Arbeitermacht
Liga für die fünfte Internationale

Nord & Südamerika Europa Asien & Australien


google.de arbeitermacht.de

Marxismus, Imperialismus und der Balkankrieg

Über die Bedeutung und die Folgen des Balkankrieges für die weltpolitische Lage und die revolutionäre Kriegstaktik

von Michael Gatter

Die Bedeutung des neuen Balkankrieges sowie seine bisherigen Lehren sind bis heute nur ansatzweise erfaßt worden. Eine genauere Auseinandersetzung mit dieser Thematik ist für alle Aktivisten gegen imperialistische Großmachtpolitik und nationale Unterdrückung von größter Bedeutung, da die Folgen des Krieges noch auf Jahre hinweg die politischen Verhältnisse am Balkan bestimmen werden.

Weltpolitische Bedeutung des Balkankrieges

Allgemein gesprochen sind das NATO-Bombardement gegen Serbien und die neuerliche Eskalation des serbischen Unterdrückungskrieges gegen das albanische Volk im Kosovo ein weiterer Beweis für eine sich verändernde Weltlage, in der sich die wirtschaftlichen und politischen Widersprüche des Kapitalismus verschärfen und diese zunehmend in Kriegen (Irak, Kosovo) und Revolutionen (Albanien 1997, Indonesien 1998) Ausdruck finden. Eine neue Phase hat begonnen, in der die klassischen Merkmale der imperialistischen Epoche – Kriege und Revolutionen – wieder verstärkt in den Vordergrund treten; eine Phase, in der, bildlich gesprochen, das Tempo der Geschichte einen Gang zugelegt hat. Der Kampf gegen Krieg, Ausbeutung und Elend wird daher umso dringlicher und gleichzeitig bieten sich vermehrt Möglichkeiten, die Wurzel des Übels, den Kapitalismus ein für alle Mal zu beseitigen und die Gesellschaft in einem sozialistischen Sinne zu verändern.

Im Konkreten zeigt der Krieg tiefe Risse in der imperialistischen "Neuen Weltordnung" nach 1989/91. Der Illusion einer "internationalen Staatengemeinschaft" mit der UNO als einer Art "Weltregierung" ist die nackte Realität arroganter Großmachtpolitik gewichen. Das Bombardement der NATO ist ein offener Schlag ins Gesicht der bislang gepriesenen bürgerlichen Konzeptionen des "Völkerrechts", das die Nichteinmischung in innerstaatliche Angelegenheiten zur Grundlage hat. Zurecht befürchten verschiedene bürgerliche Kommentatoren, daß damit einer ungezügelten Kriegspolitik anderer Staaten Tür und Tor geöffnet wird (z.B. Rußland im Kaukasus, China im südchinesischen Meer). Dabei verschweigen diese Zyniker allerdings, daß es weniger diese Länder, als vielmehr der "freie Westen", allen voran die USA, ist, die mehr und mehr zum Mittel der direkten militärischen Intervention greifen und aufgrund der zunehmenden internationalen Konkurrenz greifen müssen!

Das NATO-Vorgehen bedeutet auch eine weitere Abkehr von US-Politik am Beginn des Jahrzehnts, die  Herrschenden in Rußland und China in weltpolitische Entscheidungen einzubeziehen. Diese beiden Staaten befinden sich in einem krisenhaften Übergang von planwirtschaftlichen hin zu kapitalistischen Eigentumsverhältnissen (wir nennen sie daher moribunde Arbeiterstaaten, in denen eine prokapitalistische Bürokratie und neureiche Unternehmerklasse herrschen) und verfügen daher nicht über die Stärke, den westlichen Großmächten ernsthaft etwas entgegensetzen zu können. Aber sie können dem Imperialismus ohne Zweifel das Leben schwerer machen (konkret am Balkan z.B. mittels Lieferungen moderner Luftabwehrraketen an Serbien).

