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Aus dem Gefängnis an die Macht

Richard Brenner, November 2013

Trotzki wurde 1879 als Lew Dawidowitsch Bronstein in einem Land mit brodelnden Konflikten geboren. Das Russland des 19. Jahrhunderts war rückständig. Anders als in Westeuropa oder in den USA breitete sich die moderne Industrie erst gegen Ende des Jahrhunderts aus. Die Bevölkerungsmehrheit bestand aus armen Bauern mit oftmals altertümlichen Wirtschaftsmethoden.

Bis 1861 bestand die Leibeigenschaft, bei dem die Bauern Eigentum der Landbesitzer waren und mit dem Land selbst verkauft oder gekauft wurden. Obgleich die Leibeigenschaft, als Trotzki aufwuchs, aufgehoben war, waren die 20 Millionen ehemaligen Leibeigenen bei den Grundbesitzern als Folge des Landkaufs zu Wucherpreisen hoch verschuldet. Für viele unterschied sich das jetzige kaum vom früheren Leben, sie konnten oft weniger Land bebauen als zur Zeit der Leibeigenschaft.

Das politische Gefüge Russlands war für die Entwicklung eines modernen kapitalistischen Landes genauso ungeeignet. Die zahlenmäßig kleine Bourgeoisie verfügte über keine echte politische Vertretung, alle Macht lag in der Hand des Zaren und der Sippschaft von Priestern, Generälen und Adeligen am Hof. Es gab weder ein Parlament noch Organisationsfreiheit für politische Parteien. Zeitungen und Literatur wurden zensiert. Juden wurden per Gesetz verfolgt, sie waren regelmäßigen Pogromen ausgesetzt. Den vielen verschiedenen Nationalitäten im Zarenreich wurde das Recht auf Unabhängigkeit und auf eine eigene Sprache in Schulwesen und Öffentlichkeit verwehrt. Aber es lag ein Wandel in der Luft. Der Kapitalismus breitete sich im Eiltempo in Russland aus. In Trotzkis erstem Lebensjahrzehnt versechsfachte sich die Zahl der Metallarbeiter; 1914, zu Beginn des Ersten Weltkriegs, gab es bereits 5 Millionen ArbeiterInnen.

Der Anteil der Arbeiterklasse an der Gesamtbevölkerung lag zwar mit 3% immer noch weit unter dem Westeuropas, aber die ArbeiterInnen konzentrierten sich auf wenige Großunternehmen, die mit dem Geld ausländischer Kapitalisten aufgebaut worden waren. Trotz ihrer geringen Größe war das soziale Gewicht des russischen Proletariats ungleich größer - so groß, dass es die Macht übernehmen konnte, wenn es wollte.

Lew Dawidowitsch wurde nicht in eine Arbeiterfamilie hineingeboren. Sein Vater war ein wohlhabender Bauer in der Ukraine. Trotzki schrieb in seiner Autobiographie:

”Meine Kindheit erscheint mir weder als die sonnige Wiese der kleinen Minderheit, noch  als die düstere Höhle des Hungers, des Zwangs und der Beleidigungen, wie die Kindheit der Vielen, wie die Kindheit der Mehrheit. Es war eine farblose Kindheit in einer kleinbürgerlichen Familie, in einem finsteren Winkel, wo die Natur reich ist, die Sitten, Ansichten und Interessen aber dürftig und eng.” (Trotzki, Mein Leben, S. 13, Frankfurt/Main 1974)

Der junge Trotzki war fasziniert von Literatur und Wissenschaft und froh, dem erdrückenden Dorfleben entrinnen und auf die Oberschule nach Odessa, der größten Stadt Südrusslands, gehen zu können. Obwohl er sich in der Schule auszeichnete, bekam er bald Schwierigkeiten.

Er war angewidert von den kleinkarierten Einschränkungen und Ungerechtigkeiten, dem Hass der religiösen Instanzen auf Juden und Katholiken. Als ein Lehrer einen Mitschüler schikanieren wollte, organisierte er einen Protest, indem die Schulklasse aufstand und dem Lehrer ihr Missfallen kundtat.

