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Eine (weitere) Explosion in Ankara: Ein ganzes Land auf dem Pulverfass

Svenja Spunck, Infomail 865, 21. Februar 2016

Ich sitze mit einem Freund in der U-Bahn in Istanbul und er erzählt mir von den letzten Tagen. Das Semester hat gerade begonnen, er studiert Kunstgeschichte. Er sagt, dass es bisher noch in keiner Stunde um Kunst ging. Alle DozentInnen reden nur über die aktuelle Lage in der Türkei. „Interessant“, sage ich, „und was besprecht ihr da so?“ Gestern hatte der Dozent gefragt, was diese Woche los war. Da mein Freund neben seinem Studium für eine bekannte linke Nachrichtenagentur in der Türkei arbeitet, weiß er bestens Bescheid und führt aus: „Die Kommission zur Verfassungsüberarbeitung wurde aufgelöst, da die CHP die Kommission verlassen hat. Nun will Erdogan eine Volksbefragung durchführen, um doch noch das Präsidialsystem dingfest zu machen.“

Dann ist natürlich der Angriff des türkischen Militärs auf die YPG, die Volksverteidigungskräfte in Rojava, zu nennen. Schon seit einiger Zeit ist eine „Sicherheitszone“ in Nord-Syrien geplant, die unter Kontrolle der Türkei stehen und de facto die Autonomie der PYD auflösen soll. Nachdem die USA sich vor kurzem nun eher gegen die AKP-Regierung und etwas mehr auf die Seite der kurdischen KämpferInnen gestellt hatte, kam es zur rechten Zeit, dass Angela Merkel sich ebenfalls für eine solche Zone aussprach. Während Assad oder Erdogan also unbehelligt im Nahen Osten Luftangriffe auf die Zivilbevölkerung fliegen, wird es auf einmal kritisch, sobald russische Kampfjets am Himmel erscheinen.

Ankara

Als mein Freund heute wieder nach den Ereignissen der Woche gefragt wurde, kam noch ein neues hinzu, dessen volle Ausmaße wirklich ungewiss sind. Am Mittwochabend erschütterte eine Explosion die Hauptstadt Ankara. Im Regierungsviertel detonierte eine Autobombe neben einem Militärkonvoi. Zum aktuellen Zeitpunkt haben mindestens 28 Menschen ihr Leben verloren, über 60 weitere sind verletzt. Erdogan und Davutoglu riefen sofort eine Sondersitzung ein. Zum gleichen Zeitpunkt wie die Krankenwagen vor Ort traf auch die Nachrichtensperre ein, die es verbietet, über den Vorfall zu berichten. Besonders auffällig ist dabei immer, dass die Internetgeschwindigkeit gedrosselt wird und Seiten wie facebook oder Twitter nur sehr langsam geladen werden.

In den ersten Tagen gab es noch keinen Bekenner zu dem Anschlag und doch sehr rasch beschuldigte die Regierung die PKK und deren Schwesterorganisation PYD. Angeblich hätte man den Fingerabdruck des Attentäters am Tatort gefunden. Es handele sich dabei um den 24 jährigen YPG-Kämpfer Salih Necar aus Syrien. Doch sowohl der Vorsitzende der PYD, Salih Müslim, als auch der zweite Vorsitzende der PKK, Cemil Bayik, wiesen jegliche Verbindung des ihnen unbekannten Attentäters zu ihren Organisationen zurück. Während Müslim meinte, dass die PYD sich überhaupt nicht für die innenpolitischen Verhältnisse der Türkei interessiere, räumte Bayik nur ein, dass der Anschlag als „Vergeltung“ für die Massaker an der kurdischen Bevölkerung verstanden werden könne, die PPK damit aber nichts zu hätte. Die HDP verurteilte den Schlag öffentlich. All das hindert die türkische Regierung jedoch nicht, den Anschlag der PKK/PYD in die Schuhe zu schieben.

Seit letztem Sommer greift das Militär die Zivilbevölkerung im kurdischen Teil des Landes an. Kurdische Organisationen wie die PKK wehren sich seitdem dagegen und haben vor einigen Wochen bekannt gegeben, dass ab März der Kampf in die großen Städte getragen werden wird. Ist das nun der Anfang? In den letzten Monaten ereigneten sich furchtbare Massaker in den kurdischen Städten wie Diyarbakir, Nusaybin und zuletzt in Cizre, wo mehrere Menschen tagelang in einem einstürzenden Haus gefangen waren und letztendlich unter Feuerbeschuss der türkischen Armee starben.

