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Auslaufmodell SPD?

Asozialdemokratie

Hannes Hohn, Neue Internationale 82, Juli/August 2003

Der SPD-Sonderparteitag hat Schröders Agenda 2010 mit großer Mehrheit zugestimmt. Damit trägt die SPD das größte Sozialabbauprogramm mit, das die Bundesrepublik nach 1945 gesehen hat. Viele Mitglieder und WählerInnen der SPD fragen sich nun, ob diese Politik überhaupt noch sozialdemokratisch genannt werden kann und die SPD überhaupt noch eine reformistische Partei ist.

Diese Zweifel sind nicht nur rhetorische Fragen; sie haben massenhaft Mitglieder und WählerInnen bewogen, sich von "ihrer" Partei abzuwenden. So hat die SPD seit ihrem Höchststand von ca. 1 Million Mitgliedern in den 1980ern rund ein Drittel verloren und steht jetzt bei 670.000. Allein in den 6 Wochen vor dem SPD-Sonderparteitag traten etwa 67.000 aus.

Ein ähnliches Bild zeigt sich bei Wahlergebnissen. Seit der Ablösung Kohls 1998 sind die meisten Wahlen für die SPD verloren gegangen bzw. haben starke Einbußen gebracht. Etliche SPD-Hochburgen, die gar nicht anders als sozialdemokratisch vorstellbar waren, werden inzwischen von Schwarz regiert.

Bemerkenswert an den Wahlergebnissen ist, dass die Enttäuschung über die gebrochenen Wahlversprechen und die inzwischen ganz offen gegen die Lohnabhängigen gerichtete Politik der SPD vor allem ArbeiterwählerInnen dazu brachte, ihr Kreuz woanders zu machen oder meistens - mangels Alternative - gar nicht zur Wahl zu gehen. Bezeichnend ist auch die drastisch gesunkene Attraktivität der SPD für Jugendliche, was sich in bedenklicher Überalterung der SPD-Mitgliedschaft niederschlägt. 40% der Mitglieder sind über 60, jeden Monat sterben 1.000 weg.

Der Schwund an Mitliedern und WählerInnen führt allerdings meist dazu, dass man sich enttäuscht zurückzieht, anstatt bewusst eine Alternative zur SPD zu suchen oder gar aufzubauen.

Arbeiterpartei SPD?

Anders als vor 1945 ist die Mitgliedschaft der SPD nicht mehr überwiegend von proletarischen Kernschichten geprägt. MittelschichtlerInnen, Staatsbedienstete, KleinbürgerInnen und RentnerInnen stellen inzwischen die Mehrheit. Dazu kommen Tausende FunktionärInnen der SPD und der Gewerkschaften - die Arbeiterbürokratie.

Allerdings bindet die SPD trotz ihrer Probleme immer noch das Gros der ArbeiterwählerInnen. Mindestens 50% im Schnitt von ihnen wählen SPD, bei erfolgreichen Wahlen der SPD auch deutlich mehr. Bei den gewerkschaftlich Organisierten liegt der Anteil noch 10 bis 20% höher. Diese Zahlen übertreffen übrigens auch den SPD-Wähleranteil bei ArbeiterInnen von vor 1933, einer Zeit also, als die SPD wohl für alle fraglos (noch) eine Arbeiterpartei war. Die Ursache dafür ist vor allem im Zerfall und Verbot der KPD zu sehen.

Doch wichtiger als diese Zahlen ist der Einfluss, den die SPD politisch wie organisatorisch auf die Kernschichten des Proletariats hat. Der entscheidende Unterschied der SPD zu anderen bürgerlichen Parteien ist eben der, dass sie über den Gewerkschaftsapparat und über das Gros der Betriebsräte die Arbeiterklasse beherrscht.

Arbeitsteilung

Dabei besteht eine Arbeitsteilung: die Gewerkschaften sind für die "ökonomischen" Fragen (Tarifpolitik) zuständig, die SPD für die politischen (Regierung). Diese Übereinkunft dient vor allem dazu, die Klasse zu entpolitisieren, die ökonomischen Kämpfe (Streiks) von der politischen Ebene, d.h. der Frage, wer die Macht im Staate hat, abzukoppeln.