Bei der nachfolgenden Bestrafung verrieten ihn jedoch einige Mitschüler. Dieses Ereignis hatte Lews Mut und Führungsqualität bewiesen. Sein weiteres Schicksal lehrte ihn die Wertschätzung sorgfältiger Planung wie das Ausmaß der Rachsucht der Autoritäten. Schließlich wurde Schüler Bronstein der Schule verwiesen.

Ein junger Revolutionär

Mit 17 war der Student Trotzki in revolutionäre Agitation verstrickt. Sein Vater kam, um ihm dies auszureden; als dies nicht fruchtete, drohte er ihm mit dem Entzug finanzieller Zuwendung, um des Sohnes Unterwürfigkeit zu erreichen.

Bei vielen StudentInnen hätte dies gewirkt. Aber weder elterliche Drohungen noch Armut schreckten Lew ab. Seine Familie, wie später viele andere Menschen, verhöhnte ihn als Weltverbesserer. Aber Trotzki machte es tatsächlich.

Er tat sich mit einer kleinen Gruppe junger Leute, hauptsächlich StudentInnen, zusammen, die sich im Schuppen eines radikalen Gärtners namens Schwigowski versammelten. Dort tranken sie gemeinsam und diskutierten bis in die Nacht politische Themen. Die meisten seiner MitstreiterInnen waren Narodniki (Volkstümler).

Die Narodniki-Bewegung hatte den Zarismus seit Jahrzehnten mit unterschiedlichen Methoden bekämpft. Manche glaubten, dass die Masse der Bauernschaft die Kraft zur Veränderung Russlands hätte. Hunderte von jungen Idealisten hatten ihre Universitäten und komfortablen Wohnungen verlassen und waren aufs Land gezogen, um mit der Botschaft von Demokratie und Freiheit “unters Volk zu gehen”. Fast alle wurden verhaftet.

Andere verloren die Geduld mit den Massen und versuchten, sie durch individuellen Terrorismus, durch Anschläge und die Ermordung der verhassten Unterdrücker zum Widerstand zu provozieren.

Allen gemeinsam war eine Geringschätzung der winzigen russischen Arbeiterklasse und der Marxisten wegen ihrer 'wissenschaftlichen' Theorien von der proletarischen Revolution als wirklichkeitsfremd und dogmatisch. Der junge Trotzki war der gleichen Meinung. Marxismus, mit seiner Betonung auf Klasse und Ökonomie, klang zu kalt und grau, um die Vielschichtigkeit der Welt zu erklären. Aber die Ereignisse sollten Trotzki schließlich doch zum Marxismus führen.

Viele begnügen sich mit Reden. Die Zahl der „Revolutionäre“, die nie über große Worte in Cafes und Kneipen hinauskommen, ist groß - Trotzki war keiner von ihnen. Der Titel eines Bildes war sein Motto: 'Glaube ohne Tat ist Tod'. 1897, mit 18 Jahren, stürzte er sich in die aktive Politik und kam mit ArbeiterInnen der Stadt Nikolajew (Ukraine) zusammen.

Unter primitiven Bedingungen erstellten Trotzki und seine Genossen Flugblätter, die in den Fabriken verteilt wurden und die Arbeitsbedingungen sowie die Habgier der Unternehmer anprangerten. Die ArbeiterInnen wurden ermuntert, zu geheimen Studiengruppen zu kommen und über die Veränderung der Welt zu debattieren. Ende 1897 hatte der „Südrussische Arbeiterbund“  bereits 200 Mitglieder.

Gefängnis und Verbannung

Die Machthaber waren aufgeschreckt und hatten wenig Lust, sich auf eine Diskussion einzulassen. Im Januar 1898 wurde Trotzki verhaftet. Das war seine erste Verurteilung. Schrecklich einsam, ohne Bücher und Schreibzeug, versuchte er, sich durch das Verfassen von Gedichten in Gedanken geistig beweglich zu halten, während er in seiner winzigen Zelle auf und ab ging. Seine Erleichterung über die Verlegung in ein größeres Gefängnis in Odessa war groß, denn dort gab es eine Gefängnisbücherei, Besuche waren erlaubt, und er erlernte die geheime Gefangenensprache: Klopfzeichen. Durch Lesen von Bibelübersetzungen brachte er sich selbst Französisch und Deutsch bei und begann ein ernsthaftes Studium des Marxismus.

