„Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstands
gegen die Gewalttaten des Kapitals. Sie verfehlen ihren Zweck zum Teil,
sobald sie von ihrer Macht einen unsachgemäßen Gebrauch machen. Sie
verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken,
einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen,
statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten
Kräfte zu gebrauchen als Hebel zur schließlichen Befreiung der
Arbeiterklasse, d.h. zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems."
(1)
Diese abschließende Bemerkung von Karl Marx aus dem Jahre 1865 - aus
einer Rede, die später unter dem Titel „Lohn, Preis, Profit"
bekannt wurde – ist sicher vielen Lesern und Leserinnen bekannt. Wir
stellen sie an den Beginn unserer Ausführungen, da sie bereits
wesentliche Bestimmungen der Haltung von Kommunisten zu den Gewerkschaften
und kommunistischer Gewerkschaftsarbeit enthält.
Marx hat diese Rede sowohl als theoretischen Nachweis der Berechtigung
des gewerkschaftlichen Kampfes wie seiner politischen Notwendigkeit
gehalten. Sie war eine politische Demarkierung gegenüber zwei politischen
Fehlern, die in der Arbeiterbewegung in den letzten 150 Jahren in
verschiedenen Formen immer wieder auftraten – gegenüber dem
Abstentionismus vom gewerkschaftlichen/ökonomischen Kampf und gegenüber
dem „reinen" Gewerkschaftertum.
Abwehrorganisation und Sammlungspunkte des Widerstandes
Gewerkschaften sind aus dem Widerstand gegen die tag-täglichen
Angriffe der Unternehmer hervorgegangen und Organisationen, um die
Konkurrenz unter den Lohnabhängigen abzumildern und kollektiv gegen den
oder die Kapitalisten aufzutreten, um das Sinken das Arbeitslohns unter
die Reproduktionskosten zu verhindern (bzw. überhaupt erst auf diese
Höhe zu heben).
In dieser Hinsicht sind Gewerkschaften Sammelpunkte von Widerstand, wie
jeder Streik, jeder Arbeitskampf eine „Schule" für den
zukünftigen Kampf gegen die geballte Staatsgewalt ist. Solange die
kapitalistische Produktionsweise existiert, ist der ökonomische Kampf mit
den Unternehmern für die Arbeiterklasse unvermeidbar, ganz unabhängig
davon, ob es dieser oder jener Lohnabhängige will oder nicht. Die
Ursprünge der Gewerkschaften wie auch typisch gewerkschaftlicher
Kampfformen (Streik) reichen daher auch in die Anfangszeiten der
kapitalistischen Produktionsweise zurück.
Dieser aufgezwungene Charakter des gewerkschaftlichen Kampfes zeigt
sich auch daran, dass liberale und christlich-soziale Gewerkschaften trotz
aller Appelle an „Vernunft", „christliche Nächstenliebe"
und „Produzentenverantwortung" des Kapitalisten zum Mittel des
Streik greifen mussten, um ihrer Aufgabe als anti-sozialistische
Konkurrenz zu den Freien Gewerkschaften im 19. Jahrhundert überhaupt
nachkommen zu können. Um die eigentlichen Ursachen des gewerkschaftlichen
Kampfes zu verstehen, ist jedoch ein Verständnis des Charakters der
kapitalistischen Produktionsweise notwendig.
Trotz aller inneren Differenzierung des Proletariats, trotz seiner
ständigen Umwälzung gemäß der Bewegung der Akkumulation, ist es in der
kapitalistischen Produktionsweise als Klasse doppelt freier Lohnarbeiter
immer durch zwei Charakteristika gekennzeichnet. Erstens ist die
Arbeiterklasse frei von den Bindungen feudaler oder anderer
vor-kapitalistischer Produktionsweisen. Zweitens ist sie frei vom Eigentum
an den Produktionsmitteln der Gesellschaft. Ihr Arbeitsvermögen, ihre
Arbeitskraft müssen die Arbeiter und Arbeiterinnen daher verkaufen. Nur
so können sie die Waren kaufen, die zur Reproduktion des einzelnen
Proletariers wie der gesamten Klasse notwendig sind.
Der Wert der Arbeitskraft ist wie der jeder anderen Ware durch die zu
ihrer Produktion notwendige Arbeitszeit bestimmt. Er tendiert daher immer
zu jenem Wert, der dem der Waren entspricht, die für die Lebenserhaltung
der Arbeiter und Arbeiterinnen dienen. Für Marx schließt das auch die
Kosten für die Schaffung und Erhaltung zukünftiger Arbeiter und
Arbeiterinnen ein, also auch für nicht erwerbstätige Familienangehörige
und Kinder. Für unsere Ausführungen ist jedoch besonders bedeutsam, dass
sich die Wertbestimmung der Arbeitskraft bei Marx an einem wichtigen Punkt
von der Wertbestimmung anderer Waren unterscheidet:
„Die natürlichen Bedürfnisse selbst, wie Nahrung, Kleidung,
Heizung, Wohnung usw., sind verschieden je nach den klimatischen und
andren natürlichen Eigentümlichkeiten eines Landes. Andrerseits ist der
Umfang sog. notwendiger Bedürfnisse, wie die Art ihrer Befriedigung,
selbst ein historisches Produkt und hängt daher großenteils von der
Kulturstufe eines Landes, unter andrem auch wesentlich davon ab, unter
welchen Bedingungen, und daher mit welchen Gewohnheiten und
Lebensansprüchen die Klasse der freien Arbeiter sich gebildet hat. Im
Gegensatz zu den andren Waren enthält also die Wertbestimmung der
Arbeitskraft ein historisches und moralisches Element. Für ein bestimmtes
Land, zu einer bestimmten Periode jedoch, ist der Durchschnitts-Umkreis
der notwendigen Lebensmittel gegeben." (2)
Kapitalist und Arbeiter verhalten sich am Arbeitsmarkt als formal
gleiche Warenbesitzer zueinander. Wie in jedem Tauschakt versucht jeder
das für ihn Beste zu erreichen und verfolgt nur seinen Eigennutz.
Der Kapitalist versucht, den Preis, den er für die Arbeitskraft, zahlt
auf sein Minimum oder darunter zu drücken. Die Reduzierung unter sein
Minimum bedeutet, dass die Arbeiterklasse physisch schneller „erschöpft"
wird, als sie sich selbst reproduzieren kann. In den Frühphasen der
kapitalistischen Produktion war ein großer Teil des gesamten Proletariats
gezwungen, unter solchen Bedingungen zu existieren. Ähnliches gilt im
Faschismus für große Teile der Arbeiterklasse, v.a. das System der
Zwangsarbeit, oder auch für die halb-kolonialen Ausbeutungssysteme des
imperialistischen Kapitals.
Der Kapitalismus als ein krisengeschütteltes System ist unfähig, das
ganze Potential der Arbeitskraft kontinuierlich in die Produktion
einzubinden. Als Resultat schafft er eine „industrielle
Reservearmee", die Arbeitslosen. Diese Reservearmee schrumpft oder
wächst mit den Booms und Krisen des Kapitalismus.
All das zeigt schon, dass die formale Gleichheit des Kapitalisten mit
dem Arbeiter einhergeht mit realer Ungleichheit, mit der Klassenspaltung
der Gesellschaft. Die Arbeiter besitzen nur ihre Arbeitskraft, während
das Kapital über das Monopol an den Produktionsmitteln verfügt. Daher
wandelt sich das Bild der Freiheit und Gleichheit am Arbeitsmarkt, sobald
die Arbeitskraft verkauft ist:
„Beim Scheiden von dieser Sphäre der einfachen Zirkulation oder des
Warenaustausches, woraus der Freihändler vulgaris Anschauungen, Begriffe
und Maßstab für sein Urteil über die Gesellschaft des Kapitals und der
Lohnarbeit entlehnt, verwandelt sich, so scheint es, schon in etwas die
Physiognomie unsrer dramatis personae. Der ehemalige Geldbesitzer
schreitet voran als Kapitalist, der Arbeitskraftbesitzer folgt ihm nach
als sein Arbeiter; der eine bedeutungsvoll schmunzelnd und
geschäftseifrig, der andre scheu, widerstrebsam, wie jemand, der seine
eigne Haut zu Markt getragen und nun nichts andres zu erwarten hat als die
- Gerberei." (3)
Mehr noch aus der formalen Gleichberechtigung der Ansprüche von
Kapitalist und Arbeiter als Warenbesitzer, die gegeneinander ihre
Ansprüche geltend zu machen versuchen, folgt, dass sich der Stärkere
durchsetzen muss: Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt!
„Von ganz elastischen Schranken abgesehn, ergibt sich aus der Natur
des Warenaustausches selbst keine Grenze des Arbeitstags, also keine
Grenze der Mehrarbeit. Der Kapitalist behauptet sein Recht als Käufer,
wenn er den Arbeitstag so lang als möglich und womöglich aus einem
Arbeitstag zwei zu machen sucht. Andrerseits schließt die spezifische
Natur der verkauften Ware eine Schranke ihres Konsums durch den Käufer
ein, und der Arbeiter behauptet sein Recht als Verkäufer, wenn er den
Arbeitstag auf eine bestimmte Normalgröße beschränken will. Es findet
hier also eine Antinomie statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig
durch das Gesetz des Warenaustausches besiegelt. Zwischen gleichen Rechten
entscheidet die Gewalt. Und so stellt sich in der Geschichte der
kapitalistischen Produktion die Normierung des Arbeitstags als Kampf um
die Schranken des Arbeitstags dar - ein Kampf zwischen dem
Gesamtkapitalisten, d.h. der Klasse der Kapitalisten, und dem
Gesamtarbeiter, oder der Arbeiterklasse."(4)
Der individuelle Arbeiter ist dabei gegen den Kapitalisten immer in der
ungünstigeren Position. Die Lohnabhängigen müssen zum Widerstand und
zur Organisierung greifen, schon allein, um sich gegen ihren eigenen Ruin
zu wehren und die Arbeitskraft überhaupt zu ihrem Wert verkaufen zu
können. Die Organisierung der Arbeiter in Gewerkschaften wie der
Lohnkampf überhaupt verletzten daher keineswegs das Wertgesetz und
treiben auch nicht den Preis der Arbeitskraft über sein „natürliches
Gleichgewicht" hinaus, wie es der neo-liberalen Doktrin zufolge
geschehe. Im Gegenteil:
„Das Lohngesetz wird durch den gewerkschaftlichen Kampf nicht
verletzt; im Gegenteil, er bringt es voll zur Geltung. Ohne den Widerstand
durch die Trade-Unions erhält der Arbeiter nicht einmal das, was ihm nach
den Regeln des Lohnsystems zusteht." (5)
Die Tatsache, dass der Wert der Ware Arbeitskraft auch durch „moralische
und historische" Elemente mitbestimmt, dass die Durchsetzung des
Wertgesetzes den Lohnkampf durchaus mit einschließt, bedeutet auch eine
klare Absage an alle Vorstellungen von einem starr vorgegebenen
Lohnsystem, etwa einen fixen Preis der Arbeitskraft oder einen
unverkürzten Arbeitsertrag.
Marx und Engels haben die Entstehung der Gewerkschaften gegen solche
früh-sozialistischen oder Lassalleanischen Kritiken verteidigt. Viele
Frühsozialisten hatten argumentiert, dass der Preis der Arbeitskraft als
fixe Größe zu betrachten sei, sodass jede Lohnsteigerung unwillkürlich
von einer Steigerung der Warenpreise kompensiert würde. Daher müsste
jeder Sieg an der Lohnfront unwillkürlich im Nichts enden und alle Mühen
der streikenden und demonstrierenden Arbeiter wären vergebens.
Bei solchen Auffassungen – egal ob im Lasselleanischen oder
frühsozialistischen Gewand – ist natürlich kein Platz für den
gewerkschaftlichen Klassenkampf. Er wird als Ablenkung von der
Verwirklichung eigener Patentrezepte betrachtet – so die
Lasselleanischen Staatshilfe zur Durchsetzung des „unverkürzten"
Arbeitsertrags oder zur Proudhonschen Tauschbank. Auch wenn sich solche
Weisheiten zeitweilig großer Popularität erfreuen durften (oder
dürfen), so tragen sie immer eine sektenhaften Charakter, dem der Wunsch
Pate steht, den Werdegang der Arbeiterbewegung nach illusorischen
Vorstellungen über die kapitalistische Produktionsweise zu modeln.
Die Methode von Marx und Engels (wie aller großer marxistischer
Autoren und Autorinnen) war dieser ganz und gar entgegengesetzt. Der
gewerkschaftliche Kampf war von ihnen nicht erfunden worden. Es galt
vielmehr seine innere Widersprüchlichkeit und seinen Stellenwert im
Befreiungskampf der Arbeiterklasse zu bestimmen.
Die Marx’sche Entgegnung gegen die früh-sozialistischen Kritiker des
Lohnkampfes bezog sich daher auf mehrere Ebene. Er wies ihnen eine zu
Wesen und Erscheinung des Kapitalismus in Widerspruch stehende Vorstellung
des Verhältnisses von Arbeitslohn und Preisen für andere Produkte nach.
Andererseits greift er ihre Vorstellung auf und wendet sie gegen sie. Wenn
der Arbeitslohn wirklich eine konstante Größe wäre, die über ein
bestimmtes Niveau nicht hinaus könne, so dürfe er im Verhältnis zu den
Warenpreisen auch nicht fallen.
Diese Fortsetzung des Gedankens frühsozialistischer Theoretiker
(beispielsweise durch Anhänger Owens in der Gründungsphase der Ersten
Internationale), der so manchem „Linksradikalen" auch heute noch
leicht von den Lippen geht, zeigt, wie offenkundig absurd die Vorstellung
eines konstanten Lohn-Preis-Verhältnisses ist.
Marx weist darauf jedoch nicht nur hin, um die Frühsozialisten zu
blamieren. Er macht vor allem auf einen Punkt aufmerksam, der von der
Geschichte des gewerkschaftlichen Kampfes eindeutig bestätigt wurde. Der
Kampf um ausreichende Löhne, Begrenzung des Arbeitstages, Arbeitsschutz,
Verbot von Kinderarbeit usw. also um alle ökonomischen Forderungen ist
seinem Wesen nach ein reaktiver Kampf. Das folgt aus dem Verhältnis von
Kapitalakkumulation und Lohnbewegung selbst – die Lohngröße
(Gesamtsumme der Löhne der Klasse) ist abhängig von der Größe der
Akkumulation.
„Das Verhältnis zwischen Kapital, Akkumulation und Lohnrate ist
nichts als das Verhältnis zwischen der unbezahlten, in Kapital
verwandelten Arbeit und der zur Bewegung des Zusatzkapitals erforderlichen
zuschüssigen Arbeit. Es ist also keineswegs ein Verhältnis zweier
voneinander unabhängigen Größen, einerseits der Größe des Kapitals,
andrerseits der Zahl der Arbeiterbevölkerung, es ist vielmehr in letzter
Instanz nur das Verhältnis zwischen der unbezahlten und der bezahlten
Arbeit derselben Arbeiterbevölkerung. Wächst die Menge der von der
Arbeiterklasse gelieferten und von der Kapitalistenklasse akkumulierten,
unbezahlten Arbeit rasch genug, um nur durch einen außergewöhnlichen
Zuschuß bezahlter Arbeit sich in Kapital verwandeln zu können, so steigt
der Lohn, und alles andre gleichgesetzt, nimmt die unbezahlte Arbeit im
Verhältnis ab. Sobald aber diese Abnahme den Punkt berührt, wo die das
Kapital ernährende Mehrarbeit nicht mehr in normaler Menge angeboten
wird, so tritt eine Reaktion ein: ein geringerer Teil der Revenue wird
kapitalisiert, die Akkumulation erlahmt, und die steigende Lohnbewegung
empfängt einen Gegenschlag. Die Erhöhung des Arbeitspreises bleibt also
eingebannt in Grenzen, die die Grundlagen des kapitalistischen Systems
nicht nur unangetastet lassen, sondern auch seine Reproduktion auf
wachsender Stufenleiter sichern. Das in ein Naturgesetz mystifizierte
Gesetz der kapitalistischen Akkumulation drückt also in der Tat nur aus,
daß ihre Natur jede solche Abnahme im Exploitationsgrad der Arbeit oder
jede solche Steigerung des Arbeitspreises ausschließt, welche die stetige
Reproduktion des Kapitalverhältnisses und seine Reproduktion auf stets
erweiterter Stufenleiter ernsthaft gefährden könnte." (6)
Marx bestimmt an diese Stelle sowohl das Verhältnis von Lohnbewegung
und Akkumulation wie er gleichzeitig die Grenzen des Lohnkampfes ausmacht.
