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Proteste in Polen

Widerstand gegen rechtskonservative Regierung – aber mit welcher Perspektive?

Lars Keller, Infomail 883, 26. Mai 2016

Am 7. Mai 2015 kam es in Polen zu der größten Demonstration seit der Wende. Rund 240.000 Menschen folgten dem Aufruf des „Komitees zur Verteidigung der Demokratie“ (KOD). Unter diesem Namen hatten Liberale, Konservative und Linke mobilisiert und teilgenommen. Der von polnischen Nationalfahnen und EU-Symbolen dominierte Protestzug richtete sich gegen die reaktionäre Politik der rechtskonservativen PiS-Regierung.

Ministerpräsidentin Beata Szydlo will unterdessen ein vollständiges Abtreibungsverbot durchsetzen, nachdem bereits Verfassungsgericht und Medien immer mehr entrechtet wurden. Die Regierung und der erz-konservative Präsident stellen sich über ihre Parlamentsmehrheit politische Vollmachten aus, die eine ähnlich autoritäre Regierungsform wie in Ungarn unter Orbán etablieren sollen.

PiS: Erfolg und Proteste

Bei aller Kritik an der aktuellen Regierung darf jedoch nicht vergessen werden, dass das Wahlergebnis und die absolute Mehrheit der PiS auch auf die Politik der Vorgängerregierung zurückzuführen sind. Unter dem Druck der internationalen Konkurrenz, der eigenen Bourgeoisie – die selbst viele Mitglieder in der Vorgängerregierungspartei PO hat – und der EU bzw. Deutschlands war deren Politik auf kontinuierliche Angriffe auf die ArbeiterInnen, aber auch das städtische Kleinbürgertum und v.a. die Bauernschaft in Polen ausgerichtet. Dies hat, ähnlich dem restlichen Osteuropa, einen Rechtsruck zur Folge gehabt, bei dem PiS in populistischer Manier vor allem mit einer Anti-EU Politik warb.

Die PiS gilt oftmals als „Stimme des Katholizismus“, welcher in Polen in großen Teilen der Bevölkerung stark verankert ist, dadurch seit jeher fortschrittliche Kämpfe untergräbt und vor allem Frauenrechte immer wieder angreift – wie auch jetzt.

Gegen die Angriffe regte sich vor allem im Pro-EU Lager des polnischen Bürgertums aktiver Protest. Diese Gruppe kann durchaus EU-Privilegien genießen, auch wenn Polen gleichzeitig am Tropf der starken EU-Kapitale hängt. Diese Vorteile der EU-Mitgliedschaft sehen die führenden liberalen und konservativen Kräfte in der KOD gefährdet. Sähe sich die polnische Bourgeoisie in ausreichendem Maße von der PiS-Regierung repräsentiert, wäre es von ihrer Seite schnell aus mit dem Kampf zur „Verteidigung der Demokratie“.

Dass sich die Massenbewegung unter der Führung der KOD entwickelt, verdeutlicht aber auch die politische Schwäche der ArbeiterInnenbewegung und der Linken in Polen.

Die Führungen der Gewerkschaften wie der Sozialdemokratie, die aus dem Stalinismus hervorging, haben schon jahrelang keine eigenständigen politischen Mobilisierungen mehr durchgeführt, keine Initiative ergriffen. Unter den Regierungen der letzten Jahre haben sie selbst keinen nennenswerten Widerstand gegen reaktionäre, frauenfeindliche oder homophobe Gesetze, aber auch nicht gegen soziale Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse durchgeführt. Erst recht haben sie nichts gegen die reaktionäre Ukraine-Politik und die NATO-Expansion getan.

Daher verwundert es auch nicht, dass die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften die Führungsrolle der liberalen und konservativen Bürgerlichen akzeptieren, ja letztlich bevorzugen, weil sie sich so politisch dahinter verstecken können und weil auch sie wollen, dass eventueller Widerstand von ArbeiterInnen keine zu radikalen oder gar „unkontrollierbare“ Formen annimmt.