Seine Aktivität in Nikolajew hatte in ihm bereits das Bewusstsein der Bedeutung der Arbeiterklasse bestärkt; nun fand er in den Werken des italienischen marxistischen Schriftstellers Labriola eine Geschichtstheorie, die reale Aussicht auf einen grundsätzlichen Wandel der Gesellschaft bot.

Im Gefängnis heiratete Trotzki Alexandra Sokolowskaja, eine engagierte Marxistin aus dem Nikolajewer Zirkel, mit der er ständig Argumente ausgetauscht hatte. Zusammen wurden sie für 4 Jahre nach Sibirien verbannt. Trotz der trostlosen, abgeschiedenen Gegend blieb er aktiv; er schrieb, studierte den Marxismus und diskutierte mit anderen politischen Gefangenen. Sein Verständnis des Marxismus und seine Zugehörigkeit zu ihm wurden fester.

Er stritt gegen den Populismus und die Taktik des individuellen Terrors. Der Zar, die Gutsbesitzer und die Kapitalisten waren zu stark, als dass sie von einer Handvoll waghalsiger Kämpfer gestürzt werden konnten; hierfür bedurfte es der Aktion von Massen. Weit davon entfernt, Massen zum Handeln aufzustacheln, blieben isolierte Attentate unwirksam, verwirrten die Bewegung und ließen die Massen in Passivität zurück. Stattdessen musste eine ArbeiterInnenpartei mit Massenbasis in der Industrie aufgebaut werden. Dies war der einzige Weg zu Freiheit und Sozialismus.

Schon 1898 hatten sich in Minsk VertreterInnen von Arbeiterorganisationen zur Gründung einer marxistischen politischen Partei, der „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands“ (SdAPR) versammelt. 1902 erhielt Trotzki Exemplare der Zeitung „Iskra“ (Der Funke), die von Marxisten im Ausland herausgegeben wurde, sowie eine Ausgabe von „Was tun?“, einer Streitschrift von W. I. Lenin.

Diese Veröffentlichungen lehnten den individuellen Terrorismus ab, argumentierten allerdings auch leidenschaftlich gegen die „Ökonomisten“ in den Reihen der marxistischen Bewegung, welche die neue Partei ausschließlich auf die Unterstützung von in ganz Russland aufflammenden Streiks für besseren Lohn und Arbeitsbedingungen beschränken wollten. Die „Iskra“ hingegen plädierte für eine zentralisierte politische Partei und eine gesamtrussische Parteizeitung. Sie trat für einen politischen, über gewerkschaftliche Forderungen hinausgehenden Kampf ein, der die fortgeschrittensten Teile der Arbeiterklasse zum Sturz des Zarismus und zum Engagement für den Sozialismus führen sollte. Die Aufgabe der Partei lag nicht darin, den spontanen Ideen der Massen nachzulaufen, sondern deren einzelnen Kämpfe zu koordinieren, sie mit größeren, weitreichenderen Zielen zu verbinden und sie zu führen. Trotzki schrieb 1901 in Sibirien einen Aufsatz mit einer ähnlichen Sichtweise.

Die Revolutionäre organisierten sich. Für die Verbannten in Sibirien hieß das nur eines: Flucht. Als Trotzki Bedenken äußerte, Frau und Kind zurückzulassen, stellte seine Frau die Zukunft der Revolution über ihre persönlichen Schicksale und erklärte ihm: ”Du musst.” Er besorgte sich einen gefälschten Pass, zum ersten Mal unter dem Namen Trotzki, wie einer seiner Aufseher hieß. Versteckt auf einem Heuwagen entkam er und traf sich unterwegs mit anderen „Iskra“-AnhängerInnen. Man riet ihm, Russland zu verlassen. Er ging zunächst nach Wien und Zürich, später nach London und traf dort Führer der SdAPR und die „Iskra“-Herausgeber.

