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Präsidentschaftswahlen in Ägypten

Doppelte Niederlage für die Revolution

Internationales Sekretariat der Liga für die Fünfte Internationale, 27. Juni 2012, Infomail 630, 4 Juli 2012

Die Wahl von Mohammed Mursi, dem Kandidaten der „Freiheits- und Gerechtigkeitspartei“ (FJP), der Wahlplattform der Moslembruderschaft (MB), ist eine Niederlage für die ägyptische Revolution. Sie weder eine partielle Verteidigung noch das kleinere Übel gegenüber einem Sieg für Achmed Schafiq, des Kandidaten des Obersten Militärrats (SCAF).

Wofür steht die Moslembruderschaft?

Mursi und die Moslembruderschaft sind keine Herausforderung oder gar eine Alternative zur Militärjunta, die derzeit Ägypten regiert. Die MB ist kein geringeres, sondern nur ein anderes Übel. Mit 190.000 Mitgliedern und einem weit verzweigten Netz von Wohltätigkeits- und Bildungseinrichtungen, über die sie ihre WählerInnen mobilisieren konnten, und ihrer grundsätzlich konservativen, prokapitalistischen und sozial reaktionären Politik ist die FJP kein ungefährlicherer Feind der Arbeiterklasse und der revolutionären Jugend als der abgewirtschaftete und diskreditierte, aber immer noch mächtige SCAF.

In etlichen Fragen haben Mursi und die MB andere Interessen als die alte Regierung. Aber gegenüber den Wünschen der ägyptischen Jugend nach Demokratie, Arbeitsplätzen, einer anständigen Ausbildung und jenen der GewerkschafterInnen nach Lohnerhöhung und besseren Arbeitsbedingungen sowie den Bestrebungen der Frauen nach Gleichheit und wirtschaftlicher Unabhängigkeit sind sich Moslembruderschaft und Militärrat einig in ihrer Ablehnung. In seiner ersten Rede an die Nation lobte Mursi die Revolution vom 25. Januar, aber auch den SCAF.

Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur MENA kam der Präsident am Tag nach der Verkündigung seines Wahlsiegs mit Feldmarschall Hussein Tantawi und dem stellvertretenden Vorsitzenden Generalleutnant Sami Anan und einer Reihe weiterer Militärratsmitglieder zusammen. Mursi hat dem SCAF offenbar „seinen aufrichtigen Respekt für dessen kluge Leitung des Landes in der letzten Zeit gezollt, für den Schutz Ägyptens vor vielen Gefahren und für die Achtung des freien Willens des großartigen ägyptischen Volkes“. Zudem hat er das SCAF „für seine Durchführung des Wahlvorgangs mit der äußersten Transparenz“ gelobt, „die es zu einem Modell für Demokratie und Fairness gemacht haben.“

Wer diesen Mann als eine Schranke für die Macht des Militärrats ansieht, zu seiner Wahl aufruft oder seinen Sieg feiert, gibt sich und andere einer furchtbaren Selbsttäuschung preis.

Natürlich ist es zunächst notwendig, den unmittelbaren Feind zu bekämpfen. Solange Tantawi und die Überbleibsel der Mubarak-Herrschaft Panzer, Gewehre, Gefangenenlager und Folterkammern kontrollieren, in denen noch viele HeldInnen der Revolution schmachten, sind sie die größte Gefahr. Wenn der SCAF es gewagt hätte, Schafiq zum Wahlsieger auszurufen, oder wenn er einen Militärputsch zum Sturz von Mursi organisieren würde, müssten RevolutionärInnen auch mit den AktivistInnen und AnhängerInnen der MB kämpfen, um die alten Machthaber zu bezwingen. Aber sie könnten und sollten dies tun, ohne für Mursi zu stimmen, ohne ihn in irgendeiner Art politisch zu unterstützen oder Vertrauen in ihn oder seine Regierung zu setzen. RevolutionärInnen würden allein die demokratischen Errungenschaften der Revolution vom 25. Januar, oder was der Militärrat davon noch übrig gelassen hat, schützen.

