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Türkei

Erdogans Regime auf dem Weg zum Bonapartismus

Svenja Spunck, Neue Internationale 212, September 2016

Während Angela Merkel im ARD-Sommerinterview sich vor der Frage drückt, wie demokratisch die Türkei noch sei, ist schon lange glasklar: Die politische Stärke, die Präsident Erdogan mit seiner Partei AKP in den letzten 14 Jahren in der Türkei aufgebaut hat, war von Anfang an nicht begründet auf der legitimen Nutzung demokratischer Rechte, sondern auf der Ausnutzung der in der Verfassung verankerten undemokratischen Elemente.

Aufstieg der AKP

Erinnern wir uns zunächst an die Wahl von 2002, bei der die AKP mit überraschenden 34 % gewonnen hatte und mit nur einer anderen Partei, der CHP, ins Parlament eingezogen war. Würde es nicht eine 10 %-, sondern nur eine 5 %-Hürde wie in Deutschland geben, so wären noch 5 weitere Parteien ins Parlament eingezogen, deren Stimmen so verloren gingen. Die AKP, welche sich erst ein Jahr zuvor gegründet hatte, verbindet zwei konservative Teile der Gesellschaft miteinander, nämlich das in den 90er Jahren entstandene anatolische Kapital, auch „Grünes Kapital“ oder islamistisches Kapital genannt, und die einfache religiös-konservative Bevölkerung, welche sich von der Politik des laizistischen Kemalismus' ausgeschlossen fühlte. Nachdem die 90er Jahre von Wirtschafts- und Finanzkrisen und politischer Instabilität geprägt waren, war schon vor den 2002er Wahlen klar, dass die Koalitionsparteien DSP, MHP und ANAP dafür abgestraft werden würden.

Das Grüne Kapital, das schon zuvor zu wirtschaftlich großem Einfluss gelangt war, wollte diesen auch auf der politischen Ebene umsetzen und sah die neue AKP als ein gutes Mittel zum Zweck. Eine besonders wichtige Organisation für diese Kapitalfraktion ist der Unternehmerverband MÜSIAD, der gezielt neoliberale Wirtschaftspolitik mit religiös-konservativer Ethik verbindet. Die Firmen, die diesem Verbund angehören, umfassen Sektoren wie Bauwirtschaft, Dienstleistungen, Textil- und Nahrungsmittelproduktion, in denen ein hohes Maß an informellen und gewerkschaftsfreien Arbeitsverhältnissen dominiert. Jedoch konkurrieren andere Wirtschaftsverbände wie beispielsweise der etwas internationaler ausgerichtete Verband TÜSIAD mit ihm.

2009 gab es zwischen beiden einen offenen Konflikt, ob nach der Wirtschaftskrise ein IWF-gestütztes Austeritätsprogramm durchgesetzt werden solle. Solche Konflikte innerhalb des Kapitals schaffen der Präsident Erdogan und seine Partei scheinbar zu lösen. Dass die Befriedung der Konflikte innerhalb der Klasse des Kapitals die wichtigste Aufgabe der AKP werden würde, war schon zu Beginn ihrer ersten Regierungsphase zu erahnen. Viele dieser Konflikte bestehen schon seit Jahrzehnten und es gab immer wieder erfolglose Ansätze, diese zu lösen.

Seit der Gründung der türkischen Republik 1923 sollte zunächst durch das kemalistische Programm versucht werden, die Importabhängigkeit durch eine umfassende Industrialisierung der Türkei aufzuheben und die Interessensgegensätze der Klassen durch ein Wirtschaftssystem einzudämmen, das auch mäßige Formen des sozialen Kompromisses enthielt. Dies ging einher mit politischer Unterdrückung in einem Ein-Parteien-System. Mit der politischen und wirtschaftlichen Liberalisierung in den 80ern wuchs die Abhängigkeit von ausländischem Kapital, was zu Instabilität führte. Der Versuch, die verschiedenen Interessen der Bourgeoisie durch eine Koalitionsregierung zu vereinen, scheiterte und hat bis heute ein tiefes Misstrauen gegenüber Koalitionsregierungen in der türkischen Gesellschaft hinterlassen. Immer wieder kam es zu Militärputschen, bei denen islamistische Parteien von der Regierung abgesetzt, aber auch linke Parteien und Gewerkschaften eliminiert wurden. Das Militär ist traditionell der Hüter des Laizismus, vor allem aber die Interessenvertretung der mittelständischen kemalistisch-westlichen Elite. Jahrzehntelang war es auch Sachwalter der Interessen des gesellschaftlichen Gesamtkapitals, doch diese Funktion vermochte es mit der Entstehung einer stärkeren, nicht ans Militär gebundenen Bourgeoisie und aufgrund des ökonomischen Scheiterns der kemalistischen Politik immer weniger zu erfüllen.

