag der Entscheidung durch das ständige Komitee am 31. August hatte ‚Occupy Central’ ihren radikalen Bewegungscharakter bereits eingebüßt und war zu einer Lobbygruppe aus respektablen Akademikern geworden. Als herauskam, dass nur Personen (im Höchstfall wahrscheinlich drei) mit Genehmigung des Pekinger Nominierungsgremiums zur Kandidatur zugelassen werden sollten, bekannte einer der Führer von Occupy, der Rechtsgelehrte Benny Tai, dass sie kurzfristig gescheitert seien, aber längerfristig weiter für volle Demokratie eintreten wollten.

Das wurde später mit dem Aufruf zur Besetzung des zentralen Bezirks an einem öffentlichen Feiertag, am 6. September oder am 1. Oktober, dem Nationalfeiertag zur Erinnerung an die Revolution 1949 bekräftigt. Die Wahl eines öffentlichen Feiertags machte jedoch deutlich, dass die Organisatoren nicht beabsichtigten, die Geschäftsabläufe zu stören.

Radikalere Kräfte, besonders von der Hongkonger Studentenvereinigung HKFS wiesen dies zurück und schätzten es als Eingeständnis einer Niederlage ein. Viele von ihnen hatten zwei Jahre zuvor aus der Erfahrung mit der Massenmobilisierung gegen die Einführung ‚patriotischer’ Schullehrpläne gelernt. Nach der Entscheidung des ständigen Komitees riefen sie eine studentische Streikwoche ab dem 22. September aus und forderten das volle allgemeine Wahlrecht ohne behördliches Veto gegen Kandidaten.

Aufbauend auf dem Erfolg dieses Streiks, riefen die StudentInnen auch zu einem Treffen mit Leung auf. Als dies abgesagt wurde, gingen die AktivistInnen zur Besetzung des Regierungssitzes über, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Die gewaltsame Polizeireaktion daraufhin änderte die Lage. Als die Proteste an Umfang zunahmen, wurde auch deren Bedeutung größer.

Die Hongkonger Regierung steht unter dem Druck aus der Pekinger Zentrale, die Straßen von DemonstrantInnen frei zu räumen. Diese wiederum müssen sich mit anderen Kräften auseinandersetzen, die entweder die Zentralregierung beschwichtigen oder die Bewegung für ihre eigenen Zwecke benutzen wollen. Occupy Central hat sich anfangs von der studentischen Mobilisierung fern gehalten und betont, dass ihre symbolische Platzbesetzung eine getrennte Aktion in der Folgewoche sei. Am Sonnabend änderte Benny Tai dann seine Haltung und erklärte, dass die Besetzung des zentralen Bezirks nun begonnen hätte.

Einige StudentInnen sahen dies als Versuch an, die Bewegung zu kontrollieren, hatten auch Zweifel an der Wirksamkeit und riefen zum Rückzug auf das Universitätsgelände auf. Das war zwar verständlich, wäre aber ein Fehler gewesen, denn damit hätten sie Figuren wie Tai die Führung überlassen. Doch die große Masse der Protestierenden harrte glücklicherweise im Finanzbezirk aus.

Liberale

Als nächste wollten sich liberale Berufspolitiker, die ‚Pandemokraten’, die Jahrzehnte lang eine weitgehend unauffällige Rolle im pseudodemokratischen „Legislativen Rat“ gespielt hatten, an die Dynamik der Protestbewegung anhängen.

Einer von ihnen, Alan Leong von der Zivilpartei, besaß gar die Frechheit, die Bedeutung der StudentInnen in der Führung und Organisierung der Proteste zu leugnen: „Was wir gesehen haben, ist spontan, ohne Führung, ohne vorherige Organisation, aus eigenem Willen - eine Volksbewegung. Wir wollen einfach nur elementare Würde. Wir wollen nur respektiert werden.“ Ob jemand einen solchen politischen Betrug respektieren würde, bleibt eine offene Frage.