Trotz der schwindenden Bindungskraft der Sozialdemokratie in der Arbeiterklasse stützt sie sich nach wie vor auf einen großen Teil der Arbeiterbürokratie und der Arbeiteraristokratie - der besser gestellten Teile der Klasse (Facharbeiterschaft der Großbetriebe) - und rekrutiert ihr Führungspersonal daraus.

Auch der hohe Anteil von (ehemaligen) Gewerkschaftsfunktionären in den SPD-Fraktionen verdeutlicht die direkte Verbindung zwischen SPD und Gewerkschaftsapparat.

Mehr noch als diese Fakten verrät ein Blick auf die Kämpfe des Proletariats, wie groß der Einfluss des sozialdemokratischen Reformismus auf die Klasse immer noch ist. Nach wie vor gelingt es ihm sowohl, die Arbeiterbasis für begrenzte Proteste und Streiks zu mobilisieren als auch, Widerstand zu verhindern bzw. zu kontrollieren.

Die SPD ist seit 1914 eine bürgerliche Arbeiterpartei. Politisch ist sie eine bürgerliche Partei, d.h. sie steht fest auf dem Boden der Verteidigung der kapitalistischen Produktionsweise und des bürgerlichen Staates. Aber sie ist anders als die CDU oder die FDP eine "besondere" bürgerliche Kraft. Sie stützt sich sozial auf die organisierte Arbeiterklasse, d.h. v.a. auf die Arbeiteraristokratie und die Bürokratie. Diesen widersprüchlichen, insgesamt konterrevolutionären Charakter der SPD fasst der von Lenin entwickelte Begriff "bürgerliche Arbeiterpartei" zusammen.

Es ist geradezu absurd, wie die SAV zu meinen, die SPD sei keine Arbeiterpartei mehr, weil ihr Einfluss, weil ihre Attraktivität für Teile der Klasse sinkt. Letzteres ist sicher der Fall - aber das Losbrechen von Avantgardeschichten, darf nicht mit dem Bruch der organisierten Arbeiterklasse überhaupt verwechselt werden.

Was den Einfluss der SPD auf die Klasse betrifft, so macht sich dieser heute in erster Linie "negativ" bemerkbar - in der Fähigkeit des sozialdemokratischen Reformismus, über die Gewerkschaftsbürokratie Widerstand zu demobilisieren (Agenda 2010, Streik für die 35-Stunden-Woche etc.). Das ist aber kein "Bruch" mit "tradierter" SPD-Politik, sondern die ureigene Funktion des Reformismus in der kapitalistischen Krise!

Reformismus ohne Reformen?

Neben dem Irrglauben, die SPD sei keine Arbeiterpartei mehr, meinen viele, sie sei auch keine reformistische Partei mehr, weil sie keine Reformen mehr durchführe. Das stimmt insoweit, dass Reformen im Sinne wirklicher sozialer Verbesserungen für die Masse der Lohnabhängigen von der SPD nicht mehr kommen und auch kaum noch von ihr erwartet werden. Doch selbst in früheren Jahrzehnten, als es in bestimmten Phasen solche noch gab, waren sie in Wirklichkeit nicht einfach Resultate reformistischer Politik.

Die Bismarckschen Sozialgesetze z.B. waren nicht nur aufgrund eines Wirtschaftsbooms in Folge der Kriegskontributionen nach 1871 (also auf Kosten des französischen Proletariats) möglich; sie waren vor allem auch ein Zugeständnis an eine erstarkte Arbeiterbewegung und ein Versuch, diese zu "befrieden".

Die - zumindest teilweise - Durchführung bürgerlich-demokratischer Reformen war nicht einfach Ergebnis von Reformpolitik, sondern "Nebenprodukt" der unvollendeten deutschen Revolution von 1918.

Nach 1945 resultierten die "Errungenschaften" der Sozial"partnerschaft" aus gewerkschaftlichen Kämpfen und Zugeständnissen an ein stärker von antikapitalistischen Ideen geprägtes Proletariat. Zudem ermöglichte der lange Nachkriegsboom die Finanzierung des monströsen Geflechts sozialpartnerschaftlicher Institutionen sowie der Privilegien der Arbeiteraristokratie und -bürokratie.

Das Wesen sozialdemokratischer Reformpolitik war tatsächlich nicht Reformen durchzusetzen. Vielmehr diente sie dazu, die Arbeiterbewegung an die Bourgeoisie und ihr System zu binden und Kämpfe vom Weg der Revolution abzulenken und einzudämmen.