Der Balkankrieg ist kein einmaliges Ereignis, sondern nur der Startschuß für eine Periode, in der die Großmächte offen und unverhohlen ihre Interessen in ihren Interessensgebieten mit militärischer Gewalt durchzusetzen versuchen. Nicht zufällig hat die NATO auf ihrer Tagung Ende April eine neues Strategiekonzepts angenommen, welches zukünftig vermehrt Militäreinsätze in aller Welt unabhängig von einer formellen Absegnung durch die UNO zur Grundlage hat.

Ebenso wird der Konflikt am Balkan zunehmend die Interessensgegensätze zwischen den imperialistischen Mächten aufzeigen, auch wenn diese gegenwärtig noch von einer "Solidarität der NATO-Allianz" verdeckt werden. Doch auf der Bühne der Diplomatie sind bereits die ersten Bruchlinien zwischen den USA und Großbritannien einerseits, und – im unterschiedlichen Ausmaß – Frankreich, Italien und Deutschland andererseits, sichtbar.

Schließlich verdeutlicht der Balkankrieg eine weitere Dynamik, welches mit dem oben festgestellten krisenhaften Charakter der neue Phase zusammenhängt. Denn der Krieg zeigt auf eigentümliche Art die Macht und gleichzeitig Ohnmacht der imperialistischen Staaten. Zwar konnte sich die NATO ungehindert zum Weltpolizisten erklären und ihre Angriffe gegen Serbien beginnen. Doch sie waren nicht, wie ursprünglich geplant und erhofft, in der Lage, das serbische Milosevic-Regime innerhalb von wenigen Tagen zur Unterzeichnung des Rambouillet-Abkommens zu zwingen.

Aber noch viel deutlicher zeigt sich das Dilemma des Imperialismus angesichts der Tatsache, daß die Angriffe – die ja gerade ein Überspringen des Kosovo-Konfliktes auf die Region verhindern sollten – vielmehr das Gegenteil hervorzurufen drohen. Denn wenn hunderttausende albanische Flüchtlinge, die alles verloren haben, nun in erbärmlich ausgestatteten Lagern in Albanien und Mazedonien vegetieren, ist das eine Zeitbombe, die die bereits instabile Lage in den beiden Staaten vollends aus dem Gleichgewicht bringen könnte. Kurz, der Krieg verdeutlicht, daß die westlichen Großmächte mehr und mehr gezwungen sind, offen und militärisch zur Verteidigung ihrer Interessen zu intervenieren und dadurch aber Entwicklungen auslösen, die zumindest mittelfristig die Widersprüche nur verschärfen.

Die Folgen des Krieges

Natürlich lassen sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch keine genauen Vorhersagen über die zukünftige Entwicklung des Konfliktes machen. Nichtsdestotrotz sind bereits jetzt einige wesentliche Faktoren sichtbar, welche die zukünftige Dynamik der Ereignisse prägen werden.

Fangen wir mit den künftigen Status des Kosovo an. Die militärische Überlegenheit von Milosevics Armee und der bislang faktische Waffenboykott gegen die UCK durch den Westen lassen einen siegreichen nationalen Befreiungskampf des albanischen Volkes kurzfristig als unwahrscheinlich erscheinen. Die wahrscheinlichen Optionen sind also eine fortgesetzte und uneingeschränkte serbische Besatzung, eine Umwandlung des Kosovo in ein vom Imperialismus kontrolliertes Protektorat bzw. ein Mischform zwischen diesen beiden (wie es ja auch das Rambouillet-Abkommen vorsieht) oder eine Teilung des Kosovo, wobei der nördliche Teil unter serbischer Herrschaft bleibt und der südliche Teil von der NATO besetzt wird.