Misstrauen der Bevölkerung

Mit 51,7% gegen Schafiqs 48,3% (wenn diese Zahlen stimmen) weiß Mursi keineswegs die Mehrheit der ägyptischen Wahlbevölkerung hinter sich. Es gab nämlich massive Stimmenthaltungen von 53,8% im ersten Wahlgang und 48,1% im zweiten. Und das  Misstrauen der Bevölkerung ist wohlbegründet.

Mursis Sieg war keinen Deut wünschenswerter als einer für Schafiq. Der Wille der Mehrheit derjenigen, die gewählt hatten, durfte jedoch nicht durch eine Wahlkommission, die kein demokratisches Mandat hat, beiseite geschoben werden. Schafiq, der frühere Luftwaffenchef und Mubaraks letzter Premierminister, war der Kandidat des Militärs und stand für dessen Kontrolle über den gewaltigen Apparat von Korruption, Illegalität und Repression.

Hischam Fuad von den „Revolutionären Sozialisten Ägyptens“ sagte: „Falls Schafiq die Wahl gewonnen hätte, würde dies eine tiefe Demoralisierung ausgelöst haben.“ Stimmt das? Würde ein solch offensichtlicher Betrug nach der Auflösung des Parlaments wirklich die Jugend und ArbeiterInnen, die die Revolution gemacht haben, einschüchtern können? In den vergangenen anderthalb Jahren haben sie weit ärgere Rückschläge hinnehmen müssen. Es ist also wahrscheinlicher, dass eine Wahlfälschung eher eine noch stärkere Entladung des Zorns hervorgerufen hätte und auch die MB-Jugend sowie radikalere liberale und islamistische Kreise erfasst hätte.

Im Gegensatz dazu waren die Augen der Bruderschaftsführer auf die Präsidentschaft gerichtet, statt den kalten Putsch des Militärs zu beachten. Sie hielten ihre Gefolgschaft von Aktionen auf der Straße zurück und mobilisierten sie erst, als ihnen auch das Präsidentenamt streitig gemacht wurde. Selbst dann beschränkten sie sich auf Aufrufe zur Besetzung des Tahrir-Platzes. So bedeutsam der Platz als Sinnbild der Revolution auch sein mag - es war letztlich nicht die Platz-Besetzung, die Mubarak verjagte, sondern eine wachsende Streikwelle und der Ausbruch eines Aufstands der Bevölkerung in Kairo, Suez und den Industriezentren des Nildeltas.

Wenn die Wahlkommission Schafiq zum Sieger erklärt hätte, würde dies die Massen ermuntert statt entmutigt haben. Tantawi und Mursi wussten dies. Es hätte den Führern des MB und den salafistischen Parteien wie Al-Nur unmöglich gemacht, ihre Basis von der Teilnahme an einer erneuten Welle von Streiks und Demonstrationen abzuhalten. Wie im Januar 2011 würden sich die Generäle nicht auf ihre Truppen verlassen können, das Feuer auf die eigenen Leute zu eröffnen.

Mursi ist keineswegs eine Herausforderung für Feldmarschall Hussein Tantawi und den SCAF. Sie haben immer noch die Kontrolle über die Verfassungsgebung und verletzen damit elementar alle demokratischen Grundsätze. Ihr Oberstes Gericht hat die Befugnis, in die Neuwahlen des Parlaments einzugreifen. Mursi ist praktisch in seinem Präsidentenpalast gefangen, ein Vogel, der ein Loblied auf die Militärs aus einem goldenen Käfig zwitschert.

Die Führung der MB war schon unter Mubarak eine geduldete Opposition. Die Aktivisten der MB hingegen wurden eingekerkert und gefoltert. Der unbewegliche Charakter der Spitze wurde deutlich, als sie die Disqualifikation ihres zunächst aufgestellten Präsidentschaftskandidaten Khairat al-Schater, ein millionenschwerer Geschäftsmann und eigentliches Oberhaupt der Organisation, schluckte. Mursi dagegen ist ein zuverlässiger  Wasserträger.