Machtbasis der AKP

Wie hat es die islamistische AKP also geschafft, sich in einem rasant entwickelnden Land wie der Türkei so lange an der Macht zu halten? In einem Land, dass auch in einem regionalen Spannungsfeld liegt, zwischen Balkan, Schwarzem Meer und dem Nahen Osten?

Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der Kombination von Neoliberalismus, konservativen Traditionen, einer günstigen Ausgangslage und natürlich massiver Unterdrückung. Fragt man einen AKP-Wähler nach seiner Motivation, wird vor allem die ländliche Bevölkerung antworten, man sei der AKP dankbar für ihre umfassenden  Programme zur Entwicklung der Infrastruktur, die Ausstattung der Schulen und auch die willkürlichen Spenden, die die Partei verteilte. Eine Weile hatte die AKP armen Familien (außerhalb der Bestechungen direkt vor den Wahlen) monatlich 500 Dollar gezahlt. Da es auf dieses Geld jedoch keinerlei Rechtsanspruch gab, wählten viele Menschen aus der sozialen Abhängigkeit heraus weiter die AKP.

Dabei ist die erfolgreiche Wirtschaftspolitik zu Beginn ihrer Regierungszeit, die den Schein der spendablen Regierung erweckt, hauptsächlich die Fortführung der Wirtschaftspolitik, welche schon die Koalitionsregierung vor 2002 in die Wege geleitet hatte. Ebenso trügerisch ist der vor allem im Westen viel gelobte Versuch, sich der EU anzunähern und Mitglied zu werden. Die AKP nutzte die geforderten Reformen bis zu dem Punkt aus, der für die Entmachtung des Militärs hilfreich war, danach stagnierten die Verhandlungen. Dass ein solches Regime ebenso wenig wie seine Vorgänger oder das Militär willens ist, zum Beispiel die Terrorgesetze zu ändern, die im Falle von Oppositionsbewegungen oder auch ethnischen Konflikten im Lande grundlegend für die Stabilitätssicherung sind, ist eigentlich immer klar gewesen. Als dann die Exporte in die EU ab der Wirtschaftskrise 2008 abnahmen und die Türkei sich mehr dem Nahen Osten zuwandte, kamen die Beitrittsverhandlungen zum Stillstand.

Türkei und der Nahe Osten

Die Türkei ist zwar selbst kein arabisches Land, aber dennoch von der Entwicklung des Arabischen Frühlings stark betroffen. Mit dem Nicht-Zustandekommen einer Herrschaft der Muslimbruderschaft in Ägypten oder eines Regimewechsels in Syrien wurden Hoffnungen und Pläne der AKP enttäuscht, denn nachdem die innenpolitische Macht auf Erdogan konzentriert ist, sollte es über die Staatsgrenzen hinausgehen. Wie Erdogan selbst immer wieder sagt, will er der Co-Präsident im „Projekt des Großen Mittleren Ostens“ werden.

Schon 2013 mit den Gezi-Protesten waren erste Anzeichen der Instabilität des AKP-Regimes erkennbar. Damals entwickelte sich ein kleiner Protest gegen die Bebauung einer Grünfläche zu landesweiten Anti-Regierungs-Demonstrationen, denen sich viele sozial unterdrückte Gruppen anschlossen, die den Rücktritt der Regierung forderten. Dass dabei 9 Menschen ihr Leben durch Polizeigewalt verloren und die Opfer und Protestierenden von Erdogan verhöhnt wurden, ist ein erstes deutliches Signal gewesen, wie die AKP mit der Opposition umzugehen gedenkt.

Ein Resultat dieser Dynamik war die Neugründung der linken, pro-kurdischen Bündnispartei HDP, die insofern eine Gefahr für die AKP darstellt, dass ihre Mitglieder und UnterstützerInnen aus unterschiedlichen Gebieten des ganzes Landes kommen und viele sozial unterdrückte Gruppen sich ihr angeschlossen haben. Um dennoch einen Vorteil für sich herausschlagen zu können, versuchte die AKP zunächst, die HDP für die Friedensverhandlungen mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK zu nutzen.

Diese Verhandlungen waren in erster Linie wichtig für die AKP, um noch stärker in der kurdischen Bevölkerung Fuß fassen zu können, indem die PKK so handzahm gemacht werden sollte, dass sie keine bewaffnete Opposition mehr darstellen würde. Doch während diese Verhandlungen noch liefen, wurde der Einfluss der kurdischen Partei PYD in Nord-Syrien stärker und stellte ein Vorbild für die Anhänger ihrer Schwesterpartei PKK dar.