Welche der aufgezählten Varianten dann tatsächlich umgesetzt wird, hängt in erster Linie vom Verlauf des Krieges und dem innerimperialistischen Kräfteverhältnis ab. Insgesamt kann man momentan ein Lager unter Führung der USA und Großbritannien ausmachen, die bereit sind, mit massiven militärischen Mittel am Balkan zu intervenieren. (Wobei im Falle der USA die begrenzte Unterstützung der Politik Clintons durch den Kongreß berücksichtigt werden muß, der mit nur knapper Mehrheit der Entsendung der Streitkräfte zustimmte). Der US- und britische Imperialismus haben nicht nur die militärischen Möglichkeiten zu einer direkten Präsenz am Balkan; sie haben auch eine stärker globale Orientierung oder – genauer gesagt – gewichtige Interessen im Nahen Osten.

Daher gilt es für sie noch mehr als für andere westeuropäische Mächte, einen Konflikt zwischen Griechenland und der Türkei zu vermeiden und insgesamt die islamische Welt politisch bei der Stange zu halten. (Bekanntlich kamen von Seiten der islamischen Staaten zuletzt große Vorwürfe gegen die Heuchelei der USA, die den Irak wegen Menschenrechtsverletzungen bombardieren und gleichzeitig Israel zu seinen engsten Verbündeten zählt.) In den moslemischen Staaten gibt es verständlicherweise eine große Sorge um das Schicksal der mehrheitlich moslemischen Albaner. Nicht zufälligerweise hat die "Organisation der Islamischen Konferenz" (der Dachverband der islamischen bürgerlichen Staaten) seine bedingungslose Unterstützung für die NATO-Angriffe sowie seine Bereitschaft für die Entsendung von "Friedenstruppen" nach einem Waffenstillstand erklärt. Schließlich gibt der Krieg den militärisch stärkeren Staaten USA und GB die Möglichkeit, ihre Vorherrschaft gegenüber den anderen europäischen Staaten zu stärken.

Auf der anderen Seite sieht die herrschende Bürokratie Rußlands Serbien als seinen Statthalter am Balkan, über den es seinen niedergehenden weltpolitischen Status verteidigen kann. Auch wenn Moskau sicherlich nicht offen militärisch auf Seiten Serbiens eingreifen wird, so ist eine begrenzte materielle Unterstützung für die NATO trotzdem schmerzlich. (Duma-Sprecher Gennadi Seleznjow kündigte kürzlich Öllieferungen an Jugoslawien an, die für die serbische Kriegsmaschinerie von Bedeutung ist; Ebenso werden Waffenlieferungen bewußt nicht ausgeschlossen.)

Andere, kapitalistische, Staaten sind aus verschiedenen Gründen ebenfalls an einem Ausgleich mit dem Milosevic-Regime interessiert. Wenn man einmal von dem kleinen, mit Rußland eng verbundenen Zypern absieht (das erstes Zielland für die Kapitalflucht der russischen Bourgeoisie ist und auch kürzlich wirtschaftliche und militärische Verträge mit Moskau abschloß), ist hier zuerst Griechenland zu nennen. Deren herrschende Klasse hat eine besondere Angst vor jeglicher Grenzveränderung, da sie einerseits einen zu stark werdenden albanischen Staat – ein "Groß-Albanien" – verhindern will sowie v.a. einen Zerfall Mazedoniens, da dies eine Kriegsgefahr in seiner unmittelbaren Nachbarschaft heraufbeschwören würde. Weiters muß auch noch berücksichtigt werden, daß die griechische Bourgeoisie in den letzten Jahren am Balkan zum Auslandsinvestor ersten Ranges aufstieg. So rangiert das griechische Kapital bei den Auslandsinvestitionen in Mazedonien, Albanien, Jugoslawien und Rumänien an erster, in Bulgarien an zweiter Stelle (v.a. im Banken- sowie im Telekomsektor).

Kurz: die Wiedereinführung kapitalistischer Eigentumsverhältnisse am Balkan nach 1989 eröffnet Griechenland die Möglichkeit, durch massive Kapitalexporte zu einem (wenn auch schwachen) imperialistischen Staat aufzusteigen. Wenn man diese wirtschaftlichen Interessen in einen Zusammenhang stellt mit den beschränkten Möglichkeiten Athens, seine Interessen direkt militärisch abzusichern, so liegt es nahe, daß das griechische Bürgertum stärker auf einen Ausgleich mit den Herrschenden der anderen Balkanstaaten interessiert ist. Schließlich darf nicht der tiefgreifende Konflikt mit der Türkei vergessen werden, weswegen Athen um jeden Preis ein zu starkes oder gar ein um den Kosovo vergrößertes Albanien verhindern will, da dieses enge Beziehungen mit der herrschenden Klasse in Ankara pflegen würde.