Diese Aktionen werden dann von diesen Sondereinheiten PÖH/JÖH der Polizei in den jeweiligen Social Media Accounts gefeiert. Das Besondere ist, dass für diese sogenannten „Säuberungen“ im Osten eigentlich nicht die Soldaten der Armee eingesetzt werden, da die AKP nach wie vor befürchtet, dass das Militär in alter kemalistischer Manier sich gegen die islamistische Regierung wendet und einen Putsch vorbereiten könnte. Die nun eingesetzten Sondereinheiten unterstehen direkt dem Präsidenten und gelten als besonders zuverlässig.

Warum aber erreicht uns sofort eine Tagesschau-Eilmeldung, wenn ein paar Soldaten in Ankara sterben, aber wenn kurdische ZivilistInnen getötet werden, schweigt die internationale Presse? Wieso verliert Angela Merkel kein Wort darüber, dass am Tag ihrer letzten Reise nach Ankara das besagte Gebäude in Cizre einstürzte, ruft aber nach dem Anschlag von Ankara sofort bei Erdogan an und bekundet ihm ihr Mitleid? Zum einen liegt es wohl daran, dass es so gut wie keine Pressearbeit mehr gibt in Kurdistan. JournalistInnen werden rund um die Uhr von der Polizei schikaniert, verhaftet, durchsucht und regelrecht gedemütigt, zum Beispiel, wenn junge weibliche Journalistinnen sich nackt ausziehen müssen.

Der nächste Grund ist, dass ein Anschlag in einer westlichen Stadt wie Ankara eben das Zentrum der Türkei, den Regierungssitz und das Herz des türkischen Nationalismus trifft. Schon in den letzten Tagen sprach die türkische Regierung immer wieder davon, nun doch in Syrien einzumarschieren und im schlimmsten Fall hat sie nun einen Grund gefunden.

Erdogan und seine AKP sind Hexenmeister, wenn es darum geht, Anschläge, auf wen auch immer, für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Als am 10. Oktober über 100 Linke in Ankara starben, die für Frieden demonstrieren wollten, nutzte die AKP dies für ihren Wahlkampf und war sogar so dreist zu behaupten, der Anschlag sei vermutlich von der HDP selbst organisiert gewesen. Nach dem Anschlag von Istanbul vor einigen Wochen und dem drastischen Rückgang der Zahl ausländischer TouristInnen, die vor allem aus Deutschland und Russland in die Türkei kamen, sollen die Ausreisebedingungen für türkische StaatsbürgerInnen verschärft werden, damit sie gezwungenermaßen Urlaub im eigenen Land machen.

Auch wenn ein Einmarsch der Türkei in Syrien zur Zeit noch unwahrscheinlich sein mag, so rechtfertigt sie damit nicht nur ihren Krieg gegen das kurdische Volk im eigenen Land, sondern auch Angriffe auf PKK-Stellungen im Nordirak und auf Rojava. Der deutsche Imperialismus, der seit Beginn der Flüchtlingskrise den türkischen Speichel leckt, schweigt weiterhin zu allen Schandtaten, ja versichert der Türkei „Solidarität im Kampf gegen den Terrorismus“. Erdogan weiß um Merkels Abhängigkeit bei der Sicherung der EU-Außengrenzen und braucht auch kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Vor kurzem erst tönte er, wenn das Geld für den Refugee Deal nicht rechtzeitig und in angemessener Höhe bezahlt werde, dann würde er eben die Flüchtlinge mit Bussen über die Grenzen schaffen lassen.

Wir müssen davon ausgehen, dass die türkische Regierung die Anschläge auf jeden Fall für ihre eigenen reaktionären Zwecke nutzen will. Dass sich eine nationalistische kurdische Organisation, die sich vor Jahren von der PKK abgespalten hat, dazu bekennt, ändert nichts daran, dass diese Aktion nicht den Unterdrückten dient. Wie alle Akte des „individuellen Terrors“ sind sie – unabhängig von wem sie durchgeführt wurden – für die Unterdrückten kontraproduktiv, weil die Massen allenfalls als passive Zuschauer agieren können. Auch wenn wir eine solche Organisation bedingungslos gegen den türkischen Staat verteidigen und ihm und dem Imperialismus jedes Rechts absprechen, über sog. „Terroristen“ zu richten, so ändert das nichts daran, dass wir die politische Kampfmethode dieser Organisation offen kritisieren.