Andere sind zwar gegenüber der politischen Ausrichtung von KOD etwas kritischer, begehen aber dafür andere Fehler: (Partia) Razem, eine neue linke Organisation mit Parteianspruch, die sich gewissermaßen am Konzept von spanischer Podemos und der Politik von Varoufakis’ DiEM 25 orientiert, glänzt mit Perspektivlosigkeit – sicher auch ein Ausdruck von Verzweiflung. Man betrachtet die KOD als problematisch, da dort die Kräfte an der Spitze stünden, die mit ihrer Politik den Rechtsruck unter der PiS-Regierung vorbereitet hätten. Dieser richtigen Aussage folgt aber nichts, außer man wolle mit ArbeiterInnen auf der Straße reden. Auf die Frage, was diesen nun konkret an Kampfformen und Forderungen vorzuschlagen sei, weiß Razem keine befriedigende Antwort.

Sowohl die Sozialdemokratie als auch Razem und die Gewerkschaften haben kein eigenes Aktionsprogramm, keine Mobilisierungsperspektive zu bieten – und können so auch nur eine politische Nebenrolle in der Protestbewegung spielen.

Wie kämpfen?

Die ArbeiterInnenbewegung steht momentan mit dem Rücken zur Wand und ist durch die vergangenen Wahlen nochmals stark geschwächt worden. Die Linke besteht zumeist aus Gruppen von reformistischer Tradition bzw. deren stalinistischer Spielart (z.B. Brzask). Die Sozialdemokratie sieht einer fortschreitenden Marginalisierung entgegen. Der Niedergang der Linken kommt nicht von ungefähr: Stalinismus und sozialdemokratischer Reformismus haben Verbrechen an den polnischen ArbeiterInnen verübt, ihre Kämpfe gegen Restauration und Ausverkauf an die EU verraten und keine oder nur symbolische  Mobilisierungen gegen vergangene Angriffe getätigt.

Die Gewerkschaften sind ebenfalls bürokratisch verkrustet. War Solidarnosc Anfang der 80er Jahre eine Hoffnung auf einen Sturz der stalinistischen Bürokratie, so ging sie unter dem Kriegsrecht mehr und zur kapitalistischen Restauration über und wurde überdies als Gewerkschaft deutlich geschwächt. Die OPZZ war nach 1989/90 immer der größere Gewerkschaftsverband, politisch jedoch im Schlepptau der zur Sozialdemokratie gewendeten ehemaligen Stalinisten.

Dass nun nicht wenige Linke und auch Lohnabhängige ihr Heil in der bürgerlichen Bewegung um KOD suchen, ist selbst ein Resultat der Perspektivlosigkeit und des politischen Bankrotts der Führungen der ArbeiterInnenbewegung. Die KOD – selbst von Liberalen und Konservativen geführt – scheint im Verbund mit der EU die einzige realistische Chance zu sein, die nationalistische und rassistische Abschottung des Landes und eine erz-konservative frauenfeindliche und homophobe Politik zu verhindern.

Die reaktionären Angriffe der PiS-Regierung zeigen deutlich, welche politische Sackgasse die nationale Abschottung in Europa für jede fortschrittliche Bewegung bedeutet. Sie sollten insofern auch allen enthusiastischen BefürworterInnen von EU-Austritten und den vermeintlichen Vorzügen nationaler Unabhängigkeit eine Warnung sein.

Die Tragik der aktuellen Lage besteht aber darin, dass die ArbeiterInnenbewegung politisch so geschwächt ist, dass es die KOD ist, die Hunderttausend mobilisiert. Es ist daher unbedingt notwendig, dass die Linke auf der Grundlage eines eigenen Programms in die Bewegung eingreift.

Einen klaren Klassenstandpunkt zu beziehen heißt dabei nicht, sich vor der aktuellen, bürgerlich geführten Bewegung zu verschließen. Falsch ist bloß, sich an KOD anzupassen und ihr politisch kritiklos als „dem kleineren Übel“ nachzurennen. Es spricht nichts dagegen, auf die Versammlungen von KOD zu gehen, einen konsequenten Kampf gegen die PiS-Regierung zu fordern und alle linken Organisationen und die Gewerkschaften aufzufordern, für eine ArbeiterInneneinheitsfront gegen die Angriffe von PiS zu werben.