Ebenso verfügen der italienische und französische Imperialismus über eigene Interessen am Balkan. So zählt der italienische Telekom-Konzern STET zu einem bedeutenden Investor am serbischen Markt. Italien ist darüber hinaus an einer Stabilität am Balkan interessiert, um Flüchtlingswellen über die Straße von Otranto zu verhindern. Frankreich verfügt traditionell über gute Beziehungen zu Belgrad (man erinnere sich nur an die geheime Zusammenarbeit bis hin zur Spionage französischer Militärs für Serbien). Angesichts der engen Beziehungen anderer Balkanstaaten wie Slowenien, Kroatien oder Bosnien mit Deutschland und den USA besitzt die französische Bourgeoisie ein Interesse daran, mit Serbien einen eigenen Verbündeten zu bekommen. Wenn man noch die Tatsache hinzufügt, daß v.a. Frankreich kein Interesse an einer zu starken Vorherrschaft der USA in Europa hat – und eine solche würde durch einen fortgesetzten Krieg ausgebaut – , dann wird verständlich warum die erwähnten Staaten in unterschiedlichen Ausmaß eher auf einen Waffenstillstand und eine diplomatischen Lösung drängen.

Damit sind wir auch bei einem wichtigen Faktor gelangt, der den Fortgang des Krieges maßgeblich beeinflussen wird. Die für den Westen unerwartete "Sturheit" Milosevics hat dazu geführt, daß mit der Länge des Krieges die Spannungen innerhalb der NATO zunehmen und daß ein vollständiger Sieg über Serbien für die USA zunehmend wichtiger wird, um ihre absolute Dominanz innerhalb der NATO aufrecht zu erhalten.

Alles andere als eine Unterzeichnung Milosevics unter das Rambouillet-Abkommen oder einer ähnlichen Lösung sowie die Verwandlung des gesamten Kosovo in ein imperialistisches Protektorat würde nach der medialen Kampagne des Westens als politische Niederlage v. a. der USA erscheinen, was wiederum eine entsprechende Schwächung ihres Gewichts innerhalb der NATO zur Folge hätte. Die europäischen imperialistischen Staaten würden es sich beim nächsten Konflikt dreimal überlegen, ob sie ein militärisches Vorgehen der USA unterstützen würden oder ob es nicht sinnvoller wäre, einen diplomatischen Kompromiß mit dem jeweiligen Regime zu suchen. (Wenn die EU in einigen Jahren einmal einen eigenen schlagkräftigen militärischen Apparat geschaffen hat, wird sie weniger auf die USA angewiesen sein und selber unliebsame Staaten und Völker angreifen.) Wie also auch die nächsten Wochen verlaufen werden, eine Zunahme der Spannungen innerhalb der NATO ist wahrscheinlich.

Sollte die NATO innerhalb der nächsten Wochen keinen Kompromiß mit dem Milosevic-Regime erzielen, wird sie sich der Frage eines Einsatzes von Bodentruppen und der Invasion im Kosovo stellen müssen. Denn ein solcher Einsatz würde die gesamte bisherige Strategie des Imperialismus umwälzen. Bislang hatten sie zuerst ein Jahr lang versucht, auf diplomatischen Wege Milosevic zu einer Befriedung des Kosovo-Konfliktes zu bewegen. Jetzt beschränkt sich die NATO auf ausgewählte Luftschläge, mit denen man ein Regime schwächen, aber nicht besiegen kann. Bislang hatte der Imperialismus aber auch nicht das Ziel, das Milosevic-Regime niederzuwerfen, sondern eben als (wenn auch widerwilligen) Teilnehmer einer imperialistischen Befriedung der Region einzubeziehen. Dies war im übrigen auch der Grund, der uns in den vergangenen Monaten zu der Fehleinschätzung verleitete, daß der Ausbruch des NATO-Krieges unwahrscheinlich wäre. Die Ereignisse haben gezeigt, daß die Rivalität innerhalb des imperialistischen Lagers – konkret die Entschlossenheit der USA, ihre Vorherrschaft innerhalb der Allianz abzusichern – eine größere Rolle als ursprünglich angenommen spielte.

