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Tunesien

Revolution in der Sackgasse?

Interview mit Alaa Sartre, einem tunesischen Aktivisten und Mitglied der Studentengewerkschaft UNET, Neue Internationale 180, Juni 2013

NI: Die islamistische "Nahdha" ist Regierungspartei in Tunesien, die Jihadisten bekommen Zulauf. Wie sind die Aussichten für die tunesische Revolution?

Alaa: Seit den Wahlen am 23. Oktober, bei denen "Nahdha" an die Regierung kam, können wir zwei Dinge beobachten: Erstens hat sich die Wirtschaftslage verschlechtert, selbst nach offiziellen Statistiken geht es für die Bevölkerung rapide bergab. Die Regierung ist in einer Haushaltskrise und musste mit dem IWF einen Kredit über 1,7 Mrd. US-Dollar aushandeln. Die Leute hier haben "Nahdha" gewählt, weil sie sich von denen Ruhe und Ordnung versprochen haben, aber für die Bekämpfung der Armut hatte sie nie ein Programm. Nicht nur die Arbeiterklasse, sondern auch die Mittelschicht verarmt, weil die Preise steigen.

Zweitens wächst die extreme Rechte. Bei den Wahlen waren die Salafisten noch eine wichtige Unterstützung für „Nahdha“. Danach sind sie zu Gewalt gegen Linke und Oppositionsparteien übergegangen.

NI: Welche Rolle spielt die tunesische Linke?

Alaa: Die Linke insgesamt hat keine Antworten auf die Bedürfnisse der Massen nach der Revolution gegen Ben Ali. Die Kommunistische Partei von Mohammed Hamami etwa - sie war unter Ben Ali eine verbotene Oppositionspartei - weiß nicht, wie sie die offensichtlichen Widersprüche in der Gesellschaft ausnutzen kann, sie hat ihre Analyse nicht weiterentwickelt. Auf der einen Seite spricht sie von sozialer Revolution, auf der anderen beschränkt sie sich völlig auf Wahlen. Was sie sagen, hört sich deswegen recht utopisch an und kann die Massen nicht überzeugen. Am allerwenigsten überzeugt es die Jugend, die damals die Revolution gegen Ben Ali angeführt hat.

Ein Beispiel für ihr Versagen ist der Mord an Chokri Belaid am 6. Februar. Es gab danach große Massendemonstrationen, aber die KP hat das nicht für eine politische Kampagne gegen „Nahdha“ benutzt. Im Endeffekt hat der Mord das Ansehen von „Nahdha“ nicht beschädigt, sondern verbessert, nachdem sie die Regierung umgebildet haben. Sie stellen sich als "ordentlich" und "gemäßigt" dar.

NI: Wie ist das Verhältnis zwischen den "gemäßigten" Islamisten wie „Nahdha“ und den Salafisten wie "Ansaar Sharia"?

Alaa: „Nahdha“ und „Ansaar Sharia“ haben dieselben Grundüberzeugungen, beide wollen die "Herrschaft Gottes". Sie geben sich aber unterschiedlich. „Nahdha“ hält sich bei Themen wie Säkularität und demokratische Rechte eher bedeckt, während die Salafisten klar ihre fundamentalistischen Positionen äußern. Die Salafisten waren die wichtigste Wahlunterstützung für „Nahdha“. Der Unterschied zwischen beiden ist, dass „Ansaar Sharia“ sich hauptsächlich auf verarmte Schichten stützt, zu denen sie in den Moscheen Zugang finden. „Nahdha“ wurde ursprünglich mehr von wohlhabenden Schichten getragen und hat nach Ben Alis Sturz an ihrem Image als "Opfer des Regimes" gearbeitet, um populär zu werden. In letzter Zeit haben sie sich scheinbar auseinander entwickelt, die Salafisten beschuldigen die Regierung, dass sie ausländische Einflussnahme zulassen, umgekehrt ist es für „Nahdha“ ein Problem, dass die Salafisten Unterstützung für Al Qaida erklärt haben. Aber beide wollen Zusammenstöße möglichst  vermeiden.

Die Linke hat keine klare Haltung zu den Jihadisten. Sie verurteilen natürlich deren gewalttätige Angriffe, aber sie tun so, als wäre es nicht ihr Problem. Dabei ist es das Ziel der Salafisten, die Linke zu bekämpfen. So lange sie sich dagegen nicht zur Wehr setzt, spielt sie „Nahdha“ in die Hände, weil diese vorgibt, die Gewalt zu stoppen.

NI: Wie hat sich die Situation für die StudentInnen seit 2011 verändert?

Alaa: Es gibt heute mehrere Studentengewerkschaften, die legal an den Universitäten arbeiten können. Die Einschränkungen von Ben Ali sind vollständig aufgehoben. Die wichtigste und älteste Gewerkschaft ist die UGET (Union Génerale des Étudiants Tunisiens, dt. Allgemeine Gewerkschaft tunesischer Studierender). Die soziale Lage der Studenten hat sich nicht verbessert. Wir bekommen vom Staat 70 Dinar pro Monat (etwa 35 Euro) - davon müssen wir leben, wenn wir nichts von unseren Familien bekommen. Wer nicht aus Tunis kommt, kann kostenlos in Wohnheimen übernachten, aber man hat dort keine Ruhe. Ebenso kann man kostenlos in der Mensa essen, aber die Qualität ist schlecht, früher sind viele vom Essen krank geworden. Doch das hat sich gebessert, weil die UGET sich dafür eingesetzt hat.

NI: Du hast mit anderen Aktivisten eine Schüler-Gewerkschaft gegründet. Welche Erfahrungen hast du gemacht?

Alaa: Ich habe am 15. Januar 2011, am Tag nach der Revolution, mit ein paar anderen Aktivisten einen Aufruf verfasst, eine Gewerkschaft für SchülerInnen zu gründen. Es gab zwar viele AktivistInnen an Schulen, aber keine gewerkschaftliche Organisation. Wir hielten dies aber für nötig, damit wir effektiv für unsere sozialen Belange, aber auch für allgemeine politische Ziele nach Ben Alis Sturz eintreten können. Wir hatten dann ein erstes Treffen in Sousse, da waren wir noch nicht viele, aber dafür kamen Aktivisten aus allen Teilen Tunesiens. Am Hochpunkt hatte die UNET (Union Nationale des Étudiants Tunisiens) etwa 3.000 Mitglieder in ganz Tunesien. Wir haben unsere Konferenzen dann in den Räumen der UGTT, dem Dachverband der Gewerkschaften, abhalten können.

Einige Probleme haben wir aber nicht bewältigen können. Einige Parteien, wie die KP und die Baath-Partei, haben sehr stark versucht, uns politisch zu vereinnahmen. Sie haben zu unseren Treffen Delegierte geschickt, die selbst keine SchülerInnen waren, und haben so ihre eigenen Projekte durchgedrückt. Das stand unserem Anspruch entgegen, endlich eine Organisation zu haben, wo wir unsere eigenen Ziele verfolgen können. Außerdem waren unsere Aktivitäten an Schulen verboten. Die KP hat es abgelehnt, sich für eine Legalisierung einzusetzen, wie sie bei UGET erfolgt ist - während sie gleichzeitig die politische Kontrolle zu erlangen versuchte.

NI: Danke für das Interview und viel Erfolg.

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