Historische Rolle

In Zeiten wirtschaftlicher Aufschwünge war das damit verbunden, dass die Lohnabhängigen einige Brosamen vom Mehrprodukt abbekamen. In Zeiten von Krise und Revolution erwiesen sich die Reformisten jedoch nicht nur als Sparmeister, der das Proletariat zwang, den Gürtel enger zu schnallen, sondern oft genug als Zuchtmeister, der keine Skrupel kannte, mittels Gewalt und Terror die ArbeiterInnen und die revolutionäre Führung zu bekämpfen.

Diese prokapitalistische, konterrevolutionäre Rolle unter der falschen Flagge der Reformpolitik ist das Wesen des Reformismus. Der Nutzen der SPD für das Kapital besteht gerade darin, dass sie in der Arbeiterbewegung verwurzelt ist und sie daher besser kontrollieren kann als eine andere, offen bürgerliche Partei.

Der Reformismus von Schröders SPD zeigt sich gegenwärtig darin, dass sie als Regierungspartei strategische Angriffe auf die Klasse vorträgt. Dabei gelang es ihr bisher, sich als "kleineres Übel" zu präsentieren und via Gewerkschaftsführung Widerstand zu kanalisieren (Hartz, Irakkrieg, Agenda).

Dieses "Fehlen" von Reformpolitik und die Integration neoliberaler Konzepte (Dritter Weg) markieren jedoch nicht nur einfach einen Kurswechsel der SPD. Sie sind vielmehr Reaktion auf die veränderten und verschlechterten Verwertungsbedingungen des Kapitals in den letzten zwei Jahrzehnten.

Sinkende Profitraten, Überkapazitäten und niedrige Wachstumsraten haben den wirtschaftlichen Unterbau des bisher keynesianisch regulierten Sozialstaats unterhöhlt. Dazu kommen geopolitische Herausforderungen für den deutschen Imperialismus und sein Hauptprojekt, den Ausbau der von ihm dominierten EU.

Das "Ende des Reformismus" ist im Grunde der vertieften Krise des Systems geschuldet. Nicht der Reformismus an sich ist zu Ende - seine Rahmenbedingungen sind schlechter geworden. An seiner reaktionären Funktion hat sich nichts geändert; er ist auch ohne Reformen Reformismus geblieben.

Dank seiner Demagogie und seiner historischen Verwurzelung in der Arbeiterklasse ist auch der Reformismus a la Schröders Drittem Weg immer noch in der Lage, wesentliche Teile der Klasse zu binden. Auch wenn niemand mehr von der SPD die Einführung des Sozialismus erwartet, so glauben doch viele immer noch daran, dass Schröder gegenüber Leuten wie Stoiber oder Westerwelle das kleinere Übel ist. Diese Rolle der SPD ist sehr wohl auch eine Form von Reformismus.

Alternativen

Die zwei falschen Positionen, die SPD wäre weder eine - bürgerliche - Arbeiterpartei noch eine reformistische Partei, führen notwendig zu politischen Kurzschlüssen.
Einen davon praktiziert die SAV, die sich selbst als neue Arbeiterpartei, als Alternative zur SPD präsentiert. Dabei hat sie selbst ein Programm, dem wesentliche Elemente eines revolutionären Programms fehlen. Sie unterstützt oft genug linksreformistische Projekte wie attac oder die PDS bei Wahlen in der falschen Annahme, diese wäre im Unterschied zur SPD noch "irgendwie" sozialistisch. So befördert die SAV nicht den Bruch mit dem Reformismus, sondern führt links von der SPD Stehende aus der Sackgasse des Reformismus in die neue Sackgasse des Linksreformismus.

Auch die unsinnige Taktik der Eigenkandidatur der SAV (auf einem linksreformistischen Programm!) vermag zwar einige Dutzend WählerInnen anzulocken, versagt aber komplett davor, die reformistischen Führungen durch konkrete Forderungen in den Augen ihrer AnhängerInnen zu testen und zu entlarven. Was sich als Alternative ausgibt, ist in Wahrheit ein Ausweichen vor dem Kampf gegen den Reformismus.

Diese und andere "Kunstgriffe" linker Organisationen sind - wie die Praxis der Linken viele Jahrzehnte gezeigt hat - nicht in der Lage, den Einfluss der Sozialdemokratie zu bekämpfen. Zweifellos bieten die Probleme der SPD und ihre erodierende politische Bindungskraft bessere Möglichkeiten für Revolutionäre. Doch Erfolge können sich nur dann einstellen, wenn es keine Illusionen in die Krise der SPD gibt.