Die eigene Dynamik des Krieges und der mögliche enorme politische Gesichtsverlust der USA lassen eine grundlegende Änderung dieser Strategie und die Option einer Invasion im Kosovo nicht mehr ausgeschlossen erscheinen. Es versteht sich von selbst, daß eine solche Entwicklung erst recht sowohl die innenpolitischen Spannungen in den USA als auch die Konflikte mit den NATO-Verbündeten ansteigen lassen würde.

Ob die NATO den Kosovo mittels Gewalt oder mittels eines Abkommens mit Milosevic in ein Protektorat verwandelt – in jedem Fall übernimmt sie damit die Herrschaft über das politische und wirtschaftliche Leben des albanischen Volkes. Es bedarf nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, daß die Lebensverhältnisse sich nicht wesentlich verbessern würden. Ebenso ist es höchst wahrscheinlich, daß der Imperialismus das nationale Selbstbestimmungsrecht nicht anerkennen wird (also keine Unabhängigkeit für den Kosovo und auf keinen Fall eine Vereinigung mit Albanien). Besonders zugespitzt wird die nationale Frage dann werden, wenn der Imperialismus einer Teilung des Kosovo zustimmt, was eine sehr realistische Möglichkeit ist. Kurz – eine imperialistische Befriedung des Kosovo wird dem Konflikt vielleicht kurzfristig seine Explosivität nehmen. Aber es ist wohl nur eine Frage der Zeit, wann dieser erneut zum Ausbruch kommt.

Damit verbunden ist ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt: Während sich der Westen jetzt als Menschenrechtsapostel und Anwalt der Albaner aufspielen kann, wird dies in einer Situation, wo es die NATO selber ist, die den Kosovo kontrolliert, viel schwieriger. Das heißt, daß sich dann die albanische nationale Frage direkt gegen den Imperialismus und seine Befriedungspläne richten würde.

Schließlich wollen wir noch auf potentiellen dramatischen Folgen des Krieges für Mazedonien und Albanien hinweisen. In Mazedonien wird ebenfalls eine albanische Minderheit – die ca. 1/3 der Gesamtbevölkerung stellt – national unterdrückt, wenn auch nicht so scharf wie im Kosovo. Die hunderttausenden Flüchtlinge und ihre beschämende, brutale Behandlung durch die mazedonischen Behörden, könnte hier einen schwelenden Konflikt explodieren lassen.

Ebenso herrschten in Albanien bereits vor dem Krieg instabile Verhältnisse (die sozialdemokratische Regierung konnte sich nach dem Volksaufstand 1997 nur oberflächlich stabilisieren). Auch hier könnten die vielen Flüchtlinge und noch viele weitere besorgte Landsleute dem oberflächlichen innenpolitischen Frieden ein Ende bereiten.

Der doppelte Charakter des Balkankrieges

Die meisten reformistischen und zentristischen Organisationen der Arbeiterbewegung versagten bislang vollständig darin, den spezifischen und widersprüchlichen Charakter des Balkankrieges in all seinen Konsequenzen zu begreifen. Die einen sehen nur den abscheulichen Völkermord im Kosovo und billigen dem NATO-Bombardement zumindest ein gewisse Rechtfertigung zu. Andere wiederum lehnen die imperialistischen Angriffe ab, halten aber den serbischen Völkermord für entweder notwendig, für eine innere Angelegenheit Jugoslawiens, in die sich die internationale Arbeiterbewegung nicht einmischen sollte, oder für einen zwar abscheulichen, aber angesichts der NATO-Angriffe untergeordneten Aspekt.