Die gewerkschaftliche Arbeit – so unentbehrlich sie auch ist – darf
daher nicht auf den „Kleinkrieg" mit dem Kapital beschränkt
bleiben.
Gewerkschaftliches Bewusstsein
Marx und Engels betrachteten die Gewerkschaften als einen bedeutenden
ersten Schritt für die Arbeiterklasse nicht nur in der Werdung von einer
Klasse an sich zu einer Klasse für sich, die sich ihrer Bedürfnisse und
Ziele bewusst ist. In „Die Lage der arbeitenden Klasse in England"
nimmt Engels positiv zur Entstehung der Gewerkschaften Stellung. Er
begrüßt sie, weil sie eine praktische Wirkung haben und sie überhaupt
die Reproduktion und Kampffähigkeit der Klasse einigermaßen sichern. Die
Arbeiter, so Engels, haben hier den wunden Punkt der Bourgeoisie
getroffen, wenn sie ihr mit Streiks die Möglichkeit zur Profitmacherei
entziehen.
Er zieht gleichzeitig die Schlussfolgerung, dass zum Sturz der
bürgerlichen Herrschaft mehr als nur Gewerkschaften und Streiks notwendig
sein werden (und zwar Arbeiterpartei – Chartismus – und Aufstand). Vor
allem erblickt er die „eigentliche Wichtigkeit" nicht im Erfolg
dieses oder jenes Kampfes, sondern im „Versuch der Arbeit, die
Konkurrenz aufzuheben. Sie (die Gewerkschaften, Anm. d. Red.) setzen die
Einsicht voraus, daß die Herrschaft der Bourgeoisie nur auf der
Konkurrenz der Arbeiter unter sich beruht." (7) Engels prägt hier
auch das später von Kommunisten und Kommunistinnen immer wieder erhobene
Schlagwort, dass Streiks und Gewerkschaften „Kriegsschulen der
Arbeiter" (8) sind bzw. werden sollen.
Gewerkschaften repräsentieren den ersten, direktesten Versuch der
Arbeiter, die Angriffe des Kapitals auf ihre unmittelbarsten Interessen
unwirksam zu machen. Ihre Essenz, Vereinigung und Solidarität, ist der
Beginn des Klassenbewusstseins. Trotzdem sind sie nur ein beschränkter
und einseitiger Versuch, den Angriffen des Kapitals Einhalt zu bieten.
Marx und Engels waren zwar glühende Verteidiger der Notwendigkeit von
Gewerkschaften, aber sie waren keineswegs für die Schwächen und
Unzulänglichkeiten diese Organisationen und ihrer Führer blind. Würden
sich Gewerkschaften nur auf den Kleinkrieg beschränken, würden sie ihren
eigentlichen Sinn, d.h. ihre Rolle für den Kampf gegen das System der
Lohnarbeit, verlieren.
Marx fasst seine Perspektiven für die Arbeit und Analyse der
Gewerkschaften in seinen „Instruktionen für die Delegierten des
Zentralrats" zusammen, die er für den ersten Kongress der
Internationalen Arbeiterassoziation im September 1866 in Genf verfasste
und die dort als Bericht des Zentralrates der Internationale verlesen
wurden.
Ein Teil widmete sich speziell den Gewerkschaften (Gewerksgenossenschaften).
Er wurde gegen den Widerstand der Anhänger Proudhons, die immerhin ein
Drittel der Delegierten stellten, angenommen.
Marx kritisiert darin die Gewerkschaften und wirft ihnen vor, sich „zu
ausschließlich mit dem lokalen und unmittelbaren beschäftigt und noch
nicht vollständig begriffen zu haben, welche Kraft sie im Kampf gegen das
System der Lohnsklaverei selbst darstellen." Sie hätten sich deshalb
„zu fern von allgemeinen sozialen und politischen Bewegungen
gehalten." Sie müssten nun lernen „bewusst als organisierende
Zentren der Arbeiterklasse zu handeln, im großen Interesse ihrer
vollständigen Emanzipation." Sie müssen versuchen, „Außenstehende
in ihre Reihen zu ziehen, sich um die Interessen der am schlechtesten
bezahlten Gewerbe kümmern."
Marx schließt das Kapitel mit einem flammenden revolutionären Appell
an die Gewerkschaften: „Sie müssen die ganze Welt zur Überzeugung
bringen, daß ihre Bestrebungen, weit davon entfernt, begrenzte und
selbstsüchtige zu sein, auf die Emanzipation der unterdrückten Millionen
gerichtet sind." (9)
Marx und Engels kombinieren diese Perspektive mit einer Kampagne zur
verstärkten Politisierung der Arbeiterbewegung. Sie stellen dabei nicht
nur die zentrale Bedeutung des revolutionären Endziels, der
sozialistischen Revolution auf. Sie treten insbesondere dafür ein,
zentrale politische Fragen der 1860er Jahre mit dem gewerkschaftlichen
Kampf zu verbinden: die Frage der Immigration und der Konkurrenz zwischen
den Arbeitern verschiedener Länder, die Unterstützung der Nordstaaten im
amerikanischen Bürgerkrieg, die Befreiung Polens, die Unabhängigkeit
Irlands.
Es ist kein Zufall, dass die Erste Internationale an diesen Fragen des
Internationalismus nach der Niederlage der Pariser Kommune zerbrach. Es
zeigt jedoch sehr deutlich, dass Marx und Engels nie Freunde des „reinen"
Gewerkschaftertums waren und ebenso wenig auf die „automatische"
Politisierung der Gewerkschaften hofften.
Dass sich die Gewerkschaften zu sehr auf den Tageskampf konzentrieren,
war ja nicht das Resultat bösen Willens, sondern spiegelte auch den
Charakter des ökonomischen Kampfes wider. Dieser spielt sich in der Regel
im Rahmen des Systems ab, wie Marx und Engels selbst erkannten und auch
als Ausgangspunkt akzeptierten. Das folgt aus ihrer eigenen Analyse der
kapitalistischen Produktionsweise.
Auf dem Arbeitsmarkt treten Lohnarbeiter und Kapitalist (bzw.
Gewerkschaften und Unternehmerverbände) als Warenbesitzer gegenüber, als
Käufer und Verkäufer der Arbeitskraft. Dieses Verhältnis zwischen
Käufer und Verkäufer erscheint jedoch notwendigerweise in mystifizierter
Form. Es scheint als würde der Kapitalist nicht den Wert der
Arbeitskraft, sondern die gesamte, vom Arbeiter verrichtete Arbeit
bezahlen. Es „verschwindet" die Mehrarbeit. „Ausbeutung"
erscheint hier nur als Abzug vom „gerechten Lohn", nicht als
systematische Aneignung fremder Arbeit durch den Kapitalisten. Diese
Verwandlung des Werts der Ware Arbeitskraft in den Arbeitslohn hat
nachhaltige Auswirkungen auf das Bewusstsein der Arbeiter wie der
Kapitalisten.
„Auf dieser Erscheinungsform, die das wirkliche Verhältnis
unsichtbar macht und gerade sein Gegenteil zeigt, beruhn alle
Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten, alle
Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre
Freiheitsillusionen, alle apologetischen Flausen der
Vulgärökonomie." (10)
Es folgt daraus auch, warum aus dem ökonomischen Kampf um höhere
Löhne, Arbeitszeitverkürzung etc. revolutionäres Klassenbewusstsein
nicht organisch erwachsen kann, warum revolutionäres Klassenbewusstsein
„von außen", d.h. auf der Grundlage einer wissenschaftlich
fundierten Doktrin in die Arbeiterklasse hineingetragen werden muss.
Diesen Gedanken wiederholt Lenin später eindruckvoll in „Was
Tun?", wenn er die Grenzen des spontanen wirtschaftlichen Kampf, des
reinen Gewerkschaftertums herausarbeitet. An sich waren die Gewerkschaften
keine Agenturen für die Beseitigung des Kapitalismus selbst. Hier liegt
die historische Beschränktheit des „reinen Gewerkschaftlertums".
Dennoch, sie dienen und dienten als Zentren für die Organisierung der
Arbeiterklasse als eine Klasse im Kapitalismus. Es war dieses dialektische
Verständnis des Charakters der Gewerkschaften, auf der die marxistische
Tradition ihre Strategie und Taktiken für ihre Arbeit in den
Gewerkschaften entwickelte. Rosa Luxemburg bekräftigte die Position von
Marx und Engels über die bedeutende, aber begrenzte Wirksamkeit der
Gewerkschaftsaktion:
„In beiden wirtschaftlichen Hauptfunktionen verwandelt sich also der
gewerkschaftliche Kampf in eine Art Sisyphusarbeit. Diese Sisyphusarbeit
ist allerdings unentbehrlich, soll der Arbeiter überhaupt zu der ihm nach
der jeweiligen Marktlage zufallenden Lohnrate kommen, soll das
kapitalistische Lohngesetz verwirklicht und die herabdrückende Tendenz
der wirtschaftlichen Entwicklung in ihrer Wirkung paralysiert oder,
genauer, abgeschwächt werden." (11)
1903 entwarf Lenin eine Resolution für den Zweiten (Londoner) Kongress
der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, der eine „klassisch"
marxistische Position zu den Gewerkschaften zeigt:
„Der Parteitag hält es für unbedingt notwendig, den
wirtschaftlichen Kampf der Arbeiter und ihrer Gewerkschaftsverbände (in
erster Linie die gesamtrussischen) in allen Fällen mit allen Mitteln zu
unterstützen und zu fördern und den sozialdemokratischen Charakter des
wirtschaftlichen Kampfes und der gewerkschaftlichen Bewegung der Arbeiter
in Rußland von allem Anfang an zu festigen." (12)
Lenin hob gegen die Ökonomisten die integrationistischen Tendenzen des
ökonomischen Kampfes hervor und betonte die Gefahr, dass die Marxisten
jeden Versuch aufgeben, diesem Kampf einen „sozialdemokratischen
Charakter" zu geben. „Reines Gewerkschaftlertum" bedeutet
nicht „unpolitisch" oder „neutral" zu sein, sondern führt
notwendigerweise dazu, die Politik bürgerlichen oder kleinbürgerlichen
Kräften zu überlassen. Es bedeutet, die bürgerlichen Vorstellungen in
der Arbeiterklasse nicht zu bekämpfen. Der Ökonomismus ist daher für
Lenin und die Bolschewiki selbst eine Form bürgerlicher Politik und
repräsentiert den Einfluss der Ideen der herrschenden Klasse im
Proletariat. Die Erfahrung der britischen und amerikanischen
Gewerkschaftsbewegung im 19. Jahrhundert bestärkte Lenins Sicht.
Der bürgerliche Kern dieses Bewusstseins kann am besten anhand der
politischen Enthaltsamkeit des Trade-Unionismus verdeutlicht werden, dem
Bestreben, die Arbeiter auf ökonomische Fragen zu fixieren und damit die
„große Politik" den bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien
zu überlassen. Das ist genau nicht die Aufgabe von Revolutionären. Sie
besteht vielmehr darin, das trade-unionistische Bewusstsein zu bekämpfen.
Dazu Lenin in „Was Tun?":
„Das Bewußtsein der Arbeiterklasse kann kein wahrhaft politisches
sein, wenn die Arbeiter nicht gelernt haben, auf alle und jegliche Fälle
von Willkür und Unterdrückung, von Gewalt und Mißbrauch zu reagieren,
welche Klasse diese Fälle auch betreffen mögen, und eben vom
sozialdemokratischen und nicht von irgendeinem Standpunkt aus zu
reagieren. Das Bewußtsein der Arbeitermassen kann kein wahrhaftes
Klassenbewusstsein sein, wenn die Arbeiter nicht an konkreten und dazu
brennenden (aktuellen) politischen Tatsachen und Ereignissen lernen, jede
andere Klasse der Gesellschaft in allen Erscheinungsformen des geistigen,
moralischen und politischen Lebens dieser Klassen zu beobachten; wenn sie
es nicht lernen, die materialistische Analyse und materialistische
Beurteilung aller Seiten der Tätigkeit und des Lebens aller Klassen,
Schichten und Gruppen der Bevölkerung in der Praxis anzuwenden."
(13)
D.h. auf allen Stufen der Entwicklung des Kapitalismus besteht die
Aufgabe von Revolutionären, von Kommunisten darin, die Aufmerksamkeit,
das Bewusstsein, die Aktivität der Arbeiter im Betrieb, in Gewerkschaften
über diesen Rahmen hinaus zu heben und auf politische Fragen, Gesetze,
die Regierungsfrage, internationale Probleme usw. zu richten und die
Notwendigkeit zu verdeutlichen, dass die Arbeiterbewegung dazu Stellung
beziehen muss.
Die Kritik Lenins gewann dadurch zusätzliche Schärfe, als der
Ökonomismus gerade bei großen Ereignissen (Kriege, Krisen, usw.) eine
verheerende Rolle spielte. Er erkannt auch, dass das reine
Gewerkschaftertum immer eine bremsende, den Bewusstwerdungsprozess der
Klasse blockierende Rolle spielen muss und dass das besonders fatal ist,
wenn und sobald sich die Klasse in Richtung spontane revolutionäre Aktion
bewegt. Lenin war sich dessen 1902 und in der Flut der Revolution von 1905
bewusst. Er vergaß sogar während dieser Flut nicht die Bedeutung der
bewussten Intervention von Revolutionären.
„Die Arbeiterklasse ist instinktiv und spontan sozialdemokratisch;
und mehr als zehn Jahre von Sozialdemokraten beigetragene Arbeit haben
einen großen Beitrag dazu geleistet, diese Spontaneität in Bewußtsein
umzuwandeln" (14)
Dieses Zitat kann schwerlich als Beleg für eine grundlegende Korrektur
der Leninschen Sicht des Verhältnisses von Spontaneität und Bewusstsein
herhalten.
Für Lenin besteht die spezifische Aufgabe von Revolutionären – sei
es im gewerkschaftlichen Kampf oder bei anderen Massenkämpfen - „die
Spontaneität in Bewußtsein umzuwandeln". Es ist kein Zufall, dass
die Bolschewistische Partei Lenins in der russischen Revolution als
Einzige fähig war, den revolutionären Drang des Proletariats zu bündeln
und die Klasse zur Revolution zu führen. Die verschiedenen Anbeter der
„Spontaneität" (bzw. ihre Nachfolger) blieben hinter den
Bedürfnissen der Klasse und hinter den von der Revolution gestellten
Aufgaben zurück, wurden im Strom der Ereignisse mitgerissen oder stellten
sich gegen die spontan revolutionäre Aktion der Arbeiterklasse.
Lenin und die Bolschewiki konnten die Oktoberrevolution nur siegreich
zu Ende führen, weil sie über eine korrektes, marxistisches Verständnis
der Entwicklung von revolutionärem Klassenbewusstsein verfügten. (15)
Arbeiteraristokratie und Gewerkschaftsbürokratie
„Die Geschichte der Gewerkschaftsbewegung in jedem Land ist nicht nur
die Geschichte von Streiks und im allgemeinen von Massenbewegungen; sie
ist auch die Geschichte der Entstehung der Gewerkschaftsbürokratie."