Mursis Sieg war nicht das Resultat einer freien und fairen Wahl, er hat jedoch weit mehr ‚echte’ Stimmen bekommen als Schafiq. Noch weniger war es das Ergebnis der Mobilisierungen auf dem Tahrir-Platz. Sie spielten hierbei nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr wurde eine Woche lang hinter den Kulissen zwischen MB und SCAF gefeilscht. Der wirkliche MB-Chef Khairat al-Schater traf SCAF-Generäle, und Mohamed El Baradei, der frühere Vorsitzende der Internationalen Atomenergiebehörde, mimte den Vermittler. Die Generäle setzten sich durch. Mursi konnte nur unter einschränkenden Auflagen und im Rahmen des pseudo-legalen Verfassungsputsches in die Präsidentensuite einziehen.

Mehr Macht für das Militär

Der Staatsstreich nahm die Form einer Abänderung der Verfassungserklärung an, die am 30. März 2011 zurückverwiesen, vom SCAF diktiert und von der MB akzeptiert worden war. Nun zogen Tantawi und Co. die Fesseln fester, z.T. weil die MB einige ihrer früheren Versprechen - Parlament, Verfassunggebende Versammlung und Präsidentenamt nicht zu dominieren - gebrochen hatte. Mit dieser Änderung festigte der Militärrat seine rechtliche wie tatsächliche Kontrolle über das politische Leben in Ägypten. Obwohl der SCAF versprochen hatte, die Macht am 30. 6. 12 feierlich zu übergeben, begrenzt ihre Verfassungsänderung die Befugnisse des Präsidenten und beansprucht alle gesetzgeberische Macht, die Kontrolle über die Niederlegung der Verfassung und über den Staatshaushalt für den SCAF - zumindest, bis ein neues Parlament gewählt ist. Ihre Kontrolle ist umfassend:

Artikel 53 erweitert den ökonomischen und politischen Einfluss des Militärs, Artikel 53b des Erlasses erlaubt der Armee die Niederschlagung von Massenprotesten, die die Autorität der Generalität angreifen. “Wenn das Land von inneren Unruhen erschüttert wird, die den Einsatz von Streitkräften erfordern, kann der Präsident einen Beschluss herbeiführen, sie mit Billigung der SCAF zusammenzulegen, um die Sicherheit aufrecht zu erhalten und das öffentliche Eigentum zu verteidigen.“

Artikel 60b gestattet den Generälen, über die Zusammensetzung der Verfassunggebenden Versammlung zu entscheiden und den Entwurf einer neuen Verfassung zu kontrollieren. Darin ist niedergelegt, dass „die benannten SCAF-Mitglieder verantwortlich für die Beschlüsse zu allen Fragen der Streitkräfte sind einschließlich der Ernennung ihrer Führer und der Erweiterung von deren Amtsbefugnissen. Die gegenwärtige Leitung des SCAF ist befugt, als Oberbefehlshaber der Streitkräfte und des Verteidigungsministeriums zu handeln, bis eine neue Verfassung ausgearbeitet worden ist.“

Artikel 53/1 besagt: „der Präsident kann nur mit Billigung des Obersten Militärrats eine Kriegserklärung abgeben“.

Neue Lage

Die Lage für die Militanten in der neuen Gewerkschaftsbewegung und die jungen RevolutionärInnen, die wiederholt die Plätze besetzt haben, ist schwierig. Der große Optimismus von vor anderthalb Jahren, als viele glaubten, gesiegt zu haben, ist gewichen. Die heutigen Schwierigkeiten sind die Folge des unvollständigen Charakters der Januarrevolution und der folgenden Einbeziehung von Liberalen, der MB und selbst einigen jungen RevolutionärInnen in den „Demokratisierungsprozess“ seitens der Armee.

Dies hat sich schnell in eine Verhandlungsposse zwischen betrügerischen ‚Repräsentanten’ der Revolution, darunter die MB, und offenen Vertretern der Konterrevolution, die SCAF, verwandelt. Die Bruderschaft und die Liberalen haben beide nach ihren Wünschen gehandelt, als sei die Revolution vorüber.