Wir wollen hier nur auf folgenden Gesichtspunkt hinweisen. Was diese Positionen alle gemeinsam haben, ist ihr Unverständnis des doppelten, kombinierten Charakter des Balkankrieges. Der Krieg enthält einerseits den Aspekt, daß die imperialistischen Großmächte den moribunden Arbeiterstaat Serbien bombardieren. Und andererseits jenen, daß das serbische Milosevic-Regime einen systematischen Völkermord an den Albanern organisiert. Es existieren hier also zwei für die marxistische Kriegstaktik entscheidende Elemente: der reaktionäre imperialistische Krieg gegen Serbien und der reaktionäre serbische Krieg gegen die albanischen Massen. Diesem widersprüchlichen, kombinierten Charakter kann nur eine diese reale Widersprüchlichkeit berücksichtigende Taktik gerecht werden, nämlich eine, die sowohl Serbien gegen den Imperialismus verteidigt als auch die Albaner und Albanerinnen gegen die serbischen Besatzungskräfte. Jedes mechanische, schablonenhafte Denken muß unweigerlich in einer einseitigen Betrachtung enden, die mindestens in einer der beiden Schlachten auf die falsche Seite der Barrikade führt.

Diesem Versagen in der Analyse liegt letztlich die Aufgabe eines unabhängigen Klassenstandpunktes zugrunde. Kriege erzeugen bekanntlich einen enormen Druck und drängen Organisationen, denen ein fester Klassenstandpunkt und eine konsequente revolutionäre Strategie fehlt, dazu, sich an eine der im Klassenkampf beteiligten reaktionären Seiten anzupassen. Heute glauben viele Linke, daß ein Anti-NATO-Standpunkt zumindest eine gewisse Unterstützung für oder zumindest keine Opposition gegen das serbische Vorgehen im Kosovo erfordere. Doch das Motto "Der Feind (Milosevic) meines Feindes (NATO) ist mein Freund" hat nichts mit konsequenten, proletarischen Internationalismus und viel mit kleinbürgerlicher Anpassung an klassenfremde Kräfte zu tun. Diese Position stellt eine Anpassung an die reaktionäre Milosevic-Bürokratie dar, die sich seit Jahren auf Kosten der albanischen und serbischen Massen bereichert und den Chauvinismus anheizt, um von der explosiven sozialen Krise im Land abzulenken.

Wenn wir den Konflikt noch einmal von seiner Entwicklungsgeschichte her aufrollen, so läßt sich der Krieg im Kosovo präziser verstehen. Viele kleinbürgerliche, dem Stalinismus nahestehende Linke führen den albanischen Aufstand letztlich auf eine "Verschwörung des Imperialismus zur Zerstückelung des multinationalen Jugoslawiens" zurück. Nichts ist einfältiger als das. Bis heute halten Washington, London, Paris und Bonn an einem Verbleib des Kosovo bei Serbien fest. Der albanischen Kampf für das nationale Selbstbestimmungsrecht geht auf die massive Unterdrückung durch die serbische Bürokratie seit 1981 bzw. 1989 zurück: Massenentlassung der albanischen Arbeiter, breite Armut, tagtägliche Schikanen durch die serbische Polizei, Serbisierung des Unterrichtswesens usw. Nicht, daß die imperialistischen Großmächte den Kosovo ignoriert hätten, aber sie benutzten ihren Einfluß dazu, auf die Spitzen der albanischen Unabhängigkeitsbewegung (v.a. Rugova) mäßigend zu wirken.

Der Angriff der NATO auf Serbien dient daher auch nicht – entgegen den stalinistischen Mythen – der Zerschlagung Serbiens (wiewohl ein Umschlagen des Krieges in diese Richtung nicht ausgeschlossen werden kann), sondern der Erpressung Milosevics, doch endlich seine Unterschrift unter das Rambouillet-Abkommen zu setzen und dadurch eine imperialistische Befriedung des Balkans zu ermöglichen.