Ein weiterer Politiker, Martin Lee, verbreitete die bizarre Illusion, die Regierungen in Hongkong und Peking könnten davon überzeugt werden, dass liberale Demokratie keine Gefahr für sie sei. Er sagte, „wir wollen den chinesischen Führern sagen, dass wir Deng Xiaopings These ‚ein Land, zwei Systeme’ unterstützen. Deng glaubte, wenn Hongkong seine Kernwerte behält, kann China in 50 Jahren aufgeholt haben. Aber die gegenwärtigen chinesischen Führer haben nicht die Perspektive, Dengs Vision umzusetzen. Wir wollen die Version von ‚ein Land, zwei Systeme’ in die Wirklichkeit umsetzen.“

1989, vier Jahre nachdem Deng Xiaoping seine Formel vom ‚ein Land, zwei Systeme’ als Grundlage für die Rückkehr Hongkongs unter chinesische Herrschaft ausgegeben hatte, machte er sein Verständnis von demokratischer Reform deutlich, als er befahl, die studentische Demokratiebewegung des Festlands auf dem Platz des Himmlischen Friedens zu zermalmen.

Bei der Frage nach den nächsten Zielen der Bewegung zeigten die StudentInnen eine wesentlich bessere Wahrnehmung von Politik und Geschichte als diese Politiker. Die HKFS beherzigte die Lehren aus dem Bildungskampf und dem letztjährigen Hafenstreik, die beide unerwartet breiten Zuspruch in der Bevölkerung hatten, und rief die Universitäten und Schulen zur Ausweitung des Streiks auf. Auch die Gewerkschaften wurden zu Solidaritätsaktionen für den 29. September aufgerufen.

Streiks

Obgleich die größeren Gewerkschaften in Hongkong von Peking-orientierten Kräften geleitet werden, antwortete die unabhängigere Hongkonger Vereinigung der Gewerkschaften, die den Hafenstreik angeführt hatte, positiv:

„Wir verurteilen klar die Regierung für ihre Unterdrückung der Rede- und Versammlungsfreiheit in Hongkong. Der HK-Gewerkschaftsverband ruft alle ArbeiterInnen in Hongkong morgen zum Streik auf - als Ausdruck des Protests gegen die Herrschaft des nationalen Volkskongresses und auch gegen die brutale Unterdrückung des friedlichen Protests durch die Hongkonger Regierung.“

LKW-Fahrer und UniversitätslehrerInnen streikten am 29. September. Dies führte zusammen mit der wachsenden Zahl von DemonstrantInnen zur Schließung vieler Geschäfte. Die Regierung sah sich genötigt, die Spezialeinheiten der Polizei zurück zu ziehen. Ihre Appelle zur Beendigung der Demonstrationen unterstrichen ihre Verwirrung über die eigene Machtlosigkeit angesichts der weit verbreiteten Opposition in der Bevölkerung.

Eine Option für Leung ist jedoch, die Welle von Demonstrationen auszusitzen und eine Gegenmobilisierung mit dem Bedürfnis nach ‚Aufrechterhaltung der Ordnung’ und Verteidigung von Hongkong als Zentrum des Welthandels und des Kommerzes zu organisieren. Das war auch vor kurzem die Strategie in Taiwan, als DemonstrantInnen dort Regierungsgebäude besetzt hatten.

Um dem entgegen zu steuern und auch, um den unvermeidlich ermüdenden Auswirkungen von 24stündigen Straßendemonstrationen zu begegnen, muss die Demokratiebewegung den Schwung ausnutzen, der ihr schon an mehreren entscheidenden Punkten geholfen hat. Der Streikaufruf an die Arbeiterklasse Hongkongs in Verteidigung der Bewegung muss ausgeweitet werden durch Forderungen, die sich auf die riesigen Wohlstandsunterschiede in Hongkong richten.