Trotzki und Lenin

Trotzki hatte in Gefängnis und Verbannung vieles gelernt, aber keine guten Manieren. Er schreckte gleich nach Ankunft in der Morgendämmerung Lenin in dessen Haus durch heftige Schläge gegen die Tür aus dem Schlaf. Seine Gastgeber waren kaum wach, schon überfiel Trotzki sie mit einem ausführlichen Bericht über die Lage in Russland, während Natalia Krupskaja, Lenins Ehefrau, seine Droschke bezahlen musste.

Trotzki erinnerte sich später, dass Lenin ihn auf einen langen Spaziergang durch London mitnahm, um „mich näher kennenzulernen und mich unmerklich einem Examen zu unterwerfen. Das Examen umfasste in der Tat den ‚ganzen Kursus'.“ (Trotzki, Mein Leben, Seite 131)

Lenin erkannte schnell die Talente des Neuankömmlings. Trotzkis Artikel erschienen in der „Iskra“ und Lenin und andere befürworteten die Aufnahme des Neulings in den Redaktionsstab. Widerstand kam aber von Seiten des Begründers des russischen Marxismus, Georgi Plechanow. Er war gegen den Aufstieg neuer Kräfte innerhalb der Partei, die enger mit der Bewegung in Russland verbunden waren. Persönliche Beweggründe wie Konkurrenz und Groll können eine gefährliche Rolle in der Politik spielen, aber das war nicht Trotzkis einzige Erfahrung hiermit.

Diese kleinlichen Spannungen wurden jedoch bald noch durch einen großen parteiinternen Konflikt in den Schatten gestellt. Der 2. SDAPR-Kongress trat im Juli 1903 zusammen, zunächst in Brüssel, dann in London, um polizeilicher Verfolgung zu entgehen. Trotzki nahm als Abgeordneter der sibirischen Organisation und Anhänger der Linie der „Iskra“ teil.

Auf dem Kongress spaltete sich die Partei in zwei Fraktionen, die Bolschewiki (Mehrheit) unter Führung von Lenin und die Menschewiki (Minderheit) unter Lenins früherem Verbündeten Martow. Die Spaltung vollzog sich entlang Lenins Bekämpfung des „Ökonomismus“ und seiner Parteiaufbaupläne mit disziplinierten Mitgliedern unter Anleitung von Parteigremien.

Die Menschewiki ihrerseits legten Wert auf fortgesetzte Zusammenarbeit mit den Ökonomisten und der jüdischen Arbeiterorganisation „Der Bund”. Trotzki lehnte den Alleinvertretungsanspruch des Bundes für die jüdische Arbeiterklasse, den die Partei akzeptieren sollte, ab. Trotzki argumentierte, dass viele andere jüdische GenossInnen wie er selbst in Opposition zur Linie des „Bundes“ stehen und sich trotzdem als RepräsentantInnen des jüdischen Proletariats betrachteten.

Die ÖkonomistInnen und der Bund bevorzugten ebenso wie die Menschewiki eine losere und weniger disziplinierte Mitgliederstruktur. Die Menschewiki siegten zwar bei der Abstimmung über die Mitgliedsfrage, aber nachdem die Ökonomisten und der „Bund“ den Kongress verlassen hatten, verfügte Lenin über eine knappe Mehrheit und war entschlossen, sie zu nutzen.

Die Partei unterstützte Lenins Vorschlag, zwei ältere Mitglieder aus der „Iskra“-Redaktion zu entfernen und das Gremium auf Plechanow, Lenin und Martow zu beschränken: eine klare Mehrheit für Lenins Linie. Martow war außer sich, weigerte sich, in die Redaktion zu gehen und missachtete damit die Wünsche des Kongresses, der in einem Durcheinander endete. Martows Menschewiki und Lenins Bolschewiki waren heillos zerstritten. Aber bald nach dem Kongress wechselte Plechanow die Fronten, er wollte sich nicht mit dem Gedanken abfinden, dass es zum dauerhaften Bruch mit den langjährigen Weggefährten gekommen war.