Der Kampf der schon unter dem Assad-Regime unterdrückten KurdInnen gegen den Islamischen Staat ist weltweit bekannt und wird in der linken Bewegung heroisch gefeiert. Viele Jugendliche aus türkischen Organisationen kämpfen heute in den internationalen Brigaden in Rojava. Die Türkei war eines der ersten Länder, welches sich nach dem Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges auf die Seite der Opposition stellte - jedoch nicht auf die der demokratischen oder fortschrittlichen Kräfte, sondern deren reaktionären islamistischen Teil. Niemand konnte damit rechnen, dass dieser Konflikt sich so lange hinziehen würde. Die Gefahr, dass nun die KurdInnen eine autonome Region gründen würden, die dann in Verbindung mit der PKK den Machtanspruch Erdogans herausfordern könnte, wurde in härteren Repressionen gegen die HDP deutlich.

Nachdem sie vorher noch wegen ihrer Verbindung zur kurdischen Bevölkerung als wichtiger Verhandlungspartner betrachtet wurde, schlug die Rhetorik schnell um und Verfahren wegen Mitgliedschaft und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung wurden gegen die HDP-Vorsitzenden eingeleitet. Bis zu den Wahlen im Juni 2015 gab es in der Opposition noch Hoffnungen, dass ein Einzug ins Parlament der HDP wenigstens soviel Respekt verschaffen würde, dass es auf legalem Wege möglich sei, die politischen Geschehnisse in der Türkei zu verändern. Doch die Weichen waren schon gestellt. Die AKP hatte es nicht vorgesehen, dass die HDP die 10 %-Hürde übersteigen und die AKP damit eine Parlamentsmehrheit verlieren würde. In kürzester Zeit folgten militärische Angriffe auf die kurdische Bevölkerung, die Friedensverhandlungen wurden für beendet erklärt und Bomben detonierten auf HDP-Versammlungen. Bis zu den Neuwahlen im November wurde ein Klima der kollektiven Bestrafung und der Angst geschaffen und Erdogan selbst sagte deutlich: „Hättet ihr uns unsere 400 Parlamentssitze gegeben, dann wäre dieses Chaos nicht ausgebrochen.“

Schon Ende 2013 musste die AKP einen schweren Angriff abwehren, dieses Mal jedoch aus dem eigenen Lager. Die religiöse Bewegung um Fetullah Gülen, der mit Erdogan zunächst gemeinsam die AKP aufgebaut hatte, veröffentlichte Tonaufnahmen, die schwere Korruptionsskandale um Erdogan und seinen Sohn enthüllten. Daraufhin gab es erste Säuberungsaktionen gegen vermeintliche Gülen-Anhänger. Es handelt sich hierbei nicht nur um eine religiöse Sekte, sondern um eine nicht unwichtige Fraktion des Kapitals, zu der viele Schulen, Universitäten, Unternehmen und auch eine Bank gehören.

Zunehmende Machtbefugnisse

Trotz dieses Skandals wurde Erdogan 2014 zum Präsidenten gewählt und eine grundlegende Verfassungsänderung trat auf die Tagesordnung. Die wachsende Masse an WählerInnen (2002: 34 %, 2014: 51 %) zeigt, dass, obwohl beispielsweise die Reallöhne seit 2002 stagnieren und die Privatverschuldung zwischen 2004 und 2014 um 478 % gestiegen ist,  zum einen ein großes Vertrauen in die AKP herrscht, zum anderen aber auch der gesamte Staatsapparat so ausgerichtet ist, dass eine Alternative bei vielen nicht denkbar ist. Denn die AKP hat ein großes Medienimperium aufgebaut, ein Gesetz erlassen, wonach Erdogan persönlich das Recht hat, unliebsame Inhalte zu zensieren und zu sperren. Gegen Journalisten wie Can Dündar, die Skandale der Regierung publizieren, wird mit aller Härte vorgegangen. Die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ setzt die Türkei mittlerweile auf Platz 149 (Jahr 2015) der Rangliste der Pressefreiheit.

Eine Regierung, die sich in ihrer Rhetorik zwar auf die Massen des Volkes stützt, aber kritischen PolitikerInnen und JournalistInnen anderer Länder sagt, sie sollen sich gefälligst nicht einmischen, und Stück für Stück immer repressivere Gesetze erlässt, um jegliche Opposition im Keim zu ersticken, bewegt sich auf wackligen Beinen. Das Gefühl der Bevölkerung, finanziell abgesichert zu sein, ist vor allem im Bereich des Wohnungsbaus durch eine große Kreditblase entstanden, die unvermeidlich platzen wird.

