(Rabotschaja Vlast, Ukraine,
sympathisierende Sektion der LRKI)
Kiew, November 2000. Die kopflose Leiche des seit dem 16.
September "verschwundenen" unabhängigen progressiven
Journalisten Georgij Gongadze wird gefunden. Ende November wird die
Verwicklung Kutschmas und führender Regierungsvertreter offenkundig.
Über einen ins Ausland geflohenen ehemaligen Geheimdienstoffizier werden
Abhörprotokolle veröffentlicht, aus denen hervorgeht, dass Präsident
Kutschma die Entführung Gongadzes angeordnet hat. Seither befindet sich
das politische System der Ukraine in einer tiefen, offenen Krise.
Kutschma und die ukrainische Bourgeoisie
Kutschma war 1994 an die Macht gekommen. Außenpolitisch versuchte er,
zwischen Russland und dem Westen zu lavieren. Das entsprach nicht nur der
geopolitischen Lage des Landes, sondern auch den ökonomischen Interessen
der restaurationistischen Bourgeoise. Der Reichtum der wichtigsten
Oligarchen – Volkov, Medvedchuk, Surkis, Pinchuk, Derkach – basiert
auf dem Energiegeschäft, v.a. dem Handel und der Spekulation mit
russischem Öl und Gas.
Diese Gruppe war eng mit dem Regime Kutschma verbunden, das seinerseits
die Interessen dieser Kapitalisten schützte. Woran lässt sich das
zeigen? Erstens an der Privatisierungspolitik der Regierung. Besonders
klar trat das beim Verkauf der staatlichen Aluminiumwerke Mykolayiv an
einen russischen Konzern zu Tage.
Mit dieser pro-russischen Entscheidung war der IWF nicht zufrieden. Er
versuchte seinerseits, über den Premierminister Viktor Juschtschenko
Druck auszuüben, der zum "Überdenken" der
Privatisierungsentscheidung" aufrief. Dahinter steckten nicht nur die
Interessen des IWF, sondern auch eines anderen Flügels der ukrainischen
Bourgeoisie, namentlich das Finanzimperium von Julia Timoschenko, die bis
November selbst Regierungsmitglied gewesen war und dann zur Opposition
wechselte.
Die Ermordung Gongadzes verdeutlicht, mit welchen Mitteln Kutschma
seine Macht zu behaupten gedenkt. Seit November fanden immer wieder
Demonstrationen in Kiew und anderen Großstädten statt, die sich gegen
das Regime und die immer stärkere Einschränkung demokratischer
Freiheiten, den Ausbau von Bespitzelung und Überwachung jeder Opposition
richteten. Die bescheidenen demokratischen Errungenschaften seit Glasnost
und Perestroika werden immer mehr zurückgeschraubt. Wie schon im
Stalinismus bleiben die Massen von den wirklichen Entscheidungs- und
Kontrollprozessen ausgeschlossen. Der jetzige Skandal ist insofern nur die
Spitze des Eisberges.
Seit Dezember ist der Unabhängigkeitsplatz in Kiew besetzt und eine
Zeltstadt errichtet. Von Sozialisten, über Nationalisten bis zu
Faschisten hat sich die Bewegung "Ukraine ohne Kutschma"
zusammengefunden. Diese buntscheckige Koalition besteht aus verschiedenen
Kräften:
1. Auf der Linken: Die Sozialistische Partei (SPU, geführt von
Aleksander Moroz), die Sozialdemokratische Partei der Ukraine (SDPU),
"Vorwärts Ukraine" und zwei trotzkistisch-zentristischen
Gruppen (Arbeiterwiderstand, die Schwesterorganisation der SAV-VORAN und
die "Roten Wölfe", die dem Vereinigten Sekretariat der Vierten
Internationale (RSB) nahe stehen.
2. Das "respektable" bürgerliche Zentrum: Die
nationalistische Volksbewegung RUCH, die Grüne Partei der Ukraine, die
Republikanische Partei, die Ukrainische Konservative Republikanische
Partei und die Partei "Vaterland", die von der ehemaligen
stellvertretenden Premierministerin Timoschenko geführt wird.
3. Die extrem rechten bürgerlichen bzw. kleinbürgerlichen Parteien
(Schild des Vaterlandes, UNA-UNSO) und die offenen Faschisten der
National-Sozialistischen Partei der Ukraine und "Staatliche
Unabhängigkeit der Ukraine".
Unterstützung?