Trotzki stand damals auf Seiten der Menschewiki, was er später als ernsten politischen Fehler bedauerte. In seiner Autobiographie schrieb er:

”Mein ganzes Wesen lehnte sich gegen diese erbarmungslose Absägung der Alten auf, die endlich bis an die Schwelle der Partei gekommen waren. Aus dieser meiner Empörung ergab sich der Bruch mit Lenin auf dem zweiten Kongress. Sein Verhalten schien mir unzulässig, schrecklich, empörend. Es war aber dennoch politisch richtig, folglich auch organisatorisch notwendig. Der Bruch mit den Alten, die in der vorbereitenden Epoche verharrten, war auf jeden Fall unvermeidlich. Lenin hatte dies früher als die anderen erkannt. (...)

Ich zählte mich zu den Zentralisten. Aber es steht außer Zweifel, dass ich mir in jener Periode keine klare Rechenschaft darüber abzugeben vermochte, welch strenger und gebieterischer Zentralismus für eine revolutionäre Partei erforderlich sein würde, um eine Millionenmasse in den Kampf gegen die alte Gesellschaft zu führen.” (Trotzki, Mein Leben, S. 146)

Die Menschewiki entwickelten sich zu einer antirevolutionären Partei. Lenin sah diese Möglichkeit früher als jeder andere. Trotzki hatte im Gegensatz dazu Riesenrespekt vor den älteren Redaktionsmitgliedern; er glaubte wie Plechanow, dass eine Abspaltung nur schlecht sein könne und Einheit stets gut. Hierin stellte er organisatorische und sogar persönliche Belange über politische Prinzipien. Als die Menschewiki Hoffnungen in die kapitalistischen Liberalen zu setzen begannen und sie gegen Kritik in Schutz nahmen, zog sich Trotzki im September 1904 aus ihrer Fraktion wieder zurück, schloss sich aber nicht den Bolschewiki an, sondern trat für die Einheit um jeden Preis ein. In den nächsten 14 Jahren spielte er darum eine oft negative und hinderliche Rolle in der Partei.

Die Generalprobe

Während der Revolution von 1905 spielte Trotzki eine führende Rolle. Am 23. Januar1905 fuhr er nach Genf, wo Martow ihm die neusten Nachrichten über die Arbeiterproteste gegen den Zaren in der Hauptstadt Sankt Petersburg übermittelte. Die Berichte waren dramatisch. DemonstrantInnen hatten versucht, dem Zaren eine Bittschrift zu überbringen, worauf Soldaten das Feuer auf die Menge eröffneten und Tausende niedermähten. Dieses furchtbare Massaker ging als „Blutsonntag“ in die Geschichte ein.

Russland befand sich in Aufruhr. Die Revolution war gewiss nicht mehr fern. Trotzki reiste heimlich nach Sankt Petersburg, wo er Kontakt zu beiden Fraktionen der SdAPR aufnahm. Kurz darauf musste er nach Finnland fliehen, nachdem seine zweite Frau Natalja während der Maikundgebungen verhaftet worden war. Erst im Oktober kehrte Trotzki wieder nach Russland zurück, als die Drucker- und Eisenbahnerstreiks sich im Land auszubreiten begannen. Die ArbeiterInnen forderten den 8-Stunden-Tag und stellten auf Anregung der Menschewiki auch politische Losungen nach Parlamentswahlen und Redefreiheit auf.

Die Regierung gab nach und bot einen Vergleich an, was die ArbeiterInnen als Beweis der eigenen Stärke und der Schwäche des Zaren werteten. Ein Parlament wurde zugestanden, aber ohne Wahlrecht für ArbeiterInnen. Rede- und Versammlungsfreiheit wurden allerdings gewährt. Die ArbeiterInnen jubelten.

Aber Trotzki ließ sich nicht täuschen. Auf einer Massenversammlung am 18. Oktober 1905 mahnte er zu Misstrauen gegen den Zaren und zur Verteidigung der Freiheiten durch unmittelbare Aktion. Er schrieb in einer revolutionären Zeitung:

„Versammlungsfreiheit ist gewährt, aber die Versammlungen werden von Militär umzingelt. Freiheit des Wortes ist gewährt, aber die Zensur besteht nach wie vor. Freiheit der Wissenschaft ist gewährt, aber die Universitäten sind von Truppen besetzt. Unantastbarkeit der Person ist gewährt, aber die Gefängnisse sind mit Eingekerkerten überfüllt. (...) Die Konstitution ist gegeben, aber die Selbstherrschaft ist gebleiben. Alles ist gegeben - und nichts ist gegeben.” (Trotzki, Die russische Revolution 1905, Band 1, S. 128, Intarlit, Berlin 1998)