Augfgaben

Die SPD wird nicht von selbst verschwinden, da sie letztlich sozial in Arbeiteraristokratie und Arbeiterbürokratie wurzelt und ideell das "normale" Bewusstsein der Arbeiterklasse bedient: das gewerkschaftlich-reformistische. Auch die Abwendung und Enttäuschung von der SPD ist keineswegs immer dasselbe wie ein Bruch mit dem Reformismus.

In den nächsten Jahren kommt es darauf an, eine Reihe geeigneter Taktiken anzuwenden und so zu intervenieren, dass den Massen geholfen wird, sich von ihren Illusionen in die Sozialdemokratie zu befreien und sich von der Richtigkeit einer revolutionären Politik und Organisation zu überzeugen.

Die Methode der Einheitsfrontpolitik (einschließlich der Taktik der kritischen Wahlunterstützung) müssen genutzt werden, anhand konkreter Forderungen an die ReformistInnen in der Praxis nachzuweisen, dass die SPD (wie auch die PDS) weder bereit noch in der Lage sind, zu kämpfen.

Anstatt Illusionen in den linken Reformismus oder entsprechende Projekte zu schüren, müssen ein revolutionäres Programm und die revolutionäre Organisation als Alternativen präsentiert werden. Erst dadurch kann die Enttäuschung über den Reformismus dem Aufbau einer revolutionären Alternative nützen.

Arbeiterpartei

So wie der Reformismus - mit und ohne SPD-Parteibuch - selbst wie ein Krebsgeschwür gewuchert ist, muss er auch überall bekämpft werden. Bei Wahlen, in der Theorie, in der Gewerkschaft durch den Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung, wie einer revolutionären Gewerkschaftsfraktion, durch aktive Einheitsfrontarbeit.

Angesichts der allgemeinen Krise des Kapitalismus und der Probleme der Sozialdemokratie international ist es wahrscheinlich, dass sich noch stärkere Absetzungsbewegungen der Klasse von der Sozialdemokratie ergeben und diese deshalb ihren Charakter als Arbeiterpartei einbüßen kann.

Dieser Bruch muss mit allen Mitteln befördert werden - und das heißt, für den Aufbau einer neuen, revolutionären Arbeiterpartei einzutreten.

Diese Herausforderungen werden auch in der Linken die opportunistische Spreu vom revolutionären Weizen trennen.

 

Oscars Comeback?

Bei Demos und Warnstreiks gegen Schröders Agenda wurden Rufe laut und Schilder geschwenkt, die eine Rückkehr Oscar Lafontaines an die Spitze der SPD forderten. Der Saarländer selbst tingelt durch die Talkshows und posaunt wöchentlich per BILD-Zeitung seine Unzufriedenheit mit dem Kurs Schröders heraus.

Ohne Frage nährt die Enttäuschung der Arbeiterinnen und der GewerkschafterInnen mit Schröder die Hoffnung, dass Lafontaine wieder das Ruder in die Hand nimmt und eine Kurskorrektur der SPD-Politik bewirkt. Doch wofür steht der Ex-SPD-Chef wirklich? Was kann er tatsächlich bewirken?

Sein Rücktritt 1999 von allen Ämtern war eine Kapitulation vor Schröders Kurs. Seine Kritik an der SPD besteht im wesentlichen darin, dass er einige Details ändern will und ansonsten stärker an traditionellen SPD-Vorstellungen hängt. Eine Alternative zur kapitalistischen Krise oder zum Kurs Schröders hat er nicht.

In der Vergangenheit war Lafontaine auch keineswegs immer ein Linker in der SPD. Mehrfach hat er in den 1980ern gerade das vertreten, was Schröder jetzt praktiziert. Er vertrat als erster SPD-Spitzenmann Arbeitszeitverkürzung bei Lohnverzicht und fiel so dem Kampf für die 35-Stundenwoche in den Rücken.

Lafontaine benutzt die Krise der SPD für sein politisches Comeback. Er gleicht eher einem Leichenfledderer als jemanden, der Dank seiner Popularität und seiner rhetorischen Gaben die Massen zum Widerstand führen will. Wohin er führt? Allenfalls in die Irre.

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Nr. 82, Juli/August 2003

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