Ein solches Bündnis sollte sich nicht nur auf die Abwehr der aktuellen Verschlechterungen beschränken. So lehnt die Führung des KOD zwar eine weitere Verschlechterung des ohnedies schon weitgehend eingeschränkten Abtreibungsrechtes ab, für die Abschaffung des Abtreibungsverbotes will sie aber auf keinen Fall auftreten, um nicht selbst ihre Beziehungen zur Kirche zu zerstören. Erst recht will sie keine sozialen Forderungen erheben.

All das macht einen politischen Bruch mit der KOD erforderlich, um der Jugend, den Frauen, den ArbeiterInnen eine weitergehende Perspektive zu bieten, aber auch um jene Polen und Polinnen zu gewinnen, die der KOD-Führung wegen ihrer neo-liberalen Regierungspolitik der Vergangenheit zurecht nicht über den Weg trauen. Zentrale Achsen einer ArbeiterInneneinheitsfront sollten daher sein:

Rücknahme des Medien- und Justizgesetzes! Weg mit den hohen Wahlprozenthürden!

Trennung von Kirche und Staat! Weg mit dem Gesetz zum Abtreibungsverbot – kostenlose, frei zugängliche Abtreibungen für alle! Kein Religionsunterricht an Schulen! Enteignung des klerikalen Eigentums unter ArbeiterInnenkontrolle!

Der aktuelle Mindestlohn ist viel zu niedrig (410 € / Monat).  Für einen nationalen Mindestlohn, festgelegt von ArbeiterInnenkomitees in einer Höhe, die Allen ein erträgliches Leben sichert! Gleiche Löhne für Mann und Frau!

Entschädigungslose Verstaatlichung aller Unternehmen, die Entlassungen ankündigen, Zahlung des Mindestlohns ablehnen, Arbeitsschutzrichtlinien nicht beachten oder keine Steuern zahlen! Die gesamte Belegschaft sollte das Geschäft unter ArbeiterInnenkontrolle weiterführen! Schluss mit dem „Billiglohnland“ Polen!

Nein zum Nationalismus, nein zu falschen Hoffnungen in die EU! Für den gemeinsamen, grenzüberschreitenden Widerstand der ArbeiterInnen und Jugend gegen Rassismus, Militarismus, Angriffe auf demokratische und soziale Rechte!

Um diese Forderungen erreichen zu können, braucht es konkrete Kampfmaßnahmen. Die Massendemonstrationen sind ein guter Schritt zu Sammlung der eigenen Kräfte. Sie haben gezeigt, dass in Polen trotz scheinbar allmächtigem Konservativismus Massenmobilisierungen möglich sind. Aber es ist auch klar, dass Demonstrationen allein die PiS-Regierung nicht zur Rücknahme ihrer Angriffe zwingen werden. Dazu braucht es eine Bewegung, die in den Betrieben, im Öffentlichen Dienst, an Schulen und Unis verankert ist, die über Demonstrationen hinaus zum politischen Streik übergehen kann. Daher braucht es eine Bewegung, die sich auf die ArbeiterInnenklasse stützt, die von ihr angeführt wird.

Doch dazu braucht die Klasse selbst eine Führung, die ein eigenes Programm, eine von den bürgerlichen Kräften unabhängige Politik verfolgt. Dabei stellen sich zwei miteinander verbundene Aufgaben: Erstens geht es darum, in den Gewerkschaften, in den Betrieben, in der Massenbewegung für den Aufbau von Aktionskomitees an den Arbeitsstätten, in Bildungseinrichtungen, im Wohnviertel einzutreten, um sich gegen die Angriffe der Regierung demokratisch, von unten zu organisieren und zu koordinieren – für Demonstrationen und Aktionen bis hin zum politischen Massenstreik.

Zweitens braucht es eine politische Kraft, die einer solchen Bewegung eine Stoßrichtung, politische Führung gegen kann – eine revolutionäre ArbeiterInnenpartei. All jene, die in der aktuellen Krise und Bewegung für eine anti-kapitalistische Ausrichtung eintreten, brauchen eine solche Organisation, brauchen eine Diskussion über deren programmatische Grundlagen und ihr Aktionsprogramm.

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Nr. 209, Mai 2016
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*  China vor 50 Jahren: Die sogenannte "Kulturrevolution"
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