Diese dubiose Koalition fordert den Rücktritt Kutschmas und anderer
staatlicher Spitzenfunktionäre sowie die unabhängige Untersuchung des
Falls Gongadze. Zweifellos sind diese und ähnliche Forderungen wie die
nach Pressefreiheit und Veröffentlichung aller Fakten zum Fall Gongadze
fortschrittlich. Doch wir können die Bewegung "Ukraine ohne Kutschma"
und die "Zeltstadt" nicht unterstützen, auch wenn Teile der
ukrainischen Arbeiterklasse mit der Bewegung sympathisieren. Dafür gibt
es zwei Gründe. Erstens die Beteiligung der Faschisten. Zweitens stand
hinter der Bewegung der ultraliberale, pro-westliche Premierminister
Juschtschenko, der seinerseits auf dem Rücken des berechtigten Unmuts mit
Kutschma an die Macht gelangen will.
Auch die Oligarchen, die Kutschma unterstützen, haben versucht, die
Initiative zurückzugewinnen und eine alternative Zeltstadt für Kutschma
organisiert. Diese war von den Studenten der Hochschule des Geheimdienstes
organisiert, der "Demokratischen Partei" (die vom Oligarchen
Volkov geführt wird), der Vereinigten Sozialdemokratischen Partei der
Ukraine (USDPU) und einigen kleineren trotzkistisch-zentristischen
Gruppen, darunter die healyistische Sozialistische Jugend der Ukraine, die
mit Kutschma einen imaginären "Arbeiterstaat" und die
"Errungenschaften der Oktoberrevolution" verteidigen will.
Doch die Ukraine ist kein Arbeiterstaat mehr, und das bürokratische
Regime Kutschmas zu unterstützen, ist etwas völlig anderes, als die
Verteidigung eines Arbeiterstaates oder dessen nachkapitalistischer
Errungenschaften gegen die Restauration des Kapitalismus.
Bezeichnenderweise tummeln sich auch in diesem "alternativen"
Lager die Faschisten.
Die reformistischen Arbeiterorganisationen – die SPU und die
Kommunistische Partei – weigerten sich, eine von den Bürgerlichen
politisch unabhängige Einheitsfront der Arbeiterklasse aufzubauen. Die
Führer von SPU und KP gingen sogar so weit, den eigenen Mitgliedern das
Tragen roter Fahnen und anderer Parteisymbole bei den Protesten gegen
Kutschma zu verbieten! So nahm die SPU an Massendemonstrationen gegen
Kutschma mit der blau-gelben ukrainischen Nationalfahne teil!
Die dritte reformistische Partei – die Progressive Sozialistische
Partei der Ukraine – lehnt jede Beteiligung an Aktionen gegen Kutschma
ab.
Die KP, die größte reformistische Kraft, hat offiziell eine
"neutrale" Haltung zu den Protesten, auch wenn viele Mitglieder
an den Demos teilnehmen. Der Grund dafür ist, dass sie den Konflikt als
reinen Konflikt innerhalb der herrschenden Cliquen charakterisiert hat.
Doch das ist falsch. Die Ausschaltung demokratischer Rechte und der immer
offenere repressive Bonapartismus Kutschmas sind eine riesige Bedrohung
für die Arbeiterklasse und die Jugend im Land.
Gerade in den letzten Wochen ist das deutlich hervorgetreten. Kutschma
und Juschtschenko arrangierten sich hinter den Kulissen und verurteilten
in einer gemeinsamer Erklärung jeden Protest, jede Forderung nach einer
Untersuchung der Gongadze-Affäre. Das unterstreicht deutlich, dass der
Kampf um berechtigte demokratische Forderungen nicht der Bourgeoisie
überlassen werden darf, sondern von der Arbeiterbewegung geführt werden
muss.
Sie muss daher auf den Demonstrationen massiv präsent sein, eine
Kampagne gegen Kutschma und für die Verteidigung demokratischer Rechte,
für Arbeiterkontrolle über die Medien usw. in den Betrieben, an den Unis
und Schulen aufbauen. Sie muss die Führung des Kampfes gegen Kutschma
übernehmen! Sie muss Selbstverteidigungsgruppen aufbauen, um die
Faschisten aus allen Anti-Kutschma-Aktionen rauszuwerfen und um sich gegen
faschistische Anschläge (siehe Kasten) zu verteidigen.
Vor allem aber muss sie den Kampf zum Sturz des Kutschma-Regimes und
zur Abschaffung der Präsidentschaft mit einer Perspektive versehen: dem
Kampf um eine Arbeiterregierung, die sich auf Kampforgane der Klasse –
auf Aktionsräte und Milizen – stützt und dem Widerstand gegen die
fortschreitende Wiedereinführung des Kapitalismus und die damit
verbundenen Angriffe auf demokratische Rechte und soziale Standards.