Trotzki steigerte rasch seinen Einfluss bei der Sankt Petersburger Arbeiterschaft durch seine Rolle im Rat der Arbeiterdeputierten (Sowjet), der am 13. Oktober zusammengekommen war. Im Sowjet vertrat ein Sprecher jeweils 500 ArbeiterInnen. Der Petersburger Sowjet veröffentlichte einen Aufruf zum Generalstreik. Er gewann an Autorität, weil er wirklich alle Arbeiterorganisationen, Streikbetriebe, Parteien und Gewerkschaften einschloss. Da seine Abgeordneten jederzeit von den ArbeiterInnen, die sie gewählt hatten, abrufbar waren, spiegelte der Sowjet direkt die Stimmung der Massen wider.

Die bolschewistischen FührerInnen - Lenin selbst war nicht anwesend - beargwöhnten den Sowjet als Rivalen der Partei. Dieses Sektierertum schwächte ihre Rolle sehr. Trotzki lähmte diese Konstellation jedoch nicht. Er stürzte sich in die Arbeit im Sowjet, entwarf Aufrufe und Erklärungen, schrieb für dessen Zeitung und sprach in seinem Namen.

Im November bekundeten auch einfache Soldaten ihre Sympathie für die ArbeiterInnen. Die Bauern fingen an zu revoltieren und forderten Land. Trotzki war überzeugt, dass die Kampagne um den 8-Stunden-Tag nicht ohne den Sturz der Regierung zu gewinnen war. Er stellte die Losung „8 Stunden und ein Gewehr“ auf. Unter Trotzkis Einfluss stimmte der Sowjet für die Vorbereitung eines bewaffneten Aufstands.

Aber dieser ließ sich nicht verwirklichen; die Streiks in Sankt Petersburg flauten ab, die Truppen waren loyal  zur Regierung. Aber in Moskau hatten die Bolschewiki - nun unter Einfluss Lenins - einen solchen Aufstand vorbereitet. Soldaten hatten sogar Delegierte zum Stadtsowjet entsandt. Lenin schrieb an die Kampfverbände der Partei im Oktober:

”Die Abteilungen können beliebig stark sein, von zwei bis drei Mann an.

Die Abteilungen müssen sich selbst bewaffnen, jeder womit er kann (Gewehr, Revolver, Bombe, Messer, Schlagring, Knüppel, mit Petroleum getränkte Lappen, um Feuer zu legen, Stricke oder Strickleitern, Schaufeln für den Bau von Barrikaden, Sprengpatronen, Stacheldraht, Nägeln gegen Kavallerie usw. usf.)” (Lenin, Die Aufgaben der Abteilungen der revolutionären Armee, Werke Bd. 9, S. 423)

Die RevolutionärInnen kämpften tapfer, aber am 17. Dezember1905 waren sie besiegt. Trotzki wurde verhaftet und vor Gericht gestellt, wo er sich in einer mutigen und trotzigen Rede weigerte, den Aufstand zu verdammen. Auf den Anklagevorwurf, der Sowjet hätte die Erhebung organisiert, erklärte er:

”Und wenn Sie mir sagen, dass die Pogrome, Brandstiftungen, Gewalttaten ..., wenn Sie mir sagen, dass alles, was in Twer, Rostow, Kursk, Sjedletz geschehen ist ..., wenn Sie mir sagen, dass Kischienw, Odessa, Bjelostok die Regierungsform des russischen Reiches ist - ja dann erkenne ich zusammen mit der Staatanwaltschaft an, dass wir uns im Oktober und November gegen diese Regierungsform des russischen Reiches bewaffnet haben.” (Trotzki, Russische Revolution 1905, Band 2, S. 350)

Trotzki wurde lebenslang nach Sibirien verbannt. Er war damals 26. Doch binnen Monatsfrist war er wieder entflohen. Allerdings sollte er nach Russland erst wieder 1917 zurückkehren, als die Revolution erneut über das Land brauste.