Die Regierung hingegen nutzt den Anschlag, um ihn der PKK, der PYD, der HDP oder überhaupt gleich dem kurdischen Volk in die Schuhe zu schieben – auch wenn sie nicht dafür verantwortlich waren. Die PKK für die Aktionen jeder, jahrelang zurückliegenden Abspaltung verantwortlich zu machen, ist absurd und bedeutet nichts weiter als eine Art Sippenhaft in die Politik einzuführen.

Der türkische Staat weiß genau, dass PKK/PYD der Anschlag schadet. Warum sollte die kurdische Führung daran arbeiten, Ankara einen Vorwand für verschärfte Repression zu liefern, und vor allem deren Pläne einer direkten Intervention in Syrien Vorschub leisten wollen? Als RevolutionärInnen lehnen wir die Versuche der PYD in Rojava ab, sich den USA (und auch Russland) anzudienen. Warum aber sollten dann ausgerechnet die KurdInnen Interesse an einem Anschlag haben, der Erdogan helfen kann, die USA zur Einstellung jeder Hilfe für die „Terroristen“ in Rojava zu bewegen?

Gerade in den letzten Wochen und Monaten hat die Türkei aufgrund der Offensive der syrischen Armee und ihrer russischen und iranischen Verbündeten an Boden verloren. Die Waffenlieferungen an die KurdInnen in Rojava durch die USA und deren aktuelle Zusammenarbeit laufen allen Zielen der Regionalmacht Türkei zuwider. Der Anschlag von Ankara kommt hier geradezu wie gerufen, um die USA zu einer Aufkündigung jeder Unterstützung und Zusammenarbeit mit der PYD zu bewegen.

Vormarsch der Reaktion

Worüber der Anschlag aber in keinem Fall hinwegtäuschen darf, ist auch Folgendes: In der Türkei selbst herrscht Krieg und die einzige Reaktion, die darauf folgt, sind Repressionen gegen diejenigen, die sagen, was ist. Auch wenn die Forderung nach Aufhebung des PKK-Verbots umso wichtiger ist, so ist sie doch seit der Merkel/Erdogan-Freundschaft in weite Ferne gerückt. Es scheint so, als ob jeder Schritt näher zur Diktatur den Eindruck der Stabilität des türkischen Partners verstärkt.

Deshalb sind die richtigen Forderung nach wie vor: Der sofortige Stopp des Refugee Deals mit der Türkei und offene Grenzen für alle Geflüchteten! Keine Waffenlieferungen mehr in die Türkei zur Unterstützung der AKP! Streichung aller linken türkischen und kurdischen Organisationen von Terrorlisten und Stopp jeglicher Repressionen gegen Solidaritätsarbeit mit ihnen! Nein zu jeder Intervention von imperialistischen und Regionalmächten in Syrien!

In der Türkei selbst müssen alle Verhandlungen mit der AKP sofort beendet werden, die HDP sollte ebenfalls die Verfassungskommission verlassen und sich auf den Kampf zur Verteidigung ihrer WählerInnen und Mitglieder konzentrieren, die mit Bomben angegriffen und vom Staat ins Gefängnis geworfen werden. Was nach dem Anschlag von Paris als Ausnahmezustand galt, ist in der Türkei an der Tagesordnung. Extrem viele willkürliche Polizeikontrollen erfolgen an allen Orten, keine Demonstration kann mehr stattfinden und die Polizei hetzt deren TeilnehmerInnen mit Tränengas und Gummigeschossen durch die Straßen. Die Linke in der Türkei und alle ArbeiterInnenorganisationen müssen gemeinsam mit den kurdischen Massen und ihren Organisationen eine starke Front gegen die Regierung, gegen Erdogans Intervention in Syrien und gegen sämtliche Angriffe der AKP auf die Bevölkerung bilden, die gerade jetzt nicht zurückweicht!

Ansonsten wird vielleicht in der nächste Woche im Kurs meines Freundes der Kriegseintritt der Türkei in Syrien diskutiert und übernächste Woche ist es dann verboten, sich überhaupt noch kritisch dazu zu äußern ...

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