Die jungen RevolutionärInnen waren außerstande, sich in einer revolutionär-sozialistischen Partei zusammenzuschließen und sich tief in der Arbeiterklasse zu verankern. Dass die Revolution keinen Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen hervorgebracht hat, ist ein Maßstab, wie weit sie noch von ihren Zielen entfernt ist.

In Wirklichkeit gab es weder eine demokratische Verfassung noch eine legitime Justiz. Statt die Mörder der alten Regierung vor Bevölkerungstribunale zu stellen und für ihre Verbrechen abzuurteilen, wurden RevolutionärInnen zu Tausenden bestraft. Die Revolution hatte nicht triumphiert. Gleichermaßen konnte es keine freien und fairen Wahlen geben, zumal die ganze Registrierung der Kandidaten fest in Händen der korrupten alten Herrschaft lag. Entweder die Revolution schafft eine neue Gesetzlichkeit und fegt die alte Ordnung hinweg, oder sie kann (noch) nicht siegreich sein. Die falschen RevolutionärInnen spielten bewusst oder unbewusst Tantawi und dem SCAF mit ihrem schwindlerischen Konstitutionalismus in die Hände.

Die Revolution permanent machen!

Die Folgen sind der lebende Beweis, dass nur die Arbeiterklasse durch Massenaktionen und Gewinnung der Mannschaftsgrade der Armee und durch die Machtübernahme die grundlegendsten demokratischen Aufgaben vollenden kann. Nichtsdestotrotz ist die Revolution noch keineswegs besiegt. Die fortgesetzten Spaltungen zwischen zivilen und militärischen Kräften der Konterrevolution können der Arbeiterklasse und der Jugend Gelegenheit geben, als unabhängige Kraft aufzutreten. Viele der brennenden Fragen sind demokratischer Art: der Militärrat muss von der Macht verjagt werden, alle Richter, Polizeichefs und Spitzenbürokraten der alten Herrschaft müssen hinaus gesäubert werden, die Arbeiter- und revolutionären Jugendorganisationen müssen beauftragt werden, Wahlen für eine souveräne Verfassunggebende Versammlung einzuberufen, statt das islamistisch dominierte Parlament wieder herzustellen.

Dazu ist eine revolutionäre Arbeiterpartei notwendig, die eine Strategie hat, um den ungebrochenen Zusammenhang zwischen den demokratischen Aufgaben und den sozialistischen Zielen der Revolution auszudrücken.

Anhang: Die Haltung der „Revolutionären SozialistInnen“ (Internationale Sozialistische Tendenz, in Deutschland Marx21)

Die „Revolutionären SozialstInnen“ (RS), eine ägyptische Organisation, die mit der „Internationalen Sozialistischen Tendenz“ (IST) verbunden ist, geführt von der britischen „Socialist Workers Party“ (SWP), hat die Wahl Mursis zum Präsidenten als ‚revolutionären Sieg’ begrüßt. Das ist ein Skandal für alle Menschen, die sich als MarxistInnen und LeninistInnen begreifen.

Genau das Gegenteil ist der Fall! Mursis Wahl war ein Sieg für die demokratische Konterrevolution, die zudem nur auf tönernen Füßen dem Militär gegenüber steht. In einer Erklärung vom 24. Juni 2012 schrieben die „Revolutionären SozialistInnen“:

„Wir sollten heute optimistisch sein, denn unsere Revolution hat einen wichtigen Sieg auf dem Weg errreicht, indem Schafiq besiegt wurde, aber es stehen uns noch schicksalhafte Herausforderungen bevor.“

Die Entscheidung, einen konservativen, noch nicht einmal liberalen Kandidaten einer bürgerlichen Partei, ‚kritisch’ zu unterstützen, macht die Sache noch schändlicher. Die Ausrede der SWP, dies sei gleichbedeutend mit der Unterstützung für Labour oder sozialdemokratische Parteien, um sie besser entlarven zu können, lässt einen winzigen Punkt außer Acht: die Klassenfrage. Jene Parteien, obschon bürgerlich in ihrer Politik, sind nichtsdestotrotz in Anbetracht ihrer Herkunft und Verbindungen zur Arbeiterbewegung ein Produkt des proletarischen Klassenkampfs. Deshalb werden sie von der Arbeiterklasse als ‚ihre’ Parteien, als (bürgerliche) Arbeiterparteien angesehen.