Gegen den Nationalismus

Im europäischen Exil traf Trotzki die Spitzen der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie. Wie unterschieden sie sich doch von den russischen RevolutionärInnen! Sie waren völlig an friedliche Bedingungen angepasste Leute, die durch den allmählichen Ausbau ihrer Positionen bei Wahlen und im Parlament an die Macht kommen wollten. Sie führten ein angenehmes bürgerliches Leben.

„In ungezwungenen Gesprächen untereinander zeigten sie viel offener als in Artikeln und Reden bald einen unverhüllten Chauvinismus, bald die Prahlsucht des kleinen Besitzers, bald den heiligen Schauer vor der Polizei, bald das vulgäre Benehmen gegen die Frau.“ (Trotzki, Mein Leben, S. 185)

Als Trotzki gegen einen Artikel in der Zeitung der österreichischen Sozialdemokratie mit rassistischen Schmähungen gegen die Serben anging, ließ die Parteiführung die Angelegenheit unter Hinweis auf die angebliche Uninteressiertheit der ArbeiterInnen an Außenpolitik unter den Tisch fallen. Am Vorabend des 1. Weltkriegs widerstand die österreichische Partei nicht dem Gift des Nationalismus, das ganz Europa in ein Schlachthaus verwandeln sollte. Trotzki bemerkte dazu:

”Sie schrieben in ihren Manifesten zum 1. Mai zwar über Krieg und Revolution, nahmen das jedoch niemals ernst und wurden gar nicht gewahr, dass über dem Ameisenhaufen, in dem sie selbstvergessen wühlten, die Geschichte bereits den gigantischen Soldatenstiefel erhoben hatte.” (Trotzki, Mein Leben, S. 188)

Auch die große SPD war nicht das, wofür sie gehalten wurde. Trotzki begann sich zu fragen, ob diese große Hoffnung des internationalen Sozialismus in den kommenden Jahren nicht sogar zum Hindernis für die Revolution werden könnte.

Doch er gelangte damals noch nicht zur Konsequenz der Schlussfolgerungen Lenins. Trotz seiner reifenden Erkenntnis des antirevolutionären Charakters des Menschewismus zog Trotzki weiter gegen die Spaltung in der russischen Partei zu Felde und äußerte auf dem 5. SDAPR-Kongress: ”Wenn ihr glaubt, dass eine Spaltung unvermeidlich ist, so wartet wenigstens, bis Ereignisse und nicht bloße Entschließungen euch entzweien.”

Tatsächlich: auf Druck der Basis schlossen beide Fraktionen 1910 ihre extremen Flügel aus; die Bolschewiki trennten sich von den Ultralinken, die für einen völligen Wahlboykott eintraten, und die Menschewiki von ihrem rechten Flügel, den „Liquidatoren“. Diese waren gegen jede Revolution eingestellt, wollten die SDAPR als Untergrundorganisation auflösen und eine legale Partei in neuem liberalen Gewand aufbauen. Aufgrund der Differenzen in wesentlichen Fragen kam es danach zu keiner wirklichen politisch-organisatorischen Einigung beider Fraktionen. Die Revolution von 1917 offenbarte dann vollends die Unüberbrückbarkeit dieser Differenzen: Bolschewiki und Menschewiki gehörten zu entgegengesetzten Lagern.

Unterdessen hatten die russischen ArbeiterInnen klare Zeichen gesetzt, dass von internen Debatten zum praktischen Handeln übergegangen werden musste. Streiks häuften sich, die Jahre der Reaktion gingen zu Ende. Am 4. April 1912 wurden 500 Bergleute verletzt oder getötet, als Truppen Streikende der Lena-Goldgruben unter Beschuss nahmen. Zu dieser Zeit hatte Lenin schon eine Konferenz einberufen, auf der sich die Bolschewiki als vollkommen eigenständige Partei erklärten. Sie stürzte sich auf die Arbeit in den Massen und vergrößerte ihren Einfluss in der Arbeiterbewegung. 1914 verfügten die Bolschewiki über 2.800 ArbeiterInnengruppen in Russland, demgegenüber standen nur 600 der Menschewiki.