Oberflächlich betrachtet stimmen Marxismus und Zentrismus bzw. Reformismus in ihrer Ablehnung der NATO-Herrschaft am Balkan überein. Doch in Wirklichkeit wird unser Kampf gegen den Imperialismus von völlig anderen Motiven geleitet. Die abstrakte Forderung nach Sozialismus und gegen imperialistische Einmischung verkommt zur Phrase, wenn sie nicht mit den gegenwärtig brennendsten Problemen – und das ist im Falle des Kosovo die nationale albanische Frage – verbunden und in eine revolutionäre Strategie eingeordnet werden. Die revolutionäre Strategie für den Balkan muß die Verbindung des Kampfes gegen die kapitalistische Ausbeutung mit dem Kampf für demokratische Forderungen und insbesondere das nationale Selbstbestimmungsrecht zur Grundlage haben. Erst auf der Basis des Aufgreifens und Bündelns aller gesellschaftlichen Widersprüche im Rahmen einer Perspektive der permanenten Revolution ist ein erfolgreicher Kampf gegen die imperialistischen Großmächte möglich. Nur der konsequente Kampf für das Recht auf nationale Selbstbestimmung unabhängig von imperialistischen und bürokratischen Ängsten vor der Veränderung von Grenzen schafft die Voraussetzung, dem marxistischen Konzept der sozialistischen Balkanföderation die notwendige Freiwilligkeit zu verleihen, ohne der diese bei den Massen aufgrund der geschichtlichen Erfahrungen mit dem Stalinismus in den Geruch des bürokratischen Völkergefängnisses kommt.

Anti-Imperialismus besteht daher nicht darin, überall ein Minus zu machen, wo der Imperialismus ein Plus macht (und daher die militärische Verteidigung der Albaner gegen die serbische Armee abzulehnen). Vielmehr müssen wir von den zentralen Klasseninteressen der Arbeiter und Bauern ausgehen. Die unmittelbaren Interessen der Kosovo-Albaner bestehen in der Verteidigung ihres Lebens, ihrer Häuser, Arbeitsplätze (soweit noch vorhanden) etc. gegen die serbische Vernichtungsmaschinerie. Der Imperialismus wird nicht dadurch geschwächt, in dem Arbeiter reaktionären Kräften, die sich kurzfristig in einem Gegensatz zu imperialistischen Zielen befindet, politische Unterstützung verleihen oder deren Repressionsapparat (wenn auch kritisch) gegen ein unterdrücktes Volk verteidigen.

Die einzig dauerhafte Schwächung des Imperialismus kann nur durch eine Erkämpfung aller politischen und sozialen Rechte der Arbeiterklasse und der unterdrückten Völker erreicht werden. Eine von nationaler Unterdrückung freie albanische Arbeiterklasse und Bauernschaft kann sich besser, eigenständiger organisieren. Für revolutionäre Kommunisten ist es notwendig, diese berechtigten Forderungen aufzugreifen und gerade um den Einfluß kleinbürgerlicher, nationalistischer und proimperialistischer Kräfte auf die albanischen Massen im Kosovo und in den Lagern zu brechen.

Die gesamte Leninsche Logik wurde bislang vom größten Teil der sich auf Marx und Lenin berufenden Linken nicht einmal ansatzweise verstanden: Der Nationalismus einer unterdrückten Nation kann nicht durch die Knute des Unterdrückerstaates, kann nicht durch diplomatische Manöver und kosmetische Änderungen (z.B. Rambouillet-Abkommen) überwunden werden, sondern nur durch die radikale, vollständige Abschüttelung jeglicher nationaler Unterdrückung. Kurz: Internationalismus ohne vollständige Anerkennung (inklusive militärischer Unterstützung) des nationalen Selbstbestimmungsrechtes – also des Rechts auf Lostrennung und Bildung eines eigenen Staates – ist bloß Internationalismus in Phrase, aber Sozialchauvinismus in der Praxis.