Wenn MarxistInnen diese Parteien als „reformistisch“ bezeichnen, meinen sie damit, dass diese Parteien trotz des bürgerlichen Klassencharakters auch aus der Erkenntnis erwachsen sind, dass die Arbeiterklasse ihre eigenen gesonderten Interessen hat, unabhängig von denen der herrschenden Klasse. Aber diese Organisationen verfolgen die Strategie, diese besonderen Interessen durch Reformen zu sichern.

Solche Voraussetzungen erfüllt die Moslembruderschaft nicht, selbst wenn sie ‚reformistisch’ im Sinne von Versprechungen für Reformen bei den sozialen Verhältnissen der Massen ist. Die meisten liberalen Parteien wie die Demokratische Partei in den USA versprechen ähnliche Reformen, und große Teile der Arbeiterschaft haben Illusionen, dass sie einige ihrer Versprechen halten werden.

Für RevolutionärInnen heißt der Grundsatz „Unabhängigkeit der Klasse“ und darum keine Stimmabgabe für kapitalistische Parteien. Die MB macht keinen Hehl aus ihrer Gefolgschaft gegenüber dem Kapitalismus und vertritt einen Großteil der ägyptischen Bourgeoisie.

Angesichts der Mobilisierung der MB-AnhängerInnen auf dem Tahrir-Platz als Bühnenarmee, um Tantawi zu schrecken und die leere Hülse der ausübenden Gewalt zu erhalten, um sie dann nach ein paar Freudenfeuern wieder zu demobilisieren, mutet die RS-Erklärung grotesk an:

„Einmal mehr haben die EinwohnerInnen bewiesen, dass sie immer noch in der Lage sind, alle Verschwörungen des Militärs und der Kräfte der Konterrevolution zu durchkreuzen. Sie haben bewiesen, dass revolutionäre Legitimität imstande ist, die verdienten Früchte unserer demokratischen und sozialen Revolution zu ernten. Hier können wir sehen, wie die Pläne des Militärrats vor unseren Augen, selbst wenn vorübergehend, unter dem Druck der EinwohnerInnen und ihrer Standhaftigkeit auf dem Platz  zunichte werden.“

Mursis Sieg wird überschwänglich gefeiert, obwohl keine der SCAF-Putschaktionen zurückgenommen worden ist, und es muss angenommen werden, dass deren Duldung bzw. halbherzige Zustimmung durch Präsident Mursi ein untrennbarer Bestandteil des durch El Baradei vermittelten Geheimabkommens ist. Zwar listet die RS die sieben wichtigsten Maßnahmen auf, für die die Massen kämpfen sollen, aber Mursis Sieg ist genau ein Hindernis für diesen Kampf und sollte auch als solches bezeichnet werden.

Die IST und ihre Führungskraft SWP haben immer wieder verhängnisvolle Fehler in puncto Islamismus gemacht. Dies ist zurückzuführen auf ihre grundsätzliche Analyse zu diesem Thema in ihrem Buch „Der Prophhet und das Proletariat“ (1994) vom inzwischen verstorbenen Chris Harman. Dort schreibt er, der Grundsatz solle sein: „Wo die Islamisten in der Opposition sind, sollte unsere Maßgabe sein: mit den Islamisten gelegentlich, mit dem Staat nie.“

So anziehend die Einfachheit dieser Aussage scheinen mag, als politisches Prinzip taugt sie nicht; weder ‚mit’ noch ‚gelegentlich’ sagt es etwas aus über revolutionäre Taktik und die Anwendung der Einheitsfront. Natürlich kommt es für MarxistInnen nicht in Frage, einen bürgerlichen Staat zu unterstützen, wenn er islamistische Parteien angreift und es gibt auch keine Einwände gegen gemeinsame Aktionen mit islamistischen Kräften für Ziele im demokratischen und Arbeiterinteresse. Aber das entscheidende Element der revolutionären Anwendung der Einheitsfront ‚getrennt marschieren, vereint schlagen’, bedeutet, dass die vollständige Unabhängigkeit des Programms und der Organisation gewahrt bleibt. Eine unverhohlene Kritik aller Schwankungen und Kompromisse bei den Einheitsfront-Verbündeten ist dabei unerlässlich.