Im Sommer 1912 beging Trotzki einen schweren politischen Fehler. Unter Missachtung politischer Grundsätze lud er zu einem Treffen in Wien ein, dem „August-Block“. Dieser umfasste alle Fraktionen außer den Bolschewiki und reichte von den Ultralinken bis zu den rechtesten Liquidatoren. Das einzige Bindeglied dieser buntscheckigen Gesellschaft waren ihr Hass oder ihre Ablehnung der Bolschewiki. Der Block zerbrach und stiftete nichts als Verwirrung.

Trotzki erkannte später den Grundzug seines Fehlers: ”Eine politische Basis hatte dieser Block nicht, in allen grundlegenden Fragen ging ich mit den Menschewiki auseinander. (...) In der allgemeinen Tendenz der Politik stand ich den Bolschewiki weit näher. Aber ich war gegen das Leninsche Regime, weil ich noch nicht verstehen gelernt hatte, dass eine festgeschweißte zentralisierte Partei notwendig ist, um ein revolutionäres Ziel zu verwirklichen. Daher formte ich diesen episodischen Block aus heterogenen Elementen, der sich gegen den proletarischen Flügel der Partei richtete (...) Lenin unterzog den August-Block einer gnadenlosen Kritik und die härtesten Schläge galten mir. Er wies nach, dass, sofern ich weder mit den Menschewiki noch mit den Ultralinken politisch übereinstimmte, meine Politik Abenteurertum war. Das war streng, aber wahr.” (Trotzki, Mein Leben, S. 191)

Nach dem Scheitern dieser Initiative reiste Trotzki auf den Balkan, der ein brodelnder Kessel von Nationalismus, Unterdrückung und Krieg war. In einer Reihe von glänzenden Berichten für die sozialistische Presse fing er die Schrecken des Krieges und den „Anblick von zu Opfern verdammten Menschen“ ein. Seine Artikel machten Front gegen Antisemitismus, religiöse Dumpfheit und den Krieg selbst. Aber er riet den Opfern von Unterdrückung nie, die Waffen niederzulegen. Er unterschied jedes Mal zwischen reaktionären Kriegen um Profit und dem gerechtfertigten Widerstand von Nationen, denen grundlegende Freiheiten verwehrt wurden.

Doch verglichen mit dem, was folgen sollte, war das Gemetzel auf dem Balkan nur ein kleines Scharmützel. Im August 1914 zertraten Militärstiefel den europäischen Ameisenhügel. Als der Erste Weltkrieg begann, wurden die europäischen Völker von einem Taumel patriotischer Gefühle erfasst. Darauf war Trotzki eingestellt; er hoffte jedoch, dass diese Stimmung bald wieder umschlagen würde.

Aber nichts konnte ihm den Schock ersparen, der durch den Übergang der sozialdemokratischen Parteien ins Lager ihrer kapitalistischen Feinde, ihre Unterstützung des Krieges und des Abschlachtens ihres eigenen Arbeiteranhangs ausgelöst wurde. Die Zweite Internationale lebte nur dem Namen nach weiter.

Von allen größeren europäischen sozialistischen Parteien blieben nur die Bolschewiki den internationalistischen Grundsätzen treu. Im Juli 1915 begann sich Trotzki zu fragen, ob dies mit der  Geschichte der inneren Auseinandersetzungen in der SDAPR und der folgenden Spaltung zusammenhing. Im September 1915 fand im schweizerischen Zimmerwald ein Treffen von Internationalisten statt. Lenin drängte auf eine revolutionäre Politik. Er schlug die Losung „Verwandelt den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg“ vor und rief zu einer neuen, Dritten Internationale auf. Angenommen wurde aber Trotzkis Formel, die nur einen Frieden ohne Annexionen oder Schadensersatzansprüche der Siegerstaaten an die Besiegten sowie das Selbstbestimmungsrecht aller Nationen vorsah.

Wie isoliert die wenigen InternationalistInnen damals waren, illustriert die damalige Bemerkung, dass alle InternationalistInnen der Welt in ein paar Kutschen gepasst hätten. Aber die schwachen Kräfte, die gegen den blutigen Strom schwammen, wurden durch die Revolutionsflut nach dem Krieg um so stärker.

Revