Der Rentenbetrug

Jürgen Roth

In der letzten ARBEITERMACHT schilderten wir das Vorhaben der „rot-grünen“ Bundesregierung, mit dem „Reformvorschlag“ von Arbeitsminister Riester den Einstieg in den Ausstieg aus der paritätisch finanzierten gesetzlichen Rentenversicherung festzulegen. Doch wie gegen dieses Vorhaben ankämpfen?

Gewerkschaften


Das Kabinett Schröder benötigt nur bei der staatlichen Förderung der geplanten privaten Zusatzversorgung die Zustimmung des Bundesrats. Hier zeichnet sich eine Kompromissbereitschaft der Bundesregierung ab. So nahm das Arbeitsministerium die von CDU/CSU geforderten Zuschüsse beim Aufbau der Sparrente bereits in seinen Entwurf auf. Die Opposition kann sich auch rühmen, die frühere Wiederanpassung der Renten an die Nettolöhne ab nächsten Jahres wie auch eine bessere Förderung von Familien mit Kindern durchgesetzt zu haben. Da aber zugleich die Basis für die Berechnung der Nettolöhne etwa durch Abzug steuerlicher Erleichterungen sowie die Einführung einer privaten Zusatzvorsorge ab 1.1.2001 geschmälert wird, fallen diese Korrekturen eher kosmetisch aus.

Die eigentlichen Anliegen von Christenunion und FDP liegen eher woanders als auf Seiten der „Arbeitnehmer“. Das oppositionelle Lager wettert gegen „Hemmnisse“ für weitergehende Deregulierung: es will die Begrenzung der Privatvorsorge auf Anlageformen mit einer lebenslangen Rentenzahlung nicht mitmachen, sondern fordert eine Erweiterung auf Immobilien und Einmal-Kapitalzahlungen!

DGB-Vizepräsidentin Engelen-Kefer sieht noch erheblichen Korrekturbedarf sowohl bei der Betriebsrente als auch beim zu niedrigen Rentenniveau. Darum unterstützte der DGB auch Protestaktionen, um den Forderungen Nachdruck zu verleihen.

Die Gewerkschaft ÖTV schreibt zum Reformentwurf (das ötv-magazin 8-9/2000):

„Damit wird ein tragender Pfeiler der gesetzlichen Rentenversicherung - die paritätische Finanzierung – aufgegeben. Zudem wird ein Ausgleichsfaktor eingeführt, der ab 2011 jährlich die Zugangsrenten vermutlich um 0,3 Prozent mindern wird. Dieser Kürzungsfaktor soll bis 2030 auf sechs Prozent ansteigen, und zwar unabhängig davon, ob jemand eine private Vorsorge aufbauen konnte. Statt aber eine bereits angekündigte soziale Grundsicherung aufzubauen, sieht die Bundesregierung jetzt lediglich ein einfacheres Verfahren bei der Sozialhilfe für über 65-jährige vor. Ein Rückgriff auf die Kinder, wie bisher, soll aber ausgeschlossen werden. Auch der vorgesehene Einstieg in die eigenständige Alterssicherung von Frauen ist nur noch als Absichtserklärung und ohne eine konkrete Ausgestaltung erkennbar. Zudem wird selbst die bisherige Hinterbliebenenrente mit dem Einfrieren der Freibeträge und Anrechnung weiterer Einkommen noch verschlechtert. Auch die Einbußen der heutigen Rentnerinnen und Rentner werden deutlich höher ausfallen als nach den bisherigen Regelungen. Dafür sorgt die vorgesehene neue Rentenanpassungsformel, die rentensteigernde Faktoren weitgehend herausrechnet, tatsächliche oder auch nur fiktive Beiträge zur privaten Altersvorsorge aber berücksichtigt und damit das Rentenniveau nochmals senkt.“

Und die Schlussfolgerung: „Für die Gewerkschaft ÖTV ist dieses Rentenkonzept unannehmbar. Gewerkschaft ÖTV und (DGB) werden alle Möglichkeiten nutzen und auf die Regierung einwirken, um ein sozial akzeptables Rentenkonzept zu erreichen.“ Auf die SPD-Parteifreunde inkl. ehemaliger Gewerkschaftsspitzenfunktionäre wie Walter Riester „einwirken“, zu diesem Zweck begrenzte Protestdemonstrationen der eigenen Basis inszenieren - das ist der ganze „Kampf“ der Spitzenvertreter und -verräter der reformistischen Arbeiterbewegung, deren Reformstrategien stets von der Gnade der Unternehmer abhingen und die folglich bei nachlassender „Großzügigkeit“ ihrer Herren einen Eiertanz zwischen „Mahnungen und Warnungen“ einerseits und grundlegender Akzeptanz der kapitalistischen Konterreform, ihrer „begleitenden und gestaltenden“ Umsetzung in der Arbeiterklasse auflegen müssen - stets mit dem Verweis, damit größeres Unheil zu vermeiden!

Klassischer und linker Reformismus

Dr. Johannes Steffen, Referent der Arbeiterkammer Bremen, hat sich als scharfsichtiger Kritiker der „rot-grünen“ Rentenpläne erwiesen. Wir stützten unseren Artikel in ARBEITERMACHT 58 auf seine Untersuchung „Angriff auf die Rente - Behauptungen + Tatsachen zur rot-grünen Rentenpolitik“ (isw wirtschaftsinfo Nr. 30, Juli 2000). Auch seine Perspektive hebt sich positiv vom rechten Anpaßlertum der reformistischen Führungen ab, indem er „nur“ das bisherige System der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) verteidigt und die Aufrechterhaltung einer lebensstandardsichernden Rente mit dem Mittel eines paritätisch finanzierten Beitragssatzes von rund 26% im Jahre 2030 fordert (a.a.O., S. 20). Was Steffen nicht hinterfragt: Inwieweit sicherte die klassische Rentenformel den Lebensstandard der Lohnarbeiter (70% vom Nettolohn, nichterwerbstätige Hausfrauen von Lohnarbeitern, Invaliden, Langzeitarbeitslose)? Wer garantiert denn den Erhalt selbst dieses Niveaus bei 26% Beitragssatz? Wieso hinterfragt Steffen nicht eine der Grundannahmen des Reformismus? Die lautet: wenn die Profite florieren, geht es auch den Lohnabhängigen gut; Lohnverzicht heute schafft Arbeitsplätze und sonstige Wohltaten morgen; heute die Kuh mästen, die man morgen melken kann. Diese Sprüche rechtfertigten z.B. 1973 den Sozialabbaus, die Arbeitslosigkeit aber nahm zu. Diese Politik führte ab den 80er und besonders den 90er Jahren zu einer Erholung der Profite, ohne dass es zu einem Nachlassen der Unternehmerangriffe, zu einer Abkehr von Sozialabbaupolitik gekommen wäre.

Alternative

Diverse Vertrauensleutekörper (VLK) im Bereich der IG Metall gehen über den Rahmen einer Analyse hinaus: sie begrüßen, dass älteren Arbeitskollegen das Ausscheiden aus dem Arbeitsleben erleichtert wird, damit Jüngere wieder Arbeit finden. Der Unterschied zu obigen „Strategien“: Verknüpfung mit Beschäftigungspolitik und Arbeitszeitverkürzung, Anbindung der Rentenfrage an die Auseinandersetzungen im Produktionssektor. Abgelehnt werden alle „Beschäftigungsbrücken“, die die Unternehmer schonen (z.B. Tarifrenten durch Lohnverzicht); bei denen die Einzahler keinen Rentenanspruch erwerben; die keine Wiederbesetzung der freiwerdenden Stellen festschreiben; die die GRV zu ersetzen anfangen (aushöhlen sollen). Sie wehren sich gegen eine diesbezügliche Anrechnung manteltarifvertraglicher Leistungen („vermögenswirksame“ Leistungen, Wochenarbeitszeit, Kündigungsschutz etc.) und sie fordern eindeutige Berechenbarkeit, wenn ein Teil der Lohnerhöhung mit Ersetzung der freiwerdenden Stellen verknüpft wird. Ferner verbinden sie diese Forderungen mit wirksamen Lohnerhöhungen während der Tarifrunde und fordern von der IG Metall eine Kampagne zwecks Senkung des Rentenalters auf 60 Jahre ohne Abzüge (die Beispiele stammen aus VLKs des Bezirks Stuttgart, Januar 2000).

Die AG Tarifpolitik der Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken (IVG) systematisiert das Verständnis der heutigen vom Linksreformismus geprägten, kämpferischen Arbeitervorhut (Tarifrunde 2000: „Nicht einfach zur Tagesordnung übergehen“, Positionspapier der AG Tarifpolitik). Wir fügen der Vollständigkeit halber die linksreformistische PDS hinzu, die als einzige im Bundestag vertretene Partei den Rentenreformvorschlag zwar „grundsätzlich ablehnt“, aber nicht kämpferische Initiativen vorschlägt, sondern statt dessen den Dialog mit den Herrschenden sucht.