Die Unterstützung islamistischer Parteien in Syrien holt den Bürgerkrieg ins eigene Land, die ausbleibenden Touristen sind nur ein Teil der Auswirkungen davon. Ebenso sind die 3 Millionen Flüchtlinge, die hauptsächlich aus Syrien kommen, bisher nur Teil einer Kampagne der AKP, um die sowieso schon unterdrückte Bevölkerung zu spalten. So sollen die neuen Flüchtlingslager im Umfang von mehreren zehntausend BewohnerInnen mitten hinein in die landwirtschaftlichen Flächen von AlevitInnen gebaut werden, die nun dagegen protestieren. Ebenso wurden schon viele KurdInnen in den ohnehin zerstörten Städten enteignet. Die staatliche Baugesellschaft soll dort neue Häuser aufbauen, in denen nicht etwa die vertriebene kurdische Bevölkerung leben kann, sondern zum einen regierungstreue Beamte und zum anderen einige syrische Geflüchtete, um die kurdische Bevölkerung gegen sie aufzuhetzen.

Hinzu kam der nicht vorhersehbare Putschversuch von Teilen des Militärs mit eventueller, aber nicht bewiesener Verbindung zur Gülen-Bewegung im Juli 2016, der einen 3-monatigen Ausnahmezustand und Säuberungen im Staatsapparat sowie große Repressionswellen gegen Linke nach sich zog. Die bisher erlassenen Gesetzänderungen beinhalten unter anderem, dass Erdogan nun Vorsitzender des Generalstabs wie auch des Geheimdienstes ist.

Mit massiver Propaganda in öffentlichen Versammlungen und in den Medien soll nun das Bild kreiert werden, dass das Volk hinter Erdogan steht und ihn gegen den Putsch und das Militär verteidigen würde. Am Abend des Putsches selbst war es jedoch vor allem der harte Kern der islamistischen AKP-Anhänger, der sich wirklich den Panzern in den Weg stellte. Während Erdogan nun versuchte, den einen Risikofaktor für seine Herrschaft auszuschalten und das Militär zu säubern, rückte gleichzeitig die YPG in Syrien (in Absprache mit den USA) weiter vor.

Erdogan sah sich gezwungen, mit der Armee in Syrien einzumarschieren und unter dem Vorwand den IS zu bekämpfen, die YPG anzugreifen. Während es nicht einmal von Seiten der staatlichen Nachrichtenagentur Beweise dafür gibt, dass es eine Auseinandersetzung mit dem IS gab, tauchen immer mehr Bilder und Videos auf, die die Ermordung und Folterung kurdischer und SDF-Kräfte durch türkisches Militär oder dessen Verbündete, islamistische Teile der ehemaligen FSA, zeigen. Dieser Angriff hat ganz klar das Ziel, die Verbindung der 3 kurdischen Kantone in Syrien und damit die Errichtung eines Autonomiegebietes zu verhindern. Vor allem die Rolle der USA, die erst mit den kurdischen Kräften gegen den IS kämpften und nun die Invasion des Nato-Staates Türkei unterstützen, ist dabei wichtig zu beobachten. Die KurdInnen haben viele historische Erfahrungen machen müssen, in denen sie von (imperialistischen) Bündnispartnern verraten wurden, und der fatale Fehler, sich auf die militärische Kooperation auch politisch zu verlassen, könnte ihnen jetzt zum Verhängnis werden.

Das Erdogan-Regime hingegen versucht gleich an mehreren Fronten wieder diplomatische Beziehungen zu imperialistischen Ländern aufzubauen, wie seit einigen Monaten zu Russland, innerhalb der EU vor allem zu Deutschland, aber auch zu Regionalmächten wie Israel und dem Iran. Die libanesische Zeitung As-Safir berichtete am Montag, dass es wohl einen Deal zwischen der türkischen Regierung und dem Assad-Regime gegeben habe, der die Städte Aleppo und Darayya Assad überlasst, wenn die Türkei die Verbindung der kurdischen Kantone verhindere. Die Show der Pseudo-Feindschaft zwischen Assad und Erdogan wird also kurz unterbrochen, um sich gegen einen gemeinsamen Feind zu wehren, der das jetzige System der Nationalstaaten gefährdet, und plötzlich steht die Türkei im Krieg.