Lokalismus

Die künftige Strategie für die Demokratiebewegung muss sich der Gefahr einer Einengung auf Hongkong bewusst werden. Argumente wie ‚Hongkong muss seine ‚kulturelle Identität’ oder ‚demokratische Tradition’ wahren und sich vom übrigen China absondern, wären eine verhängnisvolle lokalistische Sichtweise.

Natürlich genießt Hongkong auf Grund des internationalen Kräfteverhältnisses der Vergangenheit einen höheren Standard an Freiheiten als die großen Städte wie Schensen, Dongguan, Guangsu auf zentralchinesischer Seite, aber es kann sich künftig nicht vom restlichen China abkapseln. Hongkongs ‚Lebensstil’ ist abhängig vom Wohlstand in jenen anderen nahen Städten und kann nicht Freiheiten genießen, die den anderen verwehrt bleiben.

Um jetzt voran zu schreiten, müssen die FührerInnen der Bewegung ihre Aufrufe auch an die Arbeiterklasse des Festlands richten. Trotz Pekings Verhängung einer kompletten Nachrichtensperre über Hongkong ist die Grenze jetzt so durchlässig, dass solche Aufrufe nicht ungehört bleiben würden. Obschon kaum darüber berichtet wurde, gab es in den vergangenen Jahren große Streiks in ganz China, und die Arbeiterklasse hat Mittel gefunden, sich zu organisieren und zu kommunizieren - gegen alle Anstrengungen der Diktatur, dies zu unterbinden.

Nicht in der Isolation von Restchina also, sondern in der Annahme eine Führungsrolle bei der Wiederbelebung der Arbeiterbewegung im ganzen Land - darin muss Hongkongs Zukunft gesehen werden. Wie in Hongkong selbst bedeutet dies, elementare demokratische Forderungen mit den unmittelbaren Bedürfnissen der ArbeiterInnen nach Wohnung, verbesserten Arbeitsbedingungen und Löhnen, Gleichheit für ‚Wander’arbeiterInnen aus den ländlichen Provinzen sowie Ausweitung von Sozialversicherung und Wohlfahrtsrechten zu verbinden.

Doch die Zukunft der Bewegung ist auch keine rein chinesische Angelegenheit. Es haben schon Solidaritätsdemonstrationen in Städten anderswo auf der Welt stattgefunden. Sie werden wachsen, wenn die Bewegung anhält. China ist nun eine imperialistische Weltmacht, und die sozialistischen und Arbeiterbewegungen der ganzen Welt haben ein grundsätzliches Interesse an der Rückendeckung für die Freiheit und politische Unabhängigkeit der chinesischen Arbeiterklasse, dem inzwischen größten Teil der internationalen Arbeiterklasse.

Für einen Generalstreik in Hongkong!

Sofortiges volles umfassendes Wahlrecht!

Freilassung aller verhafteten DemonstrantInnen!

Internationale Solidarität mit den Hongkonger StudentInnen und ArbeiterInnen!

Leserbrief schreiben   zur Startseite

Wöchentliche E-News
der Gruppe Arbeitermacht

:: Archiv ::

Nr. 193, Oktober 2014
*  Streikkonferenz: Renovierte Apparate oder Basisopposition
*  Gewerkschaftseinheit: Ja - aber wie?
*  GdL-Streik: Überzogener Kampf oder berichtigte Gegenwehr?
*  Revolution-Brüschüre: Solid - if everything goes right, go left
*  Karstadt: Vor schwerzhaften Amputationen?
*  Bilanz Landtagswahlen: Welche Alternative?
*  ALB-Auflösung: Das Neue ist steinalt
*  Wahlen in Oktober: Brasilien am Scheideweg?
*  Ukraine: Was kommt nach dem Waffenstillstand?
*  Heile Welt
*  US-Luftangriffe im Irak und Syrien: Obama's neue "Koalition der Willigen"
*  Solidarität mit Kobenê! Solidarität mit dem kurdischen Volk!