Die AG Tarifpolitik der IVG bringt es auf den Punkt: „Die Verlängerung der Laufzeiten vieler Manteltarifverträge hat die Forderung nach Wochenarbeitszeitverkürzung von der Tagesordnung gestrichen. Die Koppelung der Kündigungsfristen von Altersteilzeit und MTV bei der IGM erschwert eine offensive Arbeitszeitpolitik und läuft Gefahr, dass das Kapital Ältere und Jüngere gegeneinander ausspielen wird. Die Tarifpolitik darf keine negativen Auswirkungen auf die Sozialpolitik haben, indem sie die Zerschlagung und Verschlechterung unserer Sozialversicherungssysteme sanktioniert“ (a.a.O.).

Das Papier wendet sich zurecht gegen Tarifabschlüsse wie den der HBV in NRW und Hamburg, wo Gehaltsbestandteile in die private Altersvorsorge eingebaut wurden, beschränkt sich aber auf Kampfvorschläge unterhalb politischer Streiks: „Eine Voraussetzung für eine andere Politik ist, dass die Gewerkschaften aus dem Bündnis für Arbeit herausgehen, ist es ... eine Richtungsänderung der Gewerkschaftspolitik zu erreichen. Die Tarifpolitik, als Kernelement der Gewerkschaftspolitik, muss dabei den Anfang machen.“ Eine Tarifrentenpolitik nutzt den Beschäftigten außerhalb von Großbetrieben aber herzlich wenig und am wenigsten den Frauen in prekären Arbeitsverhältnissen. Die Warnstreiks der schweren Bataillone vom Herbst 1996 gegen die gesetzliche Aufkündigung der Lohnfortzahlung bei Krankheit ließ zwar das deutsche Unternehmertum vor einer ernsthaften Umsetzung dieser Regelung zurückschrecken. Hatten die damaligen Streiks diese Abschreckungswirkung bereits, obwohl sie beendet wurden, bevor das Gesetz fiel, so hat es bis heute keinen Streik gegen Riesters Rentenpläne gegeben - denn der wäre ja von vornherein politisch, damit nach bundesrepublikanischem Arbeitsrecht verboten, und zudem noch gegen die „eigene“ Regierung gerichtet. Eine tarif“politische“ direkte Gegenwehr mit all‘ ihren Mängeln kann in diesem Fall nicht wie 1996 eine quasipolitische Zündfunktion haben, die das gesamte Unternehmerlager incl. ihrer Regierung so schnell wie damals zurückschrecken ließe!

Verteidigung der Schwachen?

Die AG Sozialpolitik der IVG (Sozialistische Zeitung Nr. 18, 31.8.2000) stellt zurecht fest, dass Frauen, Niedrigverdiener, Arbeitslose und Erwerbstätige außerhalb des Normalarbeitsverhältnisses durch das aktuelle Rentenrecht sowieso schon benachteiligt sind. „Die Benachteiligung von Frauen, NiedrigverdienerInnen und Erwerbstätigen außerhalb des Normalarbeitsverhältnisses durch das aktuelle Rentenrecht kann sozialpolitisch ausgeglichen werden.“ Das tröstet! „Dafür würde es sich lohnen, den Kreis der Rentenversicherungspflichtigen auszuweiten, die Flucht aus der Rentenversicherung zu stoppen, auch höhere Einkommen zu erfassen und sofern erforderlich, auch höhere Beitragssätze durchzusetzen. Umso wichtiger ist es heute, das verteilungspolitische Ziel der Lebensstandard- und Existenzsicherung ohne wenn und aber beizubehalten. Beides ist ohne Überforderung der Beitragszahler in den kommenden Jahrzehnten möglich.“

Diese Forderungen müssen kritisch unterstützt werden – kritisch, weil das deutsche Sozialversicherungssystem selbst mehrere Strukturfehler enthält. Die Koppelung an Einkommen aus Lohnarbeit untergräbt das ganze Sozialversicherungswesen, weil bei zunehmender Arbeitslosigkeit die Quellen versiegen, während immer mehr Menschen auf Leistungen angewiesen sind (Scherensituation).