Schwäche der ArbeiterInnenklasse

Was trotz all dieser großen Probleme und Konflikte ausbleibt, ist die gemeinsame Organisierung der Unterdrückten und der ArbeiterInnenklasse. Allein der gewerkschaftlich organisierte Teil der Lohnabhängigen beträgt nur 8 %, wovon wiederum die Mehrheit in AKP-nahen Gewerkschaften organisiert ist. Ebenfalls gibt es keine ArbeiterInnenpartei in der Türkei, sondern auch die linken Parteien wie die HDP reden von der Zusammenarbeit und Verbrüderung der Völker oder sie sind marginalisiert. Diese Verbrüderung ist natürlich eine schöne Vorstellung, wird jedoch weder einen Großteil der kurdischen Bevölkerung überzeugen, nachdem sie die letzten Monate von „dem türkischen Volk“ drangsaliert wurde, noch einen Großteil der TürkInnen, die in einem stark nationalistischen Erziehungssystem aufwachsen, das Privilegien für Türken schafft, die einem manchmal das Überleben sichern. Der permanente Krieg gegen die kurdische Bevölkerung ist daher auch ein Mittel, die eigene Machtbasis weiter zu stärken und die Massen in einem Zustand des nationalen Taumels zu halten.

In der aktuellen Situation ist es nicht Erdogans dringlichste Aufgabe, den Konflikt zwischen der ArbeiterInnenklasse und dem Kapital zu befrieden, da die ArbeiterInnenklasse wenig Bewusstsein und noch weniger Organisation vorweist. Wohl aber muss er eine Politik entwickeln, die über die Gegensätze verschiedener Kapitalfraktionen hinweg deren gemeinsames Gesamtinteresse sichert und bei einer Verschärfung ökonomischer Krisen das Land „stabil“ halten kann..

Das Regime Erdogans kann man als einen sich entwickelnden Bonapartismus bezeichnen, also ein Regime, in dem eine Person, der Bonaparte, die Konflikte zwischen den Klassen oder wie in der Türkei zwischen den verschiedenen Kapitalfraktionen durch eine starke Bürokratie von oben zu befrieden versucht, um das kapitalistische System stabil zu halten.

Die gesellschaftliche Instabilität und die Schwierigkeiten der verschiedenen Kapitalfraktionen selbst eine politische Kraft zu formieren, die die Interessen des Gesamtkapitals vertreten könnte, bringen das Bedürfnis nach einem bonapartistischen Regime hervor, das Erdogan als „Machtmensch“ verkörpert.

Dieselben Bedingungen machen das jedoch zu einem schwierigen Projekt. Die Türkei ist als halb-koloniales Land bei allen Ambitionen, sich als Regionalmacht zu stärken, von der Entwicklung anderer Länder und vom internationalen Finanzkapital und seinen Institutionen in hohem Maße abhängig. Ein stabiles, autoritäres Regime zu schaffen, ist daher eine sehr schwierige Aufgabe, wie man daran sehen kann, dass Erdogans Reaktionen immer aggressiver, militärischer, repressiver und auch riskanter werden. Ein wichtiger Schritt, um noch härter durchgreifen zu können und ein vollständig bonapartistisches Regime zu errichten, ist die Änderung der Verfassung, die durch ein Referendum wirklich durchgesetzt werden könnte.

Nach dem gescheiterten Putsch und dem „Gegenputsch“ der AKP erscheinen Erdogans Griff nach einer weiteren Bündelung seiner Macht und die Errichtung eines bonapartistischen Regimes kaum zu stoppen. Die kurdische Bevölkerung leistet zwar heroischen Widerstand gegen das Militär und die Spezialeinheiten der Polizei. Politisch befinden sich die Linke und die ArbeiterInnenbewegung, ja alle demokratischen Kräfte und sozialen Bewegungen, in einer Situation extremer Schwäche. In einer solchen defensiven Situation wäre ein Bündnis der HDP und aller kurdischen Organisationen, der vom Regime unabhängigen Gewerkschaften (allen voran DISK und KESK), der türkischen Linken und sozialen Bewegungen dringend notwendig, das sich gegen die Repression und willkürlichen Verhaftungen richtet und demokratische Rechte (und insbesondere auch das Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volks) verteidigt.

Eine solche Einheitsfront könnte natürlich auf zahlreiche andere Felder des politischen, gewerkschaftlichen und sozialen Kampfes ausgedehnt werden, um so eine wirkliche Opposition gegen das Regime und die herrschende Klasse aufzubauen. In diesem Rahmen würde zugleich die Frage nach der politischen Strategie, Ausrichtung, dem Programm einer solchen Bewegung und der Schaffung einer ArbeiterInnenpartei konkret gestellt werden.

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Nr. 212, September 2016

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