Jede Anwendung der Einheitsfronttaktik muss darum eine Übereinstimmung von Programmpunkten wie die Verteidigung von demokratischen Rechten oder den Widerstand gegen den Imperialismus und seine Agenten voraussetzen - doch in der Frage der Regierung kann es keine Übereinstimmung im Programm von Arbeiterklasse und Bourgeoisie geben. Deshalb können niemals bürgerliche Kandidaten oder Parteien unterstützt werden.

In den kommenden Wochen und Monaten müssen RevolutionärInnen in Ägypten das Schwergewicht auf die Stärkung von Arbeiterorganisationen legen, besonders von Gewerkschaften aber auch Frauen- und Jugendorganisationen und deren Zusammenführung in Arbeiterräten. Dabei muss jeder Raum genutzt werden, den die Koexistenz von Militärrat und MB in der Regierung bietet. Noch wichtiger: diejenigen Kräfte, die erkannt haben, dass es über demokratische und wirtschaftliche Fragen hinaus einer unabhängigen Arbeiteraktion zum Sturz der kapitalistischen Herrschaft durch Arbeiterräte bedarf, müssen sich in einer revolutionären Partei formieren, die dieses Ziel unbeirrbar verfolgt.

Das Eintreten für die Unabhängigkeit der Arbeiterklasse ist durch die Wahlkampagne zurückgedrängt worden. Bei den Wahlen durften Parteien nicht auf Klassengrundlage kandidieren, weil der SCAF sie als spalterisch für die Nation ausschloss. Dieselben Argumente werden nun von der MB benutzt, womit Streiks und Klassenmobilisierungen als ‚Bedrohung unserer Regierung’ unterbunden werden sollen. Die Taktik der RS bei den Wahlen stärkt objektiv dieses Argument. Die islamistisch beeinflussten ArbeiterInnen werden ihre Opposition gegen Streiks und Demos gegen Mursi damit begründen: „Ihr habt uns gesagt, wir sollen für ihn stimmen, jetzt müssen wir ihn im Amt halten.“

Nichtsdestotrotz werden Streiks und Verteidigungsmaßnahmen für demokratische Rechte zweifelsohne unter Teilnahme der GenossInnen der RS ergriffen, und sie werden auch wie zuvor ihr Leben dafür einsetzen. Ihr Einsatz im Klassenkampf und für die Bildung einer revolutionären Führung ist unbestritten trotz ihrer taktischen Irrtümer und ihrer Fehleinschätzung zum Wahlausgang. Aber diese Fehler werden diese Aufgabe erschweren, ja ihre Erfüllung verunmöglichen. Um einen korrekten politischen Kurs einzuschlagen, ist eine korrekte Einschätzung der Lage unabdingbar. Es ist die Pflicht aller InternationalistInnen, zur Klärung der revolutionären Strategie in Ägypten beizutragen, dem Schlüsselland in der arabischen Welt.

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Nr. 171, Juli/Aug. 2012
*  Fiskalpakt: Durchmerkeln in der Krise
*  Heile Welt
*  Gewerkschaftslinke: Neustart für Opposition?
*  Verfassungsschutz-Skandal: Pleiten, Pech und Pannen?
*  Energiewende: Windkraft und heiße Luft
*  Berlin: Wir bleiben alle!
*  Politisch-ökonomische Situation: Klassenkampf im Herzen der Bestie
*  Präsidentschaftswahlen in Ägypten: Doppelte Niederlage der Revolution
*  Lage der Frauen in Brasilien: Kleine Erfolge, große Probleme
*  Sommerspiele 2012: Olypmia-Wahnsinn
*  Jugend: Wie weiter im Kampf gegen Bildungsabbau?
*  Griechenland: Perspektiven des Klassenkampfes
*  Strategie: Griechenland und europäische Revolution
*  Solidaritätskomitees mit der griechischen Arbeiterklasse aufbauen!



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