(16)
Marx und Engels Verständnis der Gewerkschaften wurde während ihrer
Tätigkeit in der Internationalen Arbeiterassoziation voll entwickelt. In
dieser Periode arbeiteten sie eng mit den englischen Gewerkschaftsführern
zusammen. Diese spielten eine bedeutende Rolle bei der Entstehung der
Internationale. Die frühen 60er Jahre im 19. Jahrhundert sahen eine
mächtige Wiederbelebung der Aktivitäten der Arbeiterklasse in
Britannien.
Streiks in den Minen von Staffordshire, der Metallarbeiter in South
Yorkshire und der Bauarbeiter in den Midlands zeugten von neuer Militanz.
Gewerkschaftsverbände entstanden in London, Birmingham, Glasgow und
vielen anderen Städten. Die Gewerkschaftsführer, hauptamtliche
Sekretäre der Vereinigungen von Facharbeitern und angelernten Arbeitern,
machten bedeutende Schritte (die Bildung des britischen Trade Union
Congress), die Gewerkschaften als landesweite Bewegung zu zentralisieren.
Eine Arbeiterpresse entstand auf nationaler und lokaler Ebene. Ein
gestiegenes politisches Bewusstsein manifestierte sich in einer breiten
Gewerkschaftsunterstützung für den italienischen Vereinigungskampf.
Garibaldi wurde ein großartiger Empfang in London bereitet.
Gewerkschaftliche Solidarität und Sympathie wurden der Union im
amerikanischen Bürgerkrieg entgegengebracht. Aktivitäten im Kampf für
das Wahlrecht und gegen die noch immer legalen Sanktionen des Master and
Servant Law brachten eine zeitweilige Radikalisierung in diese
Gewerkschaften der Facharbeiteraristokratie.
Wer war diese Arbeiteraristokratie? E.J. Hobsbawn schätzt, dass sie in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ungefähr zwischen 10 und 20% der
britischen Arbeiterklasse ausmachte. Ihre Löhne waren durchschnittlich
doppelt so hoch als jene der ungelernten Arbeiter, in einigen Industrien
dürften sie das Drei- oder Vierfache erreicht haben. Mit der teilweisen
Ausnahme der Textilarbeiter und der Bergarbeiter war es eine privilegierte
Schicht von angesehenen Handwerkern, die an der Ersten Internationale
teilnahmen. Harrison stellte fest, dass das zentrale Paradoxon der
Internationale war, dass sie den Standpunkt der ganzen Arbeiterklasse
ausdrückte, während sie sich auf die organisatorische Unterstützung der
Arbeiteraristokratie stützte (17).
Die Stärke der Arbeiteraristokratie in Britannien hatte auch
politische Auswirkungen. Nach der Phase des politischen Aufschwungs
markierte die Niederlage der Pariser Kommune auch eine Trendwende in der
Ersten Internationale, mit der nicht nur der Kampf gegen die Anarchisten
an Schärfe zunahm. Die britischen Gewerkschaften wurden mehr und mehr in
die bürgerliche Politik hineingezogen und bildeten einen rechten Flügel
der Internationale, der Marx und Engels revolutionäre Tätigkeit nach der
Niederlage der Arbeiterbewegung am Kontinent immer feindlicher gegenüber
stand.
Zusammen mit dem notwendigen Streit mit den Anarchisten musste diese
Entwicklung zum Zerfall der Ersten Internationale führen. Sie zwang Marx
und Engels gleichzeitig, die Ursachen für die starken bürgerlichen
Tendenzen in der britischen Gewerkschaftsbewegung und die Rolle der
Arbeiteraristokratie zu untersuchen. Dadurch legten sie wesentliche
Grundlage für die spätere Arbeit von Lenin und Trotzki. Marx und Engels
erlebten selbst eine Periode bedeutender Veränderung der Position der
Gewerkschaftsführer und der Arbeiteraristokratie, auf die sie sich
stützte.
Der Reform Act von 1867 gab der oberen Schicht der Arbeiterklasse das
Wahlrecht, während die meisten männlichen Arbeiter und alle Frauen
weiter von diesem politischen Recht ausschloss. Zusätzlich gab das
Gewerkschaftsgesetz von 1871 den Gewerkschaften einen breiten Rahmen der
gesetzlichen Anerkennung. Die im Vergleich zur großen Masse des
Proletariats privilegierte soziale Stellung und mit den beiden Gesetzen
erlangten politischen Rechte reichten aus, um die Arbeiteraristokratie und
die Gewerkschaften zu beschwichtigen und an die Liberalen zu binden.
1873 war zugleich der Beginn einer langen Krise und wirtschaftlichen
Stagnation. Aufgrund der steigenden Arbeitslosigkeit wurde es schwieriger,
die ungelernten Arbeiter zu organisieren. Als Konsequenz blieben die
organisierten Arbeiter das einzige Reservat für die liberalen
Arbeiteraristokraten. 1869 wurde die Labour Representation League als
direkter Ausdruck dieses liberalen Labourismus gebildet. Sie setzte sich
selbst die Aufgabe, „utopische Theorien und illusionäre Hirngespinste
zu vermeiden und die Interessen der arbeitenden Männer mit jenen der
ganzen Gesellschaft in Harmonie zu bringen."
Schon in der Ersten Internationale war Marx und Engels die politische
Rückständigkeit der Arbeiterbewegung in England bewusst. Engels schrieb
nach den ersten Wahlen, dass sich das Proletariat fürchterlich
diskreditiert hätte, nachdem es keine eigenen Kandidaten aufgestellt und
stattdessen die Liberalen unterstützt hatte.
Marx sah eine bedeutende Wurzel dieser politischen Schwäche in der
Unterdrückung Irlands. Diese und die Angst vor Konkurrenz durch die
irischen Arbeitsimmigranten unterstützten den Chauvinismus unter den
englischen Arbeitern und banden sie an ihre eigenen Ausbeuter.
„Und das Wichtigste! Alle industriellen und kommerziellen Zentren
Englands besitzen jetzt eine Arbeiterkasse, die in zwei feindliche Lager
gespalten ist, englische proletarians und irische proletarians. Der
gewöhnliche englische Arbeiter haßt den irischen Arbeiter als einen
Konkurrenten, welcher den standard of life herabdrückt. Er fühlt sich
ihm gegenüber als Glied der herrschenden Nation und macht sich eben
deswegen zum Werkzeug seiner Aristokraten und Kapitalisten gegen Irland,
befestigt damit die soziale Herrschaft über sich selbst. Er hegt
religiöse, soziale und nationale Vorurteile gegen ihn. Er verhält sich
ungefähr zu ihm wie die poor whites zu den niggers in den ehemaligen
Sklavenstaaten der amerikanischen Union. Der Irländer pays him back with
interest in his own money (zahlt es mit gleicher Münze zurück). Er sieht
zugleich in dem englischen Arbeiter den Mitschuldigen und das stupide
Werkzeug der englischen Herrschaft in Irland.
Dieser Antagonismus wird künstlich wachgehalten und gesteigert durch
die Presse, die Kanzel, die Witzblätter, kurz, alle den herrschenden
Klassen zu Gebot stehenden Mittel. Dieser Antagonismus ist das Geheimnis
der Ohnmacht der englischen Arbeiterklasse, trotz ihrer Organisation. Es
ist das Geheimnis der Machterhaltung der Kapitalistenklasse. Letztere ist
sich dessen völlig bewußt." (18)
Marx zieht daraus die Schlussfolgerung, dass ohne eine Unterstützung
des nationalen Unabhängigkeitskampfes Irlands die soziale Befreiung der
englischen Arbeiterklasse unmöglich ist. Das ist auch der Grund, warum
von Marx und Engels auf nationalen wie internationalen Kongressen der
Arbeiterbewegung immer wieder der nationale Befreiungskampf Irlands oder
Polens in den Mittelpunkt stellten. Ohne konsequente revolutionäre
internationale Politik würde sich die Arbeiterklasse auch nicht von der
politischen Abhängigkeit von der herrschenden Klasse im „eigenen"
Land befreien können.
In den letzten Jahren der Internationalen Arbeiterassoziation
verurteilte Marx offen die Klassenzusammenarbeit der Gewerkschaftsführer.
Er stellte fest, dass sich die industriellen Arbeiter „vor allem ihre
jetzigen Führer vom Leib schaffen" (19) müssten, bevor irgendein
Fortschritt gemacht werden kann.
In den späten 1870er und 1880er Jahren dominierten der liberale
Labourismus und ein unterwürfiges zunftorientiertes Gewerkschaftertum die
britische Arbeiterbewegung fast uneingeschränkt. Engels analysiert die
Wurzeln dieses Phänomens. Bereits 1858 stellte er in der englischen
Arbeiterbewegung eine Tendenz zur Verbürgerlichung fest, die sich in
Versuchen des Chartistenführers Jones manifestierte, eine Allianz mit dem
radikalen Bürgertum zu bilden.
„Mir scheint übrigens Jones new move (neuer Schritt), in Verbindung
mit den früheren mehr oder weniger erfolgreichen Versuchen einer solchen
Allianz, in der Tat damit zusammenzuhängen, daß das englische
Proletariat faktisch mehr und mehr verbürgert, so daß diese
bürgerlichste aller Nationen es schließlich dahin bringen zu wollen
scheint, eine bürgerliche Aristokratie und eine bürgerliches Proletariat
neben der Bourgeoisie zu besitzen. Bei einer Nation, die die ganze Welt
exploitiert, ist das allerdings einigermaßen gerechtfertig. Hier können
nur eine paar grundschlechte Jahre helfen, und diese scheinen seit den
Goldentdeckungen so leicht nicht mehr herzustellen." (20)
Engels verbindet hier die Verbürgerlichung der Arbeiterklasse, ja
deren Unvermeidlichkeit, mit Englands dominierender Stellung auf dem
Weltmarkt. Zur gleichen Zeit beobachtete er, dass die „englische
Proletarier-Bewegung in der alttraditionell-chartistischen Form ganz
zugrunde gehen muß, ehe sie sich in einer neuen, lebensfähigen Form
entwickeln kann". (21)
Engels bekräftigt diese Sicht in späteren Briefen und erblickt in der
Teilhabe der (privilegierten Teile der britischen Arbeiterklasse) am
Kolonialsystem die Quelle ihrer politische Rückständigkeit:
„Sie fragen mich, was die englischen Arbeiter von der Kolonialpolitik
denken? Nun, genau dasselbe, was sie von der Politik überhaupt denken:
dasselbe, was die Bourgeois davon denken. Es gibt hier ja keine
Arbeiterpartei, es gibt nur Konservative und Liberale, und die Arbeiter
zehren flott mit von dem Weltmarkts- und Kolonialmonopol Englands."
(22)
In einem Brief an August Bebel im folgenden Jahr geht er von anderer
Seite an die Fragestellung heran. „Und eine wirklich allgemeine
Arbeiterbewegung kommt hier – von Unerwartetem abgesehn – nur
zustande, wenn den Arbeitern fühlbar wird, daß Englands Weltmonopol
gebrochen. Die Teilnahme an der Beherrschung des Weltmarkts war und ist
die ökonomische Grundlage für die politische Nullität der englischen
Arbeiter." (23)
Gleichzeitig erkannte Engels, dass die Auswirkungen dieser
Vorherrschaft nicht in der ganzen Arbeiterklasse gleich waren.
In seinen Schriften in William Morris Zeitschrift „Commonwealth"
ließ Engels die Entwicklung vom revolutionären Chartismus bis zur
Verbürgerlichung Revue passieren. Im Detail hob er hervor, dass die
Bedingungen der Facharbeiter in den großen Gewerkschaften sich „seit
1848 merkwürdig verbessert" haben und er fuhr fort, dass das „der
beste Beweis dafür ist, dass seit mehr als fünfzehn Jahren nicht nur
ihre Beschäftiger mit ihnen, sondern auch sie mit ihren Beschäftigern
äußerst zufrieden gewesen sind. Sie bilden eine Aristokratie in der
Arbeiterklasse; sie haben es fertig gebracht, sich eine verhältnismäßig
komfortable Lage zu erzwingen, und diese Lage akzeptieren sie als
endgültig." (24)
Die Teilhabe der Arbeiteraristokratie (und bis zu einem gewissen Grad
auch der Masse des englischen Proletariats) am Kolonial- und
Weltmarktmonopol ist bei Engels selbst nicht „automatisch" gegeben,
sondern Resultat erfolgreicher ökonomischer Kämpfe, womit er sich auch
von allen späteren banalisierenden „Bestechungstheorien" der
Arbeiteraristokratie abhebt.
Arbeiteraristokratie wird eine bestimmte Schicht der Klasse nicht, weil
sich die Bourgeoisie zur Bestechung entschließt, sondern weil sie
aufgrund ihrer ökonomischen Stellung (große Konzentration, relativ frei
von Konkurrenz durch andere Arbeiter, Expansion einer bestimmten Branche,
Weltmarktstellung des Kapitals) gute Karten im ökonomischen Kleinkrieg
hat. Der ökonomische Verteilungskampf ist also der Hebel, durch den die
Arbeiteraristokratie den Verkauf der Arbeitskraft zu relativ hohem Lohn
und relativ sicheren Arbeitsbedingungen durchsetzen kann (was wiederum nur
geht, wenn das exploitierende Kapital anderswo Extraprofite erzielen
kann).
Aber Engels verwies auch auf das mögliche, ja notwendige Ende der
Bindung der Arbeiterklasse an die britische Bourgeoisie. Das Monopol
Englands am Weltmarkt konnte nur vorübergehender Natur sein, da
einerseits andere Kapitale versuchen würden, es Britannien streitig zu
machen und andererseits auch das britische Kapital nicht einfach mit einem
bestimmten Stand der Weltmarktbeherrschung zufrieden sein konnte. Die
kapitalistische Produktionsweise erfordert die weitere Expansion des
Kapitals, d.h. Ausdehnung des Weltmarktes, nicht bloß Erhalt des bisher
Erreichten. Jede Stagnation, ganz zu Schweigen von einem Schrumpfen des
Weltmarktes musste daher die industrielle Produktion in Britannien ins
Stocken bringen und damit auch den Klassenkompromiss zwischen Bourgeoisie
und Proletariat.
Innerhalb des Stadiums der chronischen Stagnation nach 1876, einer
Periode, die weder einen vollständigen Zusammenbruch noch eine Rückkehr
zur Prosperität mit sich brachte, sah Engels den Beginn einer neuen
Periode des Kapitalismus. Er erwartete, dass diese durch die
Zusammenstöße von verschiedenen industriellen Mächten, Britannien,
Deutschland, Frankreich und Amerika, charakterisiert sein würde, in denen
Britannien sein Weltmarktmonopol verlieren würde.
Während es von ihm nicht erwartet werden konnte, die imperialistische
Epoche theoretisch vorauszuahnen, erkannte er ihre herausragenden
Merkmale, im Speziellen die neue Rolle der Führer der Arbeiterbewegung.
Es waren diese Führer, die die Ausdehnung der Gewerkschaftsorganisation
auf ungelernte männliche Arbeiter und auf die Frauen durch ihre
berufsständische Borniertheit verhinderten.
Diese Herangehensweise verhinderte nicht nur das Wachstum der
Gewerkschaften, sondern gefährdete auch die Organisierten und
unterminierte ihre Kampfkraft, indem die Kapitalisten ein immer größeres
Reservoir potentieller Streikbrecher vorfanden. Gleichzeitig hatte der
Reform Act von 1867 erstmals eine große Wählerschaft aus der
Arbeiterklasse geschaffen. Die Bourgeoisie änderte daraufhin ihre
Strategie. Von offener Feindschaft und legalem Zwang wechselte sie dazu,
die Führer der Gewerkschaften zur Einbindung der Arbeiterklasse zu
nutzen. Zuerst diente dazu der radikale Flügel der Liberal Party.
Engels bemerkte die reichliche Aufmerksamkeit, die den
Gewerkschaftsführer nach 1867 zuteil wurde.
„Von da an wurden die Vorsitzenden und Sekretäre der Trade-Unions
und politischen Arbeitervereine, sowie sonstige bekannte Arbeiterredner,
denen man Einfluß auf ihre Klasse zutrauen durfte, auf einmal wichtige
Leute; sie erhielten Besuche von Parlamentsmitgliedern, von Lords und
anderm vornehmen Gesindel, ..." (25).
Diese Aufmerksamkeit der bürgerlichen Klasse für die Vertreter des
Proletariats schmeichelt diesen nicht nur, sie erzeugte, wie Engels
bemerkte, fast naturwüchsig bei diesen Führern den Wunsch, ins Parlament
gewählt zu werden. Das wäre auch nicht tragisch, ja sogar ein
Fortschritt gewesen, wenn sie auf der Basis einer eigenständigen
Kandidatur der Arbeiterbewegung und wenigsten mit dem Programm der
Chartisten, deren radikal-demokratischen Forderungen angetreten wären.
Doch die „Arbeiterführer" zogen es vor, nicht als offene
Repräsentanten ihrer Klasse, sondern durch ein Geschäft mit den
Liberalen, zu Stimmen und Geld zu kommen.
„Damit aber hörten sie auf, Arbeiterkandidaten zu sein, und
verwandelten sich in Bourgeoiskandidaten. Sie appellierten nicht an eine
neu zu bildende Arbeiterpartei, sondern an die bürgerliche ‚große
liberale Partei‘." (26)
In anderen Worten: sie wurden Agenten der Bourgeoisie in der
Arbeiterklasse. Der Klassencharakter ihrer Politik zeigte sich klar in
ihren Vorbereitungen für die Wahlen 1874. In einer Versammlung unter dem
Vorsitz von Morley, einem führenden liberalen Manufakturbesitzer und
Millionär, entwarfen die Gewerkschaftsführer und Labour Journalisten ein
„‘Arbeiterprogramm’, das jeder Bourgeois unterschrieben konnte und
das die Grundlage einer gewaltigen Bewegung bilden sollte, um die Arbeiter
politisch noch enger an die Bourgeoisie zu ketten". (27)
Engels war sich klar, dass die Passivität der Arbeiterklasse in
England nicht vollständig durch die Verbürgerlichung der
Arbeiteraristokratie und die Korruption der Gewerkschaftsspitzen und
sonstigen Arbeiterführer durch die Bourgeoisie erklärt werden konnte. Er
führte als zusätzliche Faktoren die Struktur der Gewerkschaften und das
Fehlen politischer Diskussion (d.h. von Klassenpolitik) an. Die
Ausgrenzung der Masse der Arbeiter und Arbeiterinnen verringerte auch den
Horizont der organisierten Minderheit. Innerhalb der Gewerkschaften war es
notwendig, gegen das vorherrschende ökonomistische politische
Verständnis der Arbeiter anzukämpfen und sie zum Kampf für die
Emanzipation der ganzen Arbeiterklasse zu gewinnen. Das bedeutet die
Ungelernten, die große Mehrheit der Arbeiterklasse zu organisieren.
Die konservative Struktur des existierenden Gewerkschaftlertums musste
aufgebrochen und neue Gewerkschaften gebildet werden. Nur so konnte eine
neue sozialistische Führung der Arbeiterklasse geschaffen werden, um die
bürgerlichen Führer zu ersetzen und eine revolutionäre Arbeiterpartei
zu schaffen. Daher begrüßte Engels auch enthusiastisch die Entstehung
von Gewerkschaften der ungelernten Arbeiter im Londoner Eastend in den
1890er Jahren.
„Das Ostend hat seine starre Verzweiflung abgeschüttelt; es ist dem
Leben wiedergegeben und ist die Heimat des ‚Neuen Unionismus‘
geworden, d.h. der Organisation der großen Masse ‚ungelernter‘
Arbeiter. Diese Organisation mag in mancher Beziehung die Form der alten
Unionen von ‚gelernten‘ Arbeitern annehmen; sie ist dennoch wesentlich
verschieden dem Charakter nach. Die alten Unionen bewahren die Traditionen
der Zeit, wo sie gegründet wurden; sie sehn das Lohnsystem für eine ein
für allemal gegebne, endgültige Tatsache an, die sie im besten Fall im
Interesse ihrer Mitglieder etwas mildern können. Die neuen Unionen
dagegen wurden zu einer Zeit gegründet, wo der Glaube an die Ewigkeit des
Lohnsystems schon gewaltig erschüttert war. Ihre Gründer und Beförderer
waren entweder bewußte oder Gefühlssozialisten; die Massen, die ihnen
zuströmten und in denen ihre Stärke ruht, waren roh, vernachlässigt,
von der Aristokratie der Arbeiterklasse über die Achsel angesehn. Aber
sie haben diesen unermeßlichen Vorteil: Ihre Gemüter sind noch
jungfräulicher Boden, gänzlich frei von den ererbten, ‚respektablen‘
Bourgeoisvorurteilen, die die Köpfe der bessergestellten ‚alten‘
Unionisten verwirren." (28)
Engels ist dabei keineswegs blind gegenüber den „kolossalen
Böcken", die die neue Gewerkschaftsbewegung geschossen hat, er ist
keineswegs unkritisch gegenüber der unzureichenden Kenntnis des
wissenschaftlichen Sozialismus auf Seiten ihrer Führer – aber sie
verkörpern die Zukunft der Arbeiterbewegung im England das ausgehenden
19. Jahrhunderts und einen wichtigen Schritt zur Schaffung einer
Klassenpartei des Proletariats, wie sich an den Kandidaturen von James
Keir Hardie und John Burns zeigt.
Marx und Engels entwickelten durch ihre aktive Einbindung in die
britische Arbeiterbewegung die grundlegenden Elemente einer
zusammenhängenden Position über den Charakter und die Rolle der
Gewerkschaften. Weiteres analysierten sie die Ursachen und Merkmale der
Eingliederung der Gewerkschaften in den Kapitalismus. Gegen Ende seines
Lebens erarbeitete Engels, wie wir sehen werden, Kampfmethoden die gegen
bürgerlichen Arbeiterführer.
Die Vervollständigung dieser Aufgabe fiel jedoch einer nächste
Generation von Marxisten zu, Theoretikern und Revolutionären wie Rosa
Luxemburg, Lenin und Trotzki. In der Periode zwischen Engels Tod und der
Gründung der Kommunistischen Internationale konzentrierten sich die
Auseinandersetzungen um das Verhältnisses zwischen der
Gewerkschaftsaktion und dem Kampf für den Sozialismus auf Deutschland und
England, jene zwei Länder in denen sich die Massengewerkschaften
entwickelten bzw. entwickelt hatten. In beiden Ländern entwickelte sich
auch eine mächtige Gewerkschaftsbürokratie.
In Deutschland war sie fähig, sich von der Dominanz des Marxismus zu
befreien und sogar den marxistischen Einfluss in der sozialdemokratischen
Partei zu überwinden. In Britannien war sie fähig, die revolutionären
Marxisten zu isolieren und den Druck der Arbeiter für eine Klassenpartei
in die „sichere" Form einer reformistischen, einer von Beginn an
klassenkollaborationistischen Labour Party zu lenken.
In den Ländern mit einer neueren oder verspäteten kapitalistischen
Entwicklung, z.B. die USA, Italien, Frankreich und Spanien, herrschte bis
1914 der revolutionäre Syndikalismus vor, eine Mischung aus Marxismus und
Anarchismus. Unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges spaltete er sich in
einen reformistischen Flügel, der eine Annäherung mit den
sozialdemokratischen Bürokraten herbeiführte und einen revolutionären
Flügel, der sich unter dem Banner der Komintern und der Roten
Gewerkschaftsinternationale sammelte.
Gewerkschaften und die Zweite Internationale
Die grundlegendsten Analysen dieser Entwicklungen kamen von Vertretern
des linken Flügels der Zweiten Internationale der Vorkriegszeit, Rosa
Luxemburg und Lenin. Diese Lehren wurde durch die frühe Komintern und die
RGI aufgenommen und versucht weiter zu entwickeln, bevor sie der
verheerenden Degeneration dieser Organe unter bucharinistischer und
stalinistischer Führung zum Opfer fielen. Es wurde dann in den Arbeiten
Leo Trotzkis von den späten 20er Jahren bis zu seinem Tod 1940 neu
formuliert.
Der ursprüngliche Brennpunkt für die Erarbeitung und Entwicklung der
marxistischen Analyse der Gewerkschaftsbürokratie war der Kampf der
Linken in der deutschen Sozialdemokratie gegen den Einfluss der
konservativen Gewerkschaftsführer auf die Praxis und Taktiken der Partei.
Bis in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts war Britannien das
einzige bedeutende Land mit einer gut entwickelten Gewerkschaftsbewegung.
Von dieser Periode an wuchs in anderen Ländern die Gewerkschaftsbewegung
schnell an. In Deutschland, Italien und Frankreich machte das Wachstum des
Gewerkschaftswesen in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts und frühen
Jahren des 20. Jahrhunderts die Gewerkschaftsfrage zu einem zentralen
Punkt der Diskussionen und Debatten unter Marxisten.
Dies gilt vor allem für Deutschland, wo nach der Aufhebung der
Sozialisten-Gesetze 1890 die Freien Gewerkschaften unter dem Einfluss der
deutschen Sozialdemokratie sehr schnell wuchsen. Schon in den letzten
Jahren der Sozialistengesetze hatte es regen Zulauf gegeben und 1890
betrug die Mitgliedschaft 294.551. Diese stagnierte in den nächsten
Jahren um ab Mitte der 1890er Jahre bis zum Ersten Weltkrieg stetig nach
oben zu gehen. Um 1900 hatten die Gewerkschaften 680.000 Mitglieder, 1094
überschritten sie erstmals die Millionengrenze (1.116.723). Im Jahr 1913
gehörten mehr als 2,5 Millionen Lohnabhängige den Freien Gewerkschaften
an. (29) Damit waren die deutschen Freien Gewerkschaften vor dem Ersten
Weltkrieg fast ebenso mitgliederstark wie die englischen.
Schon kurz nach Aufhebung der Sozialistengesetze wurde im November 1890
die „Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands" von der
Vorständekonferenz der Freien Gewerkschaften ins Leben gerufen. An die
Spitze der Generalkommission trat Karl Legien, ein gelernter Drechsler,
der bis an sein Lebensende 1920 Vorsitzender bleiben sollte. Politisch und
organisatorisch dominierten die Industriegewerkschaften wie Metall, Bau,
Manufaktur, Holz, Textilien und Transport die deutsche
Gewerkschaftsbewegung, die nach und nach die neben ihnen existierenden
berufständischen Verbände in den Hintergrund drängten.
Diese mächtige Bewegung war behilflich, dass die äußerst
selbstherrlichen deutschen Kapitalisten, die den preußischen
autokratischen Staat zu ihrer Verfügung hatten, die Gewerkschaften
anerkannten und mit den Arbeitern zumindest auf betrieblicher Ebene
tarifliche Abkommen schlossen. Der damals führende Marxist der Zweiten
Internationale, Karl Kautsky, konnte mit Freude anmerken:
„Aber nicht nur an Raschheit des Wachstums übertrafen die deutschen
Gewerkschaften während dieser Periode die englischen, sie stellten auch
eine höhere Form der gewerkschaftlichen Bewegung dar. Die englischen
Trade-Unions waren rein naturwüchsig entstanden, die Kinder bloßer
Praxis; die deutschen wurden von Sozialdemokraten gegründet und geleitet,
denen die fruchtbringende Theorie des Marxismus zur Seite fand. An Stelle
der lokalen und beruflichen Zersplitterung der englischen Trade-Unions
setzte sie große, zentralisierte Industrieverbände; sie wußte
Grenzstreitigkeiten der einzelnen Organisationen viel mehr einzudämmen,
und endlich hat sie viel mehr als die englische die Gefahren der
zunftmäßigen Verknöcherung und aristokratischen Exklusivität
vermieden. Weit mehr wie die englischen fühlen sich die deutschen
Gewerkschafter als die Vertreter des gesamten Proletariats und nicht bloß
als die der organisierten Mitglieder ihres Berufs." (30)
Deutschlands Industriegewerkschaften waren auch das Produkt der
späteren, aber umso machtvolleren industriellen Entwicklung des Deutschen
Reiches. Anders als die britische Arbeiterklasse war die deutsche
Arbeiterklasse nicht oder jedenfalls nur wenig behindert durch
Gewerkschaftsorganisationen, die jahrzehntelang von zünftischen und
Handwerkstraditionen dominiert wurden. Die deutsche Industrie macht am
Beginn der imperialistischen Epoche einen riesigen Konzentrations- und
Zentralisationsprozess durch. Die Schaffung von Industriegewerkschaften
entsprach dieser Tendenz und der Marxismus ermutigte und förderte diese
moderne Form der gewerkschaftlichen Organisation, mit der die
Beschäftigten ihre „Industriekapitäne" bekämpfen konnten.
Diese Entwicklung bestätigt auch das Gesetz der ungleichzeitigen und
kombinierten Entwicklung, dem zufolge historisch später entwickelte
bürgerliche Klassengesellschaften nicht einfach die Entwicklungsstufen
der fortgeschritteneren Länder kopieren, sondern vielmehr modernste
Produktionstechniken, Formen der Arbeitsorganisation mit entwickeln, die
gleichzeitig mit Elemente der Rückständigkeit in anderen Bereichen
kombiniert werden. Zweifellos hat die spätere Entwicklung in Deutschland
auch geholfen, Schwächen der englischen Arbeiterbewegung des 19.
Jahrhunderts von Beginn an zu vermeiden.
Doch dies war nicht der einzige Faktor, der den Einfluss des Marxismus
der Sozialdemokratie stärkte. Die Partei bewährte sich in der
Illegalität, profilierte sich weiter in der Arbeiterschaft als einzige
Partei, die wirklich gegen die herrschenden Zustände im Deutschen Reich
auftrat. Die Aufhebung der Sozialisten-Gesetze und die Zurücknahme
weiterer politischer Einschränkungen, die der Sozialdemokratie vom
Bismarckschen und Wilhelminischen Bonapartismus auferlegt worden waren,
stärken die Partei.
Zusätzlich profitierte der Marxismus von den relativ schwachen
sozialen Wurzeln des Opportunismus in der Periode während und unmittelbar
nach den Sozialistengesetzen. Deutschland konnte außerdem aufgrund des im
Vergleich zum britischen Empire kleinen Kolonialreiches und folglich
geringerer Extraprofite nur eine kleine Arbeiteraristokratie erhalten.
Das zwang auch die Gegner des Marxismus innerhalb der
Gewerkschaftsführung vor- und umsichtiger zu sein, als ihre offen
klassenkollaborationistischen Pendants in Britannien. Trotzdem war diese
Schicht für die Stärkung des Reformismus sehr bedeutend, wie Jürgen
Kuszinski beobachtete: „... trotz der Tatsache, dass die von der
herrschenden Klasse in Deutschland erzielten Extraprofite aus
ausländischen Investitionen im Vergleich mit jenen der herrschenden
Klasse in Großbritannien relativ klein waren, war es für sie möglich,
ausreichend Extraprofite teilweise durch ausländische Investitionen und
teilweise durch die Ausbeutung von billiger ausländischen Arbeitskräften
in Deutschland (hauptsächlich russischen und italienischen) zu machen, um
eine kleine Arbeiteraristokratie zu schaffen, die bereit war, ihre Rolle
zu spielen, als der Monopolkapitalismus im 20.Jahrhundert zur vollen Macht
kam." (31)
Parallel zum Wachstum dieser bedeutenden, privilegierten Schicht von
Arbeitern ging ein dramatisches Wachstum des Apparats der Hauptamtlichen
der Gewerkschaften einher. 1898 hatten die Freien Gewerkschaften nur 104
bezahlte Hauptamtliche, sechs Jahre später waren es 677. Die Anzahl der
Mitglieder verdoppelte sich im selben Zeitraum. Zehn Jahre später, als
sich die Mitgliedschaft gerade verdreifacht hatte, betrug die Zahl der
Hauptamtlichen 2.867.
Die ihnen zur Verfügung stehenden Geldmittel waren beträchtlich. Z.B.