Die Form der paritätischen Beitragszahlung verstärkt die schon in der Lohnform produzierten Mystifikationen (dass der Lohn Bezahlung für die geleistete Arbeit sei), so dass die Unternehmeranteile nicht als vorenthaltener indirekter Lohn erscheinen. Dies fördert die Illusion in die Gleichberechtigung von Kapital und Lohnarbeit, steigert die Unterwürfigkeit - Sozialleistungen erscheinen als Geschenk statt als Leistung des kollektiven Gesamtarbeiters.

Woher nimmt eigentlich die IVG den Optimismus bezüglich der harmonischen Entwicklungsmöglichkeiten der GRV? Es ist doch in der Tat so, dass die untergeordnete Rolle der Frauen keine Folge vernachlässigter ausgleichender Sozialpolitik ist, sondern umgekehrt aus grundsätzlicher Diskriminierung von Frauenarbeit resultiert: Subsistenz(re)produktion (z.B. Hausarbeit) schafft keinen Tauschwert!

Um diesen grundlegenden Mangel zu beheben - im Kapitalismus eine Utopie - müssen wir die Aufteilung der Erwerbsarbeit auf alle fordern, ferner die Sozialisierung der Reproduktionsarbeit - im Kapitalismus nur unvollkommen und indirekt als Lohnarbeit möglich. „Mit einer Klappe“ schlägt dieser Ansatz eine Brücke von der gesellschaftlichen Unterdrückung der Frau zur Rentenproblematik: der Einbezug der Frauen in die Lohnarbeit ist kein Allheilmittel oder Endziel, brächte aber Geld in die Rentenkassen und den Frauen einen Anspruch auf eigene Altersrente. Der ganze falsche Heiligenschein über der privaten Reproduktionssphäre (Kleinfamilie, Singlehaushalte) könnte sich - natürlich auf Basis freiwilligen Angebots beruhend - auflösen!

Schließlich hinterlassen die Ausführungen auch eine gewisse Ratlosigkeit: der Gedanke an kämpferische Gegenwehr fehlt völlig. Gemäß dem Motto „Genug Reichtum ist da, man muss es „nur“ den Richtigen nehmen und geben“ übersieht dieser erfrischende, linke und mutige, aber eben reformistische Ansatz gewisse „Kleinigkeiten“! wie die politische und wirtschaftliche Herrschaft der bürgerlichen Klasse und die widersprüchliche Gesetzmäßigkeit ihrer Reichtumsproduktion, die auf stets ausgedehnterer Stufenleiter mit einem Verfall der Profitrate einhergeht. Ihre Verzweiflung darüber, dass ihr mit und im Größenverhältnis zu ihrer wachsenden Kapitalmacht zugleich die Springquelle ihres Profits - die lebendige Arbeitskraft durch Verdrängungsrationalisierung versiegt, treibt sie zu „frühkapitalistischen“ Angriffsmanövern auf selbst solche Sozialpartnerschaftsmodelle wie die GRV - nur um sich nach und nach aus der Finanzierung zurückzuziehen. Wie absurd, unter solchen Umständen an ausgerechnet friedlich ausgehandelte sozialpolitische Fortschritte auch nur zu denken! Dazu bedarf es revolutionärer Kampfmethoden und Zielvorstellungen - einer Wachablösung der SPD als Führung der organisierten Arbeiterschaft durch eine neue trotzkistische Arbeitermassenpartei.

Hier und jetzt müssen wir v.a. den gewerkschaftlich organisierten Lohnempfängern, aber auch den Rentnern und Jugendlichen sagen, dass heute nur politische Massenstreiks gegen den Riesterschen Gesetzesentwurf geeignete Kampfmittel sein können. Was jetzt notwendig ist, sind

  • politische Massenstreiks und Protestdemonstrationen aller DGB-Gewerkschaften gegen die drohende Rentenreform;

  • unbefristete Streiks ab dem ersten Tag der Lesung des Riester-Entwurfs.

Eine solche Mobilisierung wird entweder die Regierung zum Rückzug zwingen, oder die Weigerung von Kabinett und Kapital muss mit einem Generalstreik beantwortet werden, der das Tor zur Bildung einer auf Räte gestützten Arbeiterregierung und damit zur Macht aufstoßen kann. Erst der Sturz der bürgerlichen Klasse kann den Weg für eine Ersetzung des Kapitalismus durch eine sozialistische, gebrauchswertorientierte Planwirtschaft schaffen. Nur sie ist eine geeignete Grundlage für die grundsätzliche Neuordnung des Arbeitslebens und der Lebenszeit danach.