1907 betrugen die Gelder der Gewerkschaften ungefähr 33 Millionen Mark.
Dieses zunehmende Gewicht der Gewerkschaften wird besonders deutlich, wenn
man ihre Geldmittel mit jenen der formal marxistischen SPD vergleicht.
Diese verfügte zum selben Zeitpunkt gerade über 1,3 Mio. Mark (32). So
kristallisierte sich eine mächtige Bürokratie innerhalb der deutschen
Gewerkschaften heraus, die in wachsenden Konflikt mit den Kräften des
revolutionären Marxismus kam und gleichzeitig seit Mitte der 1890er Jahre
zunehmend an Selbstvertrauen gewann.
Der erste Keim dieses Konflikts kann zur Zeit der Erfurter Synthese
gesehen werden, der Annahme eines formal marxistischen Programms, das von
jedem Versuch, eine revolutionäre Taktiken zu entwickeln, getrennt war.
Trotz enger Bindung an die Sozialdemokratie beanspruchten die Freien
Gewerkschaften seit der Aufhebung des Sozialistengesetzes ein mehr oder
minder großes Maß an Unabhängigkeit von der Sozialdemokratie. Dieses
Besteben war von Beginn an mit der Perspektive verbunden, die bestehende
Gesellschaftsordnung zu reformieren und die Gewerkschaften aus „politischen
Abenteuern" der SPD herauszuhalten.
So definiert Karl Legien schon 1891 in der dritten Ausgabe des „Correspondenzblatt",
dem Zentralorgan der freien Gewerkschaften, die Arbeitsteilung zwischen
politischer Partei und Gewerkschaften:
„Der Unterschied zwischen der politischen Tätigkeit, wie die
Arbeiterpartei sie entwickelt, und der Aufgabe der Gewerkschaften liegt
darin, daß die erstere eine Umgestaltung der gegenwärtigen
Gesellschaftsorganisation anstrebt, während die letztere in ihren
Bestrebungen, weil die Gesetze uns hierin Grenzen ziehen, auf dem Boden
heutigen bürgerlichen Gesellschaft steht." (33)
In diese Zeit reagierte der Sozialdemokratische Parteivorstand auf jede
Infragestellung der politischen Führungsrolle der Partei gegenüber den
Gewerkschaften noch mit Spott und Hohn. Zu Beginn der 1890er Jahre mussten
die Gewerkschaften bedeutende Niederlagen in Streiks hinnehmen, ihrer
Mitgliederzahl stagnierte, während die SPD bei den Reichstagswahlen
große Erfolge feierte. Die Gewerkschaftsführer waren in dieser Phase
zweifellos nicht bereit, die SPD und ihre Führungsrolle in der
Arbeiterschaft offen in Frage zu stellen, sondern betonten vielmehr eine
Arbeitsteilung mit der Partei, wobei die Gewerkschaften als eine Art
Rekrutierungsfeld und Schule dienen sollten.
Aber das änderte sich mit der wirtschaftlichen Belebung Mitte der
1890er Jahre, dem Wachstum der Gewerkschaften, der Zunahme an
Tarifabschlüsse und der Vergrößerung des Apparates. Die Differenzen mit
der SPD wie auch innerhalb der SPD nahmen zu. Das lässt sich schon in
verschiedenen Haltungen zu Streikkämpfen Ende der 90er Jahre ablesen wie
auch in der Entwicklung zunehmend offen reformistischer Konzepte des „Hinüberwachsens
in den Sozialismus" Hand in Hand mit den Revisionisten in der
Sozialdemokratie.
Es ist keine Wunder, dass Rosa Luxemburg, die das Gewerkschaftlertum
als „Sisyphusarbeit" beschrieb, „der bestgehaßte und stets
geschmähte ‘Feind der Gewerkschaften’" (34) wurde. Die
entstehende Gewerkschaftsbürokratie erkannte ihren Feind richtig, denn es
war tatsächlich Rosa Luxemburg, die als erste eine marxistische Analyse
des um sich greifenden gewerkschaftlichen Opportunismus und des
Revisionismus in der Sozialdemokratie in Angriff nahm.
Luxemburgs Konfrontation mit der deutschen Gewerkschaftsbürokratie
wurde zuerst durch die Versuche der Linken, in Zusammenarbeit mit Kautskys
„Marxistischem Zentrum", provoziert, aus dem belgischen
Generalstreik von 1902 und der Russischen Revolution von 1905 die Lehren
zu ziehen. Vor dem Hintergrund eines wachsenden Tempos des Klassenkampfes
auf internationalem Niveau inklusive eines erfolgreichen Massenstreiks der
Bergarbeiter an der Ruhr versuchten die Gewerkschaftsführer alle Versuche
durch die Partei zu verhindern, die Generalstreiktaktik zu entwickeln, zu
verfeinern oder gar anzuwenden.
Die Gewerkschaftsführer wahren sich des für sie ungünstigen
Kräfteverhältnisses in der SPD bewusst und entschlossen sich daher dazu,
der Generalstreiksdebatte am SPD-Parteitag zuvor zu kommen. So beschloss
der Kölner Gewerkschaftskongress im Mai 1905:
„Der Kongreß hält daher auch alle Versuche, eine bestimmte Taktik
festlegen zu wollen, für verwerflich; er empfiehlt der organisierten
Arbeiterschaft, solchen Versuchen energisch entgegenzutreten.
Den Generalstreik, wie er von Anarchisten und Leuten ohne jegliche
Erfahrung auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Kampfes vertreten wird,
hält der Kongreß für undiskutabel, er warnt die Arbeiterschaft, sich
durch die Aufnahme und Verbreitung solcher Ideen von der täglichen
Kleinarbeit zur Stärkung der Arbeiterorganisationen abhalten zu
lassen." (35)
Im Herbst 1905 fand der SPD-Kongress der SPD in Jena vor dem
Hintergrund der bis dahin größten jemals gesehenen industriellen Unruhen
statt. Die Partei war gezwungen, den Generalstreik in Betracht zu ziehen.
„Aber die Ablehnung des Massenstreiks durch die Gewerkschaftsführung
führte 1906 zu einem ‚Kompromiß‘ zwischen Generalkommission und
Parteivorstand, der der Sache nach eine Kapitulation der Partei vor den
Gewerkschaftsführern enthielt und vom Mannheimer Parteitag bestätigt
wurde." (36)
Die Partei bestätigte den Jenaer Beschluss, zur „umfassendsten
Anwendung der Massenarbeitseinstellung" als Kampfmittel gegen eine
etwaige Beschneidung des Wahlrechts der Arbeiter und hielt gleichzeitig
fest, dass diese Position nicht im Widerspruch zum Beschluss des Kölner
Gewerkschaftskongresses stehe! Dieser Entscheid wurde von den
opportunistischen Gewerkschaftsführern bis hin zum „marxistischen
Zentrum" begrüßt und die Debatte für erledigt erklärt. Der Sieg
der Gewerkschaftsbürokratie bestand jedoch weniger in der
widersprüchlichen Haltung zum Generalstreik, sondern vor allem darin,
dass die Durchführung eines Generalstreiks von der Zustimmung der
Gewerkschaftsführer abhängig gemacht wurde. (37)
In der Generalstreikdebatte erläutert Rosa Luxemburg nicht nur die
Bedeutung des Generalstreiks als eine zentrale Waffe im Arsenal der
revolutionären Marxisten. Sie entwickelt auch eine Analyse der Malaise
der deutschen Gewerkschaftsbewegung. Diese Analyse ist in ihrer 1906
erschienenen Broschüre „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften"
enthalten. Darin beobachtete sie ein Gegensatz zwischen „Sozialdemokratie
und der obersten Schicht der Gewerkschaftsbeamten, der aber zugleich ein
Gegensatz innerhalb der Gewerkschaften zwischen einem Teil der
Gewerkschaftsführer und der gewerkschaftlich organisierten Masse
ist." (38)
Luxemburg analysiert die soziologischen und ideologischen Wurzeln der
Feindschaft der Gewerkschaftsbürokratie gegenüber dem Sozialismus. Die
leugnet dabei keineswegs die Notwendigkeit der Gewerkschaftsarbeit und
bestreitet auch nicht deren Erfolge, sondern nimmt letztere und die
wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen sie erzielt wurden, gerade
zum Ausgangspunkt ihrer Betrachtung.
„Die Spezialisierung ihrer Berufstätigkeit als gewerkschaftliche
Leiter sowie der naturgemäß enge Gesichtskreis, der mit den
zersplitterten ökonomischen Kämpfen in einer ruhigen Periode verbunden
ist, führt unter den Gewerkschaftsbeamten nur zu leicht zum
Bürokratismus wie zur Borniertheit der Auffassung." (39)
Die Änderung in der Tätigkeit der Gewerkschaftsfunktionäre hat auch
zu einer Änderung des Verhältnisses zwischen Funktionären und
Mitgliedern geführt. Der einst ehrenamtliche Leiter wird durch den
Apparatmenschen ersetzt, das kollegiale Verhältnis durch eines von „Spezialisten"
zur vorgeblich „urteilsunfähigen Masse". Die Bürokratie erscheint
ihrem Selbstverständnis nach als der aktive, die Masse als der passive
Teil der Bewegung – eine Haltung, die Gewerkschaftsbürokraten seither
in allen Ländern und allen Lagen an den Tag legen.
Diese Situation habe außerdem dazu geführt, dass sich die
Gewerkschaftsführungen nach einer „eigenen Theorie", die dem
Marxismus entgegensetzt ist, umsehen müssten. Das wäre das
politisch-ideologische Gegenstück zum Versuch der Gewerkschaftsführer,
die „Gleichberechtigung" mit der Sozialdemokratie durchzusetzen.
Die „Neutralität" der Gewerkschaften und „Unabhängigkeit"
von der Sozialdemokratie bekämpft Luxemburg zu Recht vehement, als
Versuche, in der Gewerkschaftsbewegung klassenversöhnlerischen Ideologien
zu verankern.
Daraus folgert Luxemburg im scharfen Gegensatz zu den
Gewerkschaftsführern, aber auch zu Kautsky, dass es gelte, „die
Gewerkschaften der Sozialdemokratie wieder anzugliedern." (40)
Luxemburg stellte klar, dass sie unter „Angliederung" weder eine
organisatorische Verschmelzung noch eine einfach „Anpassung"
verstand. Sie war sich auch klar, dass sich die Gewerkschaftsführung
(oder zumindest ein Teil dieser) einem solchen Vorhaben massiv
wiedersetzen würde.
Doch eine solche Auseinandersetzung war für sie unvermeidlich, ging es
doch darum, die Führungsrolle der revolutionären Partei wieder
herzustellen, also der das geschichtliche Interesse und die Gesamtheit der
proletarischen Bewegung bewusst vertretenden Kraft. Dies so Luxemburg
weiter, entspreche auch dem Antrieb und den Zielen der
sozialdemokratischen Arbeiterschaft sowie den Erfordernissen zukünftiger
Klassenkämpfe, die schärfer sein würden und eine Verbindung von
politischem und ökonomischen Kampf erfordern würden.
Luxemburgs Arbeit beinhaltet eine Reihe von bedeutenden Einsichten
über die Mentalität und Weltansicht der Bürokratie. Wir müssen jedoch
festhalten, dass Luxemburgs Analyse nicht zu den gesellschaftlichen
Wurzeln der konservativen Gewerkschaftsbürokratie vordringt. Wie wir
sahen, erklärte sie die Malaise der deutschen Gewerkschaften als die
Funktionen der Bürokratie in einer Periode der kapitalistischen
Stabilität.
Diese Position trägt zwei Gefahren in sich. Zum einen werden
Organisationen an und für sich als konservativ betrachtet werden - eine
Position, die mit der Schwäche Luxemburgs in der Organisationsfrage
verbunden ist. Andererseits suggeriert die These, dass die Wurzeln der
Bürokratisierung in der relativen ökonomischen Stabilität lägen, dass
die Bürokratie im Zuge gewaltiger gewerkschaftlicher und politischer
Kämpfe einfach beiseite geschoben würden (41).
Marx und Engels erklärten im Gegensatz zu Luxemburg die Entstehung
einer Arbeiterbürokratie als Schichte als Folge und Ausdruck einer
Differenzierung im Proletariat selbst, der Entstehung einer privilegierten
Arbeiteraristokratie. Sie banden die Stabilität dieser Schicht an die
Vorherrschaft Britanniens und Amerikas am Weltmarkt, die die Grundlage
für die ungehinderte Entwicklung der bürgerlichen Demokratie bildete.
Luxemburg bot keine gesellschaftliche Erklärung für die Existenz des
Bürokratismus und Konservativismus in der Gewerkschaftsführung vor 1914.
Es war Lenin überlassen, eine Erklärung und Analyse der Bürokratie in
der Periode der kapitalistischen Entwicklung nach Engels Tod systematisch
zu entwickeln.
Durch die Wahrnehmung des bürgerlichen Einflusses in den
Gewerkschaftsbewegungen in den angelsächsischen Ländern (USA, Britannien
und Australien) und den wachsenden Opportunismus der deutschen
Gewerkschaften, wandte sich Lenin der von den Gründern des
wissenschaftlichen Sozialismus entwickelten Analyse der britischen
Gewerkschaftsbewegung zu. Er entdeckte ihre Arbeit über die
Verbürgerlichung der Arbeiterbewegung und der sozioökonomischen Wurzeln
dieser Entwicklung wieder. 1912 begriff Lenin die Bedeutung dieser
Analyse:
„Die Lage in der Arbeiterbewegung Amerikas zeigt uns - ebenso wie in
England - eine außerordentlich scharfe Spaltung zwischen den rein
gewerkschaftlichen und den sozialistischen Bestrebungen, eine Spaltung
zwischen der bürgerlichen Arbeiterpolitik und der sozialistischen. Denn -
wie merkwürdig diese Worte auch klingen mögen - in der kapitalistischen
Gesellschaft kann auch die Arbeiterklasse bürgerliche Politik treiben,
wenn sie ihre Befreiungsziele vergißt, sich mit der Lohnsklaverei
aussöhnt und lediglich darauf bedacht ist, bald mit der einen, bald mit
der anderen bürgerlichen Partei ein Bündnis um scheinbarer ‘Verbesserungen’
ihres Sklavenlebens willen einzugehen." (42)
Lenin geht an dieser Stelle auch auf die gesellschaftlichen Wurzeln
dieses Phänomens ein:
„Die wichtigste historische Ursache für die besondere
Ausgeprägtheit und (zeitweilige) Stärke der bürgerlichen
Arbeiterpolitik in England und Amerika sind die seit langem bestehende
politische Freiheit und die im Vergleich mit anderen Ländern
ungewöhnlich günstigen Bedingungen für die Entwicklung des Kapitalismus
in die Tiefe und in die Breite. Infolge dieser Bedingungen bildete sich
innerhalb der Arbeiterklasse eine Aristokratie heraus, die hinter der
Bourgeoisie herlief und so ihre Klasse verriet." (43)
Bis 1914 dachte Lenin, dass diese Situation zu Ende gehen würde, da
die Entwicklung der anderen wesentlichen kapitalistischen Staaten die
Position Britanniens unterminierten und damit auch seine Extraprofite, die
die Grundlage der Korruption der Arbeiteraristokratie bildeten. Zur Zeit
der großen Unruhen, der massiven Streikwelle, die Britannien 1913
erschütterte, schrieb Lenin:
„Die englische Arbeitermasse beschreitet langsam, aber sicher einen
neuen Weg – sie geht von der Verteidigung der kleinen Privilegien der
Arbeiteraristokratie über zu dem großen Heldenkampf der ganzen Masse
für eine neue Gesellschaftsordnung." (44)
Lenin war sich durchaus der Tatsache bewusst, dass, während die
Position der Arbeiteraristokratie in Britannien und den USA vor dem Ersten
Weltkrieg angegriffen wurde, dies in der deutschen Gewerkschaftsbewegung
und Sozialdemokratie nicht stattfand. Im Gegenteil, der Opportunismus der
deutschen Gewerkschaftsführer wurde selbstbewusster und schamloser. Das
zeigte sich z.B. 1907 am internationalen Sozialistenkongress in Stuttgart,
als die Hälfe der deutschen Delegation einer Resolution zustimmte, die
koloniale Eroberungen rechtfertigte.
An anderer Stelle verdeutlicht das Lenin anhand einer besonders
opportunistischen – das heißt rein bürgerlich-liberalen Rede Karl
Legiens vor dem amerikanischen Kongress. Lenin bezog sich auf diese
Tatsache, weil Legien nicht „irgendwer" war, sondern ein
Repräsentant des „Funktionärskorps" der deutschen Gewerkschaften,
dessen Ansichten nicht nur einer „kriecherischen Ablehnung des
Sozialismus" gleichkämen, sondern auch eine immer stärker werdende
opportunistische Tendenz der deutschen Partei vor dem Ersten Weltkrieg
verdeutlichten. Besonders scharf kritisiert der den hoffnungslosen „Funktionärsoptimismus"
der deutschen Partei, die den Opportunismus nicht bekämpfe, sondern bloß
Kleinzureden versuchte.
„Wir dürfen die unbestreitbare Krankheit der deutschen Partei, die
sich in derartigen Erscheinungen kundtut, nicht vertuschen" folgerte
Lenin. Vielmehr gälte es, „sie den russischen Arbeitern aufzuzeigen,
damit wir aus den Erfahrungen der älteren Bewegung lernen, lernen, was
man nicht nachahmen soll." (45)
Vier Monaten später zeigte sich die Schwere dieser Krankheit. Der
Krieg, der offene Übertritt der Mehrheit der parlamentarischen und
gewerkschaftlichen Führer zu ihren Kriegsherren und die zeitweilige
Unterstützung, die sie dafür von vielen Arbeitern bekamen, trieb Lenin
dazu, die ganze Epoche der kapitalistischen Entwicklung und ihrer
Auswirkungen auf die politische und gewerkschaftliche Führung der Klasse
grundlegend neu zu untersuchen.
Lenins Analyse und politische Schlussfolgerungen können u.a. in „Der
Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus" (Oktober 1916)
nachgelesen werden. Er stellte fest, dass Marx und Engels zwei
Strömungen, in gewisser Weise zwei Parteien in der englischen
Arbeiterbewegung von 1858 - 1892 erkennen. Die Existenz einer
bürgerlichen Arbeiterbewegung war für Marx und Engels der dominierenden
Stellung des britischen Kapitalismus zuzuschreiben, insbesondere seinem
Weltmarkt- und Kolonialmonopol.
Die Extraprofite des britischen Kapitalismus machten es ihm möglich,
dass „die Kapitalisten einen Teil (und durchaus keinen geringen!)
verwenden, um ihre Arbeiter zu bestechen, um eine Art Bündnis (...) der
Arbeiter der betreffenden Nation mit ihren Kapitalisten gegen die übrigen
Länder zu schaffen." (46)
Die Epoche des Weltimperialismus bedeutete jedoch, dass Britannien
nicht mehr länger eine Ausnahme war.
„Damals war es möglich, die Arbeiterklasse eines Landes zu
bestechen, für Jahrzehnte zu korrumpieren. Heute ist das unwahrscheinlich
und eigentlich kaum möglich, dafür aber kann jede imperialistische ‚Groß’macht
kleinere (als England 1848 – 1868) Schichten der ‚Arbeiteraristokratie‘
bestechen und besticht sie auch. Damals konnte sich die ‚bürgerliche
Arbeiterpartei‘, um das außerordentlich treffende Wort von Engels zu
gebrauchen, nur in einem einzigen Land, dafür aber für lange Zeit,
herausbilden, denn nur ein Land besaß eine Monopolstellung. Jetzt ist die
‚bürgerliche Arbeiterpartei‘ unvermeidlich und typisch für alle
imperialistischen Länder, aber in Anbetracht des verzweifelten Kampfes
dieser Länder um die Teilung der Beute ist es unwahrscheinlich, daß eine
solche Partei auf lange Zeit die Oberhand behalten kann." (47)
Für Lenin war der Konservativismus und Opportunismus der
Gewerkschaftsführer nicht in der Bürokratie als solche verwurzelt. Er
war ein Ergebnis der Entwicklungsstufe des Kapitalismus. Der Imperialismus
legte die Grundlage für eine privilegierte Schicht in der Arbeiterklasse,
auf die sich die Gewerkschaftsbürokratie stützte und deren
Weltanschauung sie repräsentierte.
„Auf der geschilderten ökonomischen Grundlage haben die politischen
Institutionen des neuesten Kapitalismus – Presse, Parlament, Verbände,
Kongresse usw. – die den ökonomischen Privilegien und Almosen
entsprechenden politischen Privilegien und Almosen für die respektvollen,
braven, reformistischen und patriotischen Angestellten und Arbeiter
geschaffen." (48)
Gerade in der Bewährungsprobe des Ersten Weltkrieges kamen die
bürgerlichen Arbeiterführer in der bürgerlichen Gesellschaft an, wurden
von der herrschenden Klasse „respektiert" und ins Herrschaftssystem
integriert. Indem Lenin die Arbeiterbürokratie und damit die bürgerliche
Arbeiterpolitik als Ausdruck der bornierten Interessen eines Teils des
Proletariats begreift, kommt Lenin auch zu ganz anderen Schlussfolgerungen
über die Zukunft der bürgerlichen Arbeiterpolitik als beispielsweise
Rosa Luxemburg.
„Wir haben nicht den geringsten Grund zur Annahme, daß diese
Parteien vor der sozialen Revolution verschwinden können. Im Gegenteil,
je näher wir dieser Revolution sein werden, je machtvoller sie entbrennen
wird, je schroffer und heftiger die Übergänge und Sprünge im Prozeß
der Revolution sein werden, eine um so größere Rolle wird in der
Arbeiterbewegung der Kampf des revolutionären Stroms, des Stroms der
Massen gegen den opportunistischen, den kleinbürgerlichen Strom
spielen." (49)
In der Analyse der Arbeiteraristokratie, ihren sozialen Wurzeln und der
Notwendigkeit der Verschärfung des Kampfes gegen den die bürgerliche
Arbeiterpolitik gerade in Perioden der revolutionären Zuspitzung hat
Lenin einen bleibenden theoretischen Beitrag zur Entwicklung des Marxismus
geliefert. Gerade daraus folgt sowohl die Notwendigkeit des Bruchs mit dem
Opportunismus, des Aufbaus revolutionär-kommunistischer Parteien, die
gegen den Einfluss des Reformismus in der Arbeiterbewegung kämpfen, bei
gleichzeitiger Anwendung des gesamten taktischen Arsenals der
revolutionären Arbeiterbewegung.
In der Analyse der stalinistischen Bürokratie greift Trotzki im
Übrigen auf dieselbe Methode zurück, die Lenin in der Analyse der
Arbeiterbürokratie verwendet. In „Die neue Verfassung der UdSSR"
kommt das noch deutlicher als bei Lenin zum Ausdruck. Ausgehend vom
marxistischen Grundsatz, „die Bürokratie ist keine technische, sondern
eine soziale Kategorie..." argumentiert er, dass „jede Bürokratie
(...) ihre Entstehung und Existenz einer heterogenen
Gesellschaftsstruktur, antagonistischen Interessen und innerem Kampf
(verdankt). Sie reguliert die gesellschaftlichen Widersprüche im
Interesse der privilegierten Klassen oder Schichten und erhebt dafür von
den Arbeitern einen enormen Tribut." (50)
Dies war und ist für die Gewerkschaftsbürokratie nicht weniger
richtig, als für die sowjetische Bürokratie. Die Expansion der
kapitalistischen Produktionsweise legte die Grundlage für die Entstehung
einer ausgeprägten arbeiteraristokratischen Schicht mit den
Lebensbedingungen eines komfortablen Kleinbürgers. Die
Gewerkschaftsbürokratie stützt sich auf diese Schicht und ist mit ihr
verbunden. Sie hat ihre eigene soziale Frage gelöst, wurde in die
bürgerliche Gesellschaft und den bürgerlichen Staat integriert. Die
Masse der Arbeiter sind klarerweise weder Arbeiteraristokraten noch
integrierte bürokratische Funktionäre. Aber ohne revolutionäre Partei
wird die Führung dieser Masse zwangsläufig der Arbeiteraristokratie (und
damit der Bürokratie) zufallen.
Die marxistische Tradition war daher durch die Arbeiten von Lenin und
Trotzki fähig, die soziale Basis des eigentlichen Kerns der
opportunistischen Gewerkschaftsfunktionäre auszumachen. Die Funktionäre
waren im Wesen des beschränkten, „reinen Gewerkschaftlertums" dem
Horizont der Arbeiteraristokraten verwurzelt. Die Gewerkschaftsbürokraten
haben einen eigenen Kasteninstinkt und „Kampfgeist" zum Erhalt
ihrer Stellung entwickelt.
Trotzki verdeutlicht das am Beispiel des französischen Funktionärs
Jouhaux:
„Wenn Jouhaux seine Position bisher gegen die Attacken von links
erfolgreich behaupten konnte, so nur, weil sein ganzer Apparat täglich
und stündlich zäh um seine Existenz kämpft, kollektiv die besten
Kampfmethoden wählt, für Jouhaux denkt und ihm die nötigen
Entscheidungen eingibt – nicht, weil er ein großer Stratege
wäre." (51)
Doch das heißt nicht, dass der Apparat unerschütterbar wäre.
„Eine jähe Änderung der Lage – in Richtung auf Revolution oder
Faschismus -, und der ganze Gewerkschaftsapparat verliert mit einem
Schlage sein Selbstvertrauen, seine geschickten Manöver erweisen sich als
kraftlos, und Jouhaux selbst macht, statt eines bemerkenswerten, einen
kläglichen Eindruck. Erinnern wir uns nur daran, als was für
erbärmliche Nullen die mächtigen und hochmütigen deutschen
Gewerkschaftsführer sich erwiesen, sowohl 1918, als gegen ihren Willen
die Revolution ausbrach, als auch 1932, als Hitler zum Angriff
überging." (52)
An diese Stelle macht Trotzki auch darauf aufmerksam, dass die
Bürokratie als Mittler zwischen Lohnarbeit und Kapital selbst das Produkt
von Kämpfen der Massen ist. Doch, sobald sich die Kaste einmal über die
Massen erhoben hat, trachtet sie danach, ihre Position zu festigen. Jede
gesellschaftliche Bewegung, jede Änderung ist ihr zuwider, birgt sie doch
immer die Gefahr in sich, dass die einmal errungene Bürokratenstellung
verloren gehen könnte. Die Bürokratie „hat etwas zu verlieren.
Einfluß und Wohlergeben der reformistischen Bürokratie erreichen ihren
Höhepunkt in einer Epoche kapitalistischer Prosperität und relativer
Passivität der arbeitenden Massen. Wird aber diese Passivität von rechts
oder von links aufgebrochen, so geht es auch mit der Herrlichkeit der
Bürokratie zu Ende. Ihre Klugheit und Geschicklichkeit verwandelt sich in
Dummheit und Ohnmacht." (53)
Der Marxismus geht von einem dialektischen Verständnis des
widersprüchlichen Charakters der Gewerkschaften aus. Die
Gewerkschaftsbürokratie und die Arbeiteraristokratie sind Merkmale der
Ausdehnung des Kapitalismus. In Perioden der Krise verschlechtern sich
auch die Bedingungen für die Arbeiteraristokratie. Unruhe und Militanz
werden auch unter der Arbeiteraristokratie unvermeidlich entstehen, womit
auch die Vorherrschaft der Gewerkschaftsbürokratie gebrochen werden kann.
Es ist diese Situation, die für Kommunisten und Kommunistinnen
Möglichkeiten eröffnet, die Kämpfe der Arbeiteraristokratie mit jenen
der Masse des Proletariats zu verbinden. In solchen Perioden bietet sich
die Chance, die Gewerkschaften den Händen der Bürokraten zu entreißen,
sie umzuwandeln, sie zu revolutionieren. Dieses Potential der
Gewerkschaften, sie in wirkliche Kampfinstrumente für die aktuellen
Forderungen und historischen Interessen der Arbeiterklasse umzuwandeln,
bildet den im Kern des marxistischen Programms für die Arbeit in den
Gewerkschaften liegt.
Es ist die Entwicklung dieser Position, die Entwicklung des Programms
und der Strategie für die Umwandlung der Gewerkschaften von Instrumenten
der Bürokratie zu Kampfmitteln der Arbeitenden, der wir uns jetzt
zuwenden. Marx erkannte, dass die Gewerkschaften entweder an Verhandlungen
innerhalb des kapitalistischen Systems gebunden bleiben würden oder
Agenturen für die Beseitigung des Kapitalismus selbst werden.
Die Umwandlung der Gewerkschaften
Wenn wir zu den „Instruktionen für die Delegierten des
Provisorischen Generalrates" zurückkehren, finden wir, dass Marx in
den letzten zwei Abschnitten des Kapitels „Gewerksgenossenschaften"
das Grundprogramm für die Umwandlung der Gewerkschaften in Instrumente
zur Beseitigung des Kapitalismus darlegte.
„Abgesehen von ihren ursprünglichen Zwecken müssen sie jetzt
lernen, bewußt als organisierende Zentren der Arbeiterklasse zu handeln,
im großen Interesse ihrer vollständigen Emanzipation. Sie müssen jede
soziale und politische Bewegung unterstützen, die diese Richtung
einschlägt. Wenn sie sich selbst als die Vorkämpfer und Vertreter der
ganzen Arbeiterklasse betrachten und danach handeln, muß es ihnen
gelingen, die Außenstehenden in ihre Reihen zu ziehen. (...) Sie müssen
die ganze Welt zur Überzeugung bringen, daß ihrer Bestrebungen, weit
davon entfernt, begrenzte und selbstsüchtige zu sein, auf die
Emanzipation der unterdrückten Millionen gerichtet sind." (54)
In dieser Passage ist jeder Satz gegen die Tendenz der Gewerkschaften
gerichtet, sich selbst auf den Schutz der unmittelbaren wirtschaftlichen
Interessen einer Minderheit der Facharbeiter zu beschränken. Stattdessen
hebt Marx hervor, dass die Gewerkschaften die Interessen der Massen der
Arbeiter und Arbeiterinnen hervorzuheben haben, ihre Türen all jenen weit
zu öffnen müssen, die organisiert werden können. Integraler Bestandteil
dieser Perspektive war der Aufruf, mit ihrem „unpolitischen"
Standpunkt - einer Position, die in Wirklichkeit die Anerkennung der
Politik der liberalen Bourgeoisie bedeutete - zu brechen.
Die Geschichte der Internationale ist auch die Geschichte des Kampfes
von Marx, die sich zurückhaltenden und konservativen gewerkschaftlichen
Organisationen in die Arena der zentralen politischen Tageskämpfe zu
führen. Zwischen 1867 und 1870 übte Marx durch den Generalrat einen
unaufhörlichen Druck aus, um die englischen Gewerkschaften in die „Irische
Frage" einzubeziehen. Er verlange Agitation, Demonstrationen, usw. in
Unterstützung nicht nur des irischen Rechtes auf Trennung, sondern
direkte und offene Unterstützung für die Fenians, eine militante
anti-britische nationalistische Bewegung. Diese Agitation stieß auf
bedeutende Resonanz und half, die vorhandene Feindschaft zwischen dem
englischen und irischen Proletariat in England abzubauen.
In der Frage der Frauenarbeit blieb Marx in Opposition zu den
Vorurteilen der Gewerkschaften, die versuchten, Frauen aus der Industrie
auszuschließen. Für Marx war die Präsenz von Frauen in der Industrie
und in den Reihen der organisierten Arbeiterbewegung von großer
Bedeutung. Gleichzeitig argumentierte er, dass die Gewerkschaften den
Kampf für Schutzgesetze gegen die Überausbeutung von Frauen, für
kürzere Arbeitszeit und gegen die Nachtarbeit aufnehmen sollten. Im
September 1871 schlug Marx die Gründung einer eigenen Frauensektion der
Internationale vor.
Marx war bestrebt, den Gewerkschaften die politischen Machenschaften
„ihrer eigenen" und anderer Bourgeoisien bewusst zu machen. Diese
Arbeit erreichte einen Höhepunkt in der großen Solidaritätsarbeit der
Internationale mit der Pariser Kommune. Die Diktatur des Proletariats war
mit ihr Wirklichkeit geworden, die Arbeiterklasse hielt die politische
Macht in Händen. Marx Schrift „Der Bürgerkrieg in Frankreich"
führte zu einer Spaltung in der englischen Sektion.
Für Marx und Engels hing die Aussicht, die Gewerkschaften umzuwandeln,
von einem politischen Bruch mit der Bourgeoisie und mit einer
grundlegenden Änderung des Verhältnisses zwischen den Gewerkschaften und
den Massen der Arbeiter ab. Die Gewerkschaften mussten nicht nur mit den
bürgerlichen Parteien brechen, sie hatten auch aufzuhören, der Besitz
einer selbstherrlichen und privilegierten Schicht der Arbeiterklasse zu
sein.
Die letzte Periode von Engels Einbeziehung in die englische
Arbeiterbewegung sah eine explosionsartige Ausdehnung der
gewerkschaftlichen Organisierung unter den ungelernten Arbeitern, die das
Gesicht der englischen Gewerkschaften änderte. Gleichzeitig gab es ein
Wiederaufleben des Sozialismus und der sozialistischen Presse.
Engels begrüßte die großen Streiks der „neuen
Gewerkschaften", der Zündhölzerarbeiterinnen, der Hafenarbeiter und
der Gasarbeiter, die nicht nur ein Schlag gegen das Kapital waren, sondern
ebenfalls einer gegen die alten Facharbeitergewerkschaften, die diese
Teile des Proletariats mit Geringschätzung betrachteten. Er sah den
Erfolg dieser neuen Gewerkschaften als einen großen Schritt in der
Befreiung einer ganzen Sektion der Arbeiterklasse vom Einfluss des
Lumpenproletariats und krimineller Elemente. Was Engels im Besonderen
begrüßte, war der Wille und das Bestreben der neuen Gewerkschaften, alle
Arbeiter zu organisieren.
Diese neuen Gewerkschafter waren keine Sozialisten, aber sie hatten
nicht ihren Frieden mit dem Kapitalismus geschlossen. Sie betrachteten
ihre unmittelbaren Forderungen als provisorisch und obwohl sie wenig von
den historischen Zielen der Arbeiterklasse verstanden, wählten sie
trotzdem als ihre Führer „nur anerkannte Sozialisten".
Schließlich repräsentierten diese neuen Gewerkschaften eine Basis für
die Umwandlung der Arbeiterbewegung von unten, für ein Hinausdrängen der
alten Führer.
Engels sah gleichzeitig voraus, dass dies aufgrund der politischen
Rückständigkeit und des tief verwurzelten Pragmatismus der britischen
Arbeiterschaft nicht einfach sein würde.
„Sie sehen also: die Trade-Union wird ins Parlament einziehen; nicht
die Klasse, sondern der Industriezweig fordert vertreten zu sein. Aber das
ist immer ein Schritt vorwärts. Zuerst muß man erreichen, daß sich die
Arbeiter aus der Abhängigkeit von den großen bürgerlichen Parteien
befreien, daß die Textilarbeiter, wie bereits die Bergarbeiter, ins
Parlament kommen". (55)
Engels Versuch, Taktiken gegen die konservativen Gewerkschaftsführer
zu entwickeln, wurde von der Linken in der Zweiten Internationale
Fortgesetzt. Es ist kein Zufall, dass sich die wichtigsten politischen
Auseinandersetzungen wie z.B. die Generalstreikdebatte um die Frage der
Einbeziehung der proletarischen Massen entwickelten, um die Überwindung
der Schranken des ökonomischen Kampfes und seine Überführung in eine
bewussten politischen Kampf.
In der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung konzentrierte sich die
Auseinandersetzung auf die Rolle und das Potential der Generalstreikwaffe.
Die Parteimehrheit unterstützte die Ansicht Bebels, dass der
Generalstreik eine nützliche Waffe war, der als Defensivmittel genutzt
werden sollte, wenn die demokratischen Rechte der Arbeiterbewegung
angegriffen werden.
Für Luxemburg und die Parteilinke entsteht der Massenstreik, wie in
Russland und Belgien erfahren, aus der Verschärfung der
Klassenwidersprüche. Er war anders als für Bebel nicht nur eine
defensive Antwort. Der Auffassung von Luxemburg und die Parteilinken
zufolge konnte der Generalstreik auch nicht „organisiert" oder auf
einen einzelnen Akt beschränkt werden, z.B. um eine Ausdehnung des
Wahlrechts zu erreichen. Er hat zu der spontanen Kampfbereitschaft der
Masse der Klasse in Beziehung zu stehen, um Aktionen für wirtschaftliche
als auch politische Ziele durchzuführen. Luxemburg sah den Massenstreik
als eine direkte Massenaktion, die ihre Kraft aus der Vielzahl defensiver
Kämpfe schöpfte, diese aber in einer mächtigen politischen Offensive
sammelte.
Am Parteikongress in Jena planten einige Vertreter der Linken, „in
der Diskussion nach der Richtung hin (die Bebelsche Resolution) zu
bekämpfen, um den Massenstreik nicht als mechanisches Rezept für
politische Defensive, sondern als elementare Revolutionsform zu
vertreten" (56)
Da die Linke jedoch befürchtete, der Rechten damit eine
Angriffsmöglichkeit zu geben, entschieden sie dagegen. Sie stimmten mit
Bebels Formel, die die Nützlichkeit des Generalstreiks anerkannte, wenn
auch als eine begrenzte und defensive Taktik. Dabei war Luxemburg bewusst,
dass Bebels Auffassung „einseitig und flach" war. Diese von der
sozialdemokratischen Linken immer wieder verfolgte Taktik, die Differenzen
mit der Parteiführung um Bebel (wie auch mit Kautsky) zugunsten
gemeinsamer Abwehr der Rechten hinanzustellen und so die politische
Sammlung um eine geschlossene marxistische Programmatik ständig
hinauszuzögern, sollte sich hier rasch als Rohrkrepierer erweisen.
Der Parteitag nahm zwar Bebels Resolution gegen den Widerstand der
Gewerkschaftsführer an. Aber am 16. Februar 1906 einigten sich
SPD-Exekutive und Gewerkschaftsspitze stimmte in einer geheimen Sitzung,
jede Propaganda über den Massenstreik einzustellen, so gut wie möglich
zu versuchen, einen solchen zu verhindern. Den Gewerkschaftsführern wurde
ein Vetorecht eingeräumt. Nur wenn sie zustimmten, würde auch die Partei
zum Generalstreik aufrufen! Diese schmachvolle Vereinbarung zeigte die
vollständige Kapitulation der Partei vor der Gewerkschaftsbürokratie.
E
rst in Vorbereitung auf den Parteikongress in Mannheim wurden Teile
dieser Vereinbarung bekannt. Luxemburg verfasste aus diesem Anlass ihrer
Schrift „Massenstreik, Partei Gewerkschaften". Darin hob sich
nochmals die Grenzen der „reinen gewerkschaftlichen" Taktiken und
Organisation hervor. Sie betonte die Bedeutung der „rückständigen",
unorganisierten Teile des Proletariats, der Textilarbeiterinnen, der
Elektrizitätsarbeiter, Heim-, Land-, Eisenbahn- und Postarbeiter für die
„russische Bedingungen inmitten des konstitutionell parlamentarischen
Staates Deutschlands existieren."
Die Vorstellung, dass diese Teile der Arbeiterschaft das Streik- und
Organisationsrecht durch friedliche, rein legale Mittel erreichen
könnten, sein ein typisches Beispiel für den Utopismus der
Gewerkschaftspedanterie. Eine mächtige Massenstreikbewegung könnte diese
Ziele durchsetzen, indem sie die Forderungen nach dem 8 Stundentag, den
Kampf für die Einführung von Arbeiterkomitees in allen Fabriken, die
Abschaffung der Stück- und Heimarbeit, einen freien Sonntag und die
Anerkennung des Rechts auf Vereinigung der Beschäftigten zusammenfasst.
In den Fußstapfen von Engels, entwickelte Luxemburg die
Schlüsselelemente der marxistischen Strategie für die Umwandlung der
Gewerkschaften. Das Hineinziehen der Arbeitermassen in die direkten
politische Aktionen, der Angriff auf die Berufs- und
Branchenzersplitterung, der Angriff auf den Würgegriff der
Gewerkschaftsbürokraten – all das sind zentrale Elemente des sich
entwickelten marxistischen Programms für die Umwandlung der
Gewerkschaften.
Lenins konsequenter Kampf gegen den Ökonomismus und in Verteidigung
von „Was tun?" brachte ihn in scharfen Konflikt mit den
Menschewiken, die begierig waren, den Marxismus zu revidieren und die „Neutralität"
der Gewerkschaften auszurufen. Der Kampf innerhalb der russischen Partei
bezog sich auf die selben Inhalte wie in der deutschen Sozialdemokratie
und in der Zweiten Internationale. Er einigte Lenin mit Luxemburg und
(scheinbar) mit Kautsky. 1907 und 1908 unterstützte sie Lenin in ihrem
Kampf gegen die deutschen Gewerkschaftsführer, obwohl er vor der
deutschen Sozialdemokratie und Bebel enormen Respekt hatte.
In der russischen Sozialdemokratie, erst kurz vereint durch den
Stockholmer Kongress von 1906, entstand ein bedeutender Kampf zwischen den
Bolschewiki und den Menschewiki über die Frage der „Gewerkschaftsneutralität".
Lenin trat für Gewerkschaften auf breiter Basis, mit ihrer eigenen
uneingeschränkten Demokratie ein und wandte sich dagegen,
Parteistrukturen zu schaffen, die als Gewerkschaften verkleidet waren.
Der große Wert von Gewerkschaften war, dass sie bisher nicht
klassenbewusste Arbeiter und Arbeiterinnen organisierten, sie in den
elementaren Stufen der Klassenkampfsolidarität, der Feindschaft zu den
Unternehmern, usw. erzogen. Daher müssten Marxisten innerhalb dieser
Organisationen arbeiten, um sie mit dem Geist der Sozialdemokratie zu
erfüllen und die Führung dieser zu gewinnen. Der Aufstand von 1905/06,
der die ganze Avantgarde der russischen Arbeiterklasse radikalisierte und
bei Millionen das Klassenbewusstsein weckte, schuf eine wahre
Massenbewegung, die die russischen Marxisten vor neue Aufgaben stellte.
Die zentristischen Menschewiki passten, in Panik versetzt, ihre Politik
und Programme an diese Massenbewegungen an und als die Revolution verebbte
und das Niveau des Massenbewusstseins fiel, waren sie gezwungen, die durch
die Iskra Gruppe vor 1902 entwickelte Strategie und Taktiken als nutzlosen
Ballast über Board zu werfen. Plechanow wurde ein schreiender Vertreter
der Gewerkschaftsneutralität und Axelrod wurde, beeinflusst vom
westeuropäischen Syndikalismus, Befürworter eines breiten
Arbeiterkongresses, innerhalb dessen die Sozialdemokraten und die
Sozialrevolutionären sich selbst als Propagandagesellschaften
beschränken sollten.
Die Kämpfe mit den Menschewiki auf dem Londoner Kongress der
russischen Partei (Mai 1907) und auf dem Stuttgarter Kongress der Zweiten
Internationale (August 1907) überzeugten Lenin vollständig:
„Die Resolution des Stuttgarter Kongresses macht, wie Kautsky richtig
hervorhob und wovon sich jeder durch aufmerksames Studium überzeugen
kann, der prinzipiellen Anerkennung der ‚Neutralität‘ ein Ende. Von
Neutralität und Parteilosigkeit steht in ihr kein Wort. Im Gegenteil, es
wird mit aller Bestimmtheit die Notwendigkeit anerkannt, innige
Beziehungen zwischen den Gewerkschaften und der sozialistischen Partei
herzustellen und diese Beziehungen dauernd zu unterhalten." (57)
Bedeutender ist, dass Lenin half die Partei und als ein Teil des
Blockes, bestehend aus Luxemburg, Kautsky und anderen, die Internationale
zu einer Absage an den Neutralismus zu gewinnen. Darin waren sie sogar
gegen den Veteran Bebel erfolgreich, der das mit den Gewerkschaften
geschlossene „Zwei Pfeiler" Argument verteidigte. Lenin lehnte im
Bezug auf die Gewerkschaften nachdrücklich eine Beschränkung der Politik
auf die bloße „Anerkennung" des Sozialismus ab. Vielmehr war es
für in unabdingbar, dass die Sozialdemokraten in den legalen
Massenorganisationen wie den Gewerkschaften eigene Parteigruppierungen mit
eigener Disziplin aufbauen, um so den Kampf gegen den bürgerlichen
Einfluss und für eine revolutionäre Führung systematisch zu führen.
„Die Sozialdemokraten müssen zu allen Arbeitervereinigungen
möglichst bereite Arbeiterkreise heranziehen, indem sie alle Arbeiter
ohne Unterschied der Parteianschauung zum Beitritt auffordern. Die
Sozialdemokraten müssen jedoch innerhalb dieser Vereinigungen
Parteigruppen bilden und durch beharrliche, systematische Arbeit innerhalb
dieser Vereinigungen dahin wirken, daß zwischen ihnen und der
sozialdemokratischen Partei die engsten Beziehungen hergestellt werden.
3. Die Erfahrungen der internationalen und unserer russischen
Arbeiterbewegung lehren die Notwendigkeit, vom Augenblick der Entstehung
solcher Arbeiterorganisationen (Gewerkschaften, Genossenschaften, Klubs
usw.) an danach zu streben, daß jede dieser Institutionen ein Stützpunkt
der sozialdemokratischen Partei sei."(58)
Dementsprechend müssen die Parteimitglieder regelmäßige Beratungen
untereinander abhalten und bei Wahlen in diesen Organisationen um die
Führung kämpfen. Der Verzicht darauf bedeutet einfach, die Führung der
Gewerkschaften nicht-proletarischen Strömungen zu überlassen.
Nachdrücklich nach dem endgültigen Bruch 1912 verteidigten die
Bolschewiki diese Position mit Nachdruck, obwohl sie in den Gewerkschaften
einem feindlichen Block von Menschewiki und Sozialrevolutionären
gegenüberstanden. Für diesen Block war die Neutralität nicht mehr als
sich „ein Zeichen aufzustecken"; während sie laut die
Notwendigkeit proklamierten, die Gewerkschaften neutral zu halten,
schlossen sie in jenen Gewerkschaften ihre Gegner aus, in denen sie
zeitweilig die Mehrheit erhielten.
„Nur schwache, prinzipienlose verlieren beim ersten ‘Sieg’ den
Kopf und beeilen sich, ihren Sieg mit der Mehrheit von irgendeinem Dutzend
Stimmen zu ‚festigen‘. ‚In Erregung und Eile‘, um die glückliche
Gelegenheit nicht zu verpassen, revidieren sie schnell ihrer ‚Prinzipien‘,
vergessen ihren Neutralismus und kleben ein Etikett auf. So handeln
Marxisten nicht. Sie sind keine gelegentlichen Gäste in der
Arbeiterbewegung. Sie wissen, daß früher oder später alle
Gewerkschaften auf marxistischem Boden stehen werden. Sie sind überzeugt,
daß die Zukunft ihren Ideen gehört, und sie forcieren die Ereignisse
nicht, treiben die Gewerkschaften nicht an, kleben keine Etiketts auf,
spalten die Gewerkschaften nicht." (59)
Die offene und ehrliche Darlegung ihrer Prinzipien, Programme und
Taktiken, ihre Organisation in dafür kämpfenden Zellen ist für
Marxisten daher untrennbar verbunden mit der Verteidigung der
gewerkschaftlichen Demokratie, der Einheit und Offenheit für alle
Lohnabhängigen. Marxisten kämpfen offen dafür, die Arbeiter und
Arbeiterinnen für den Kommunismus und eine revolutionäre Führung zu
gewinnen. Im Kampf um diese Führung legen sie gleichzeitig dar, dass sie
die Gewerkschaften auf die zentrale Aufgabe der Partei, dem Kampf für die
Macht der Arbeiterklasse ausrichten wollen.
Diese Methode wurde durch die Arbeit der Kommunistischen Internationale
systematisiert und konkretisiert. Unter Einbeziehung der Erfahrungen der
sozialdemokratischen Linken der Nachkriegszeit, der Syndikalisten, die
nach 1917 zum Kommunismus gewonnen wurden und der Bolschewiki, diskutierte
die Komintern erstmals auf dem zweiten Kongress 1920 die
Gewerkschaftstaktiken und -strategie.
Periodische Krisen würden – so Lenin und Trotzki - die
Lebensfähigkeit des „reinen Gewerkschaftlertums" unterminieren,
indem neue Arbeiterschichten in den Kampf einbezogen werden. Die Komintern
beschrieb 1920 diesen Prozess folgendermaßen:
„Um im wirtschaftlichen Kampf Erfolg zu haben, strömen die
breitesten Arbeitermassen, die bisher außerhalb der Gewerkschaften
standen, in ihre Reihen. (...) Indem sie in die Gewerkschaften
hineinströmten, versuchten diese Massen sie zu ihrer Kampfwaffe zu
machen. Die sich verschärfenden Klassengegensätze nötigen die
Gewerkschaften zur Leitung von Streiks, die in breiter Welle über die
ganze kapitalistische Welt fluten und den Prozess der kapitalistischen
Produktion und des Austausches ständig unterbrechen. (...) Die
Gewerkschaften, die während des Krieges zu Organen der Beeinflussung der
Arbeitermassen im Interesse der Bourgeoisie geworden waren, werden jetzt
zu Organen der Zerstörung des Kapitalismus." (60)
Gewerkschaften als „Organe der Zerstörung des Kapitalismus"
müssen sich als ihr zentrales Ziel notwendigerweise den Kampf um die
Kontrolle der Produktion setzen. Daher war das von der Komintern
vorgebrachte Programm der Umwandlung der Gewerkschaften auf solche Fragen
zugespitzt wie: ein Bruch mit jedem berufsständischen Aufbau und
Schaffung von Industriegewerkschaften; Schaffung von Fabrikkomitees, die
für den Kampf um die Arbeiterkontrolle organisieren; Demokratisierung des
Gewerkschaftsapparates direkt unter der Kontrolle der Basis der
Gewerkschaften. Die Kommunistinnen und Kommunisten traten für die
Transformation der Gewerkschaften zu Organen des Klassenkampfes ein. Ohne
diese Änderung der Gewerkschaften würden sich diese mehr und mehr als
unfähig erweisen, den Lebensstandard und das Kulturniveau der
Arbeiterklasse zu verteidigen.
Eine solche Transformation kann nicht schrittweise, nicht kampflos und
auch nicht friedlich vor sich gehen. Vor allem aber können die
Halbherzigkeit der opportunistischen Führer wie die Unmöglichkeit der
Realisierung der grundlegenden Interessen des Proletariats auf dem Boden
des Kapitalismus der Arbeitermasse nur verdeutlicht werden, wenn die
kommunistische Avantgarde lernt, „im Wirtschaftskampf nicht nur
Verkünder der Ideen des Kommunismus zu sein, sondern die entschlossensten
Führer des Wirtschaftskampfes und der Gewerkschaften zu werden. Nur auf
diese Weise wird es möglich sein, aus den Gewerkschaften die
opportunistischen Führer zu entfernen. Nur auf diese Weise können die
Kommunisten an die Spitze der Gewerkschaftsbewegung treten und sie zu
einem Organ des revolutionären Kampfes für den Kommunismus machen."
(61)
Angesichts der kapitalistischen Krise, der Ausdehnung der
Gewerkschaften und des Drucks der Massen, war es unvermeidbar, dass die
Gewerkschaftsbürokratie von inneren Widersprüchen geschüttelt würde.
Diese Tatsache wurde von Trotzki in seinen kurzen, aber bedeutenden
Arbeiten über die Gewerkschaften diskutierte und zusammengefasst (62).
Für Trotzki ist in der imperialistischen Epoche wenig Raum für den
Schein von „Unabhängigkeit" und politischer „Neutralität"
der Gewerkschaftsbewegung. Die Gewerkschaftsbürokratie ist vielmehr zur
Verlängerung des bürgerlichen Staates in die Arbeiterbewegung geworden.
Diese Funktionsveränderung begründet Trotzki nicht nur mit dem Charakter
der Bürokratie und Arbeiteraristokratie, sondern vor allem damit, dass
der Kapitalismus Monopolkapitalismus geworden ist. Gerade daraus ergibt
sich für die reformistische Gewerkschaftsbürokratie die Notwendigkeit,
sich dem bürgerlichen Staat anzupassen, in ihm das bevorzugte Vehikel der
Umsetzung ihrer Interessen zu erblicken.
„Die Gewerkschaftsbürokratie sieht ihre Hauptaufgabe darin, den
Staat aus der Umklammerung des Kapitalismus zu ‚befreien‘, seine
Abhängigkeit von den Trusts zu mildern und ihn auf ihre Seite zu ziehen.
Diese Einstellung entspricht vollkommen der sozialen Lage der
Arbeiteraristokratie und der Arbeiterbürokratie, (...)." (63) Diese
gegenüber den Frühkapitalismus qualitativ verstärke Integration in den
bürgerlichen Staat führt auch dazu, dass in den Gewerkschaften die
Demokratie eingeschränkt sein muss – und von der Bürokratie im
Wesentlichen immer mehr eingeschränkt wird, je mehr sie ihr Machtmonopol
gefährdet sieht.
Diese Züge der Gewerkschaften hält Trotzki – solange die
Gewerkschaften selbst nicht zu revolutionären Organen geworden sind –
für unvermeidbar (und die Geschichte hat ihm an dieser Stelle zweifellos
Recht gegeben). Allerdings dürfen sie in keinem Fall als Entschuldigung
für das Verbleiben von den Gewerkschaften und die Ablehnung des Kampfes
innerhalb der Massenorganisationen des Proletariats herhalten.
Trotzki entwickelt zwei Losungen, die für ihn von zentraler Bedeutung
zur Eroberung der Gewerkschaften sind: Der Kampf um die Unabhängigkeit
vom bürgerlichen Staat und die Gewerkschaftsdemokratie.
Doch Unabhängigkeit vom bürgerlichen Staat darf hier nicht in erster
Linie formal verstanden werden. Diese hat vielmehr einen bestimmten
politischen Inhalt, das revolutionäre Programm, ohne den die „Unabhängigkeit"
nur Betrug sein kann.
„In Zeiten des imperialistischen Verfalls können die Gewerkschaften
nur dann wirklich unabhängig sein, wenn sie sich bewußt werden, daß sie
in ihrer Tätigkeit die Organe der proletarischen Revolution sind. In
diesem Sinne ist das vom letzten Kongreß der IV. Internationale
angenommene Übergangsprogramm nicht nur das Programm für die Tätigkeit
der Partei, sondern in seinen Grundzügen auch das Programm für die
Tätigkeit der Gewerkschaften." (64)
Und an anderer Stelle:
„Unabhängigkeit vom Einfluß der Bourgeoisie kann kein passiver
Status sein. Sie kann sich nur in politischem Handeln äußern, d.h. durch
den Kampf gegen die Bourgeoisie. Dieser muß angeleitet sein von einem
eindeutigen Programm, das eine Organisation und die Taktiken für ihre
Anwendung erfordert. Erst die Einheit von Programm, Organisation und
Taktik konstituiert die Partei. In dem Sinne kann die wirkliche
Unabhängigkeit des Proletariats vom bürgerlichen Staat nur dann erzielt
werden, wenn das Proletariat seinen Kampf unter der Führung einer
revolutionären, und nicht einer opportunistischen Partei austrägt."
(65)
Sie wie die Unabhängigkeit der Gewerkschaften nur auf revolutionärer
Grundlage möglich ist, so ist auch die Demokratisierung der
Gewerkschaften nur möglich, wenn und nachdem die Macht der Bürokratie
gebrochen ist – eben weil der Kampf um Gewerkschaftsdemokratie in
Wirklichkeit der Kampf gegen eine Kaste ist, die schon lange ihren Frieden
mit dem Kapitalismus gemacht hat, deren soziale Frage gelöst ist.
Wichtig ist dabei zu betonen, dass die Selbständigkeit der
Gewerkschaften, ihre „wirkliche Autonomie" keineswegs im Gegensatz
zur kommunistischen Führung steht (anders als das in den stalinistischen
Vorstellungen zum Ausdruck kam). Die Gewerkschaftsdisziplin und die
Parteidisziplin schließen einander für Trotzki nicht aus. Die
Kommunisten müssen beanspruchen, was jeder politischen Strömung in den
Gewerkschaften zustehen soll und was in der gegenwärtigen Periode von der
reformistischen Bürokratie monopolisiert wird: das Recht auf
unbehindertes Vertreten der eigenen Auffassungen, Propaganda- und
Agitationsfreiheit.
Doch den Kampf müssen sie führen, denn damals wie heute gibt es nur
eine Alternative: Die Gewerkschaften können sich entweder als Instrumente
für die Unterordnung der Arbeiterklasse unter das Kapital erweisen - oder
in den Händen der Massen und unter der Führung einer revolutionären
kommunistischen Partei zu einer entscheidenden Waffe zum Sturz des
Kapitalismus und zur Errichtung der Diktatur des Proletariats werden.
Anmerkungen
(1) Marx, Lohn, Preis, Profit, MEW
(2) Marx, Das Kapital, Band 1, MEW 23, S. 185
(3) Marx, Das Kapital, Band 1, MEW 23, S. 191
(4) Marx, Das Kapital, Band 1, MEW 23, S. 249
(5) Engels, Das Lohnsystem, MEW 19, S. 253
(6) Marx, Das Kapital, Band 1, MEW 23, S. 649
(7) Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, MEW 2, S. 436
(8) Engels, ebenda, S. 441
(9) Marx, Instruktionen, MEW 16, S. 197
(10) Marx, Kapital, Band 1, S. 562
(11) Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, in: Gesammelte
Werke, Bd. 1/1, S. 420
(12) Lenin, Gesammelte Werke, Band 6, S. 472
(13) Lenin, Was Tun,
(14) Lenin, Gesammelte Werke, Band 10, S. 16
(15) Luxemburgs Scheitern in der deutschen Revolution, siehe RM 26
Novemberrevolution
(16) Trotzky, How Has Stalin Defeated the Left Opposition, in: Writings
35 6, S. 173/74
(17) Royden Harrison, Labour before the Socialists
(18) Brief von Marx and Sigfrid Meyer und August Vogt, 9. April 1870,
MEW 32, S. 668/669
(19) Brief von Marx and Kugelmann, 18. Mai 1874, MEW 33, S. 628
(20) Brief von Engels an Marx, 7. Oktober 1858, MEW 29, S. 358
(21) Ebenda, S. 358
(22) Brief von Engels an Kautsky, 12. September 1882, MEW 35, S. 357
(23) Brief von Engels an Bebel, 30. August 1883, MEW 36, S. 58
(24) Engels, England 1845 und 1885, MEW 21, S. 194
(25) Engels, Die englischen Wahlen, MEW 18, S. 496
(26) Ebenda, S. 497
(27) Ebenda, S. 498
(28) Engels, Vorwort zur 2. deutschen Auflage der „Lage der
arbeitenden Klasse", MEW 22, S. 328/329
(29) Schneider, Michael, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, Bonn,
Dietz 1989, S. 493/494
(30) Kautsky, Der Weg zur Macht, Frankfurt/Main 1972, S. 78
(31) J.Kuczynski, Short History of Labour Conditions Under Industrial
Capitalism, Vol. 3, Pt. 1, p. 139
(32) Zitiert in R. Schlesinger, Central European Democracy and its
Background, p. 70 1
(33) Zitiert nach Wolfgang Köllmann, Politische und soziale
Entwicklung der deutschen Arbeiterschaft 1850 – 1914, in: Ritter (Hrsg),
Die Deutschen Parteien vor 1918, S. 324
(34) Paul Frölich, Rosa Luxemburg, Frankfurt/Main 1967, S. 82
(35) Resolution des Gewerkschaftskongresses in Köln, in: Schneider,
Kleine Geschichte der Gewerkschaften, S. 416
(36) Wolfgang Abendroth, Aufstieg und Krise der deutschen
Sozialdemokratie, Frankfurt/Main 1969, S. 43/44
(37) Dieses Vetorecht ist in folgender Formulierung des Mannheimer
Parteitags enthalten: „Um bei Aktionen, die die Interessen der
Gewerkschaften und der Partei gleichmäßig berühren, eine einheitliches
Vorgehen herbeizuführen, sollen die Zentralleitungen der beiden
Organisationen sich zu verständigen suchen."
(38) Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, in:
Luxemburg, Gesammelte Werke, S. 162/163
(39) Ebenda, S. 163
(40) Ebenda, S. 169
(41) Solche Formulierungen finden sich zum Beispiel am Beginn des VIII
Abschnittes von „Massenpartei, Partei und Gewerkschaften". Wir
haben auch in der Analyse von Luxemburgs Politik in der Novemberrevolution
auf die fatalen Auswirkungen dieses Position hingewiesen.
(42) Lenin, In Amerika, In: Gesammelte Werke, Band 36, S. 189
(43) Ebenda, S. 189
(44) Lenin, Klassenkrieg in Dublin, in: Lenin, Werke, Band 19, S. 326
(45) Lenin, Was man der deutschen Arbeiterbewegung nicht nachahmen
soll, in: Lenin, Gesammelte Werke, Band 20. S. 255
(46) Lenin, Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus, Lenin,
Werke Bd. 23, S. 112
(47) Ebenda, S. 113
(48) Ebenda, S. 114
(49) Ebenda, S. 116
(50) Trotzki, Die neue Verfassung der UdSSR, in: Trotski Schriften,
Sowjetgesellschaft und Stalinistische Diktatur, 1929-36, Band 1.1., S. 663
(51) Trotzki, Wie hat Stalin über die Opposition gesiegt?, in:
Schriften 1.1, S. 640
(52) Ebenda, S. 640
(53) Ebenda, S. 641
(54) Marx, Instruktionen für die Delegierten des Zentralrats, MEW 16,
S. 197/198
(55) Engels an Plechanow, 21.5.1894, in: MEW 39, S. 248
(56) Luxemburg an Henriette Roland-Holst, zitiert nach Frölich, S. 165
(57) Lenin, Der Internationale Sozialistenkongreß in Stuttgart, Werk
Bd. 13, S. 70
(58) Lenin, Resolution der Sommerberatung des Zentralkomitees der SDAPR,
in: Lenin, Werke 19, S. 418/19
(59) Lenin, Die Volkstümler und die Liquidatoren in der
Gewerkschaftsbewegung, Lenin, Werke 20, S. 133
(60) 2. Weltkongress der KI, Leitsätze über die
Gewerkschaftsbewegung, die Betriebsräte und die III. Internationale, in:
Die Kommunistische Internationale, Manifeste, Leitsätze, Thesen und
Resolutionen, Bd. 1, Berlin 1984, S. 186
(61) Ebenda, S. 188
(62) Leider sind einige dieser Arbeiten in deutscher Sprache schwer
zugänglich. Eine gute Auswahl findet sich in: Trotzki, Gewerkschaften und
Revolution, Dortmund 1977
(63) Gewerkschaften in der Epoche des imperialistischen Niedergangs, S.
36
(64) Ebenda, S. 40
(65) Trotzki, Kommunismus und Syndikalismus, in: Trotzki,
Gewerkschaften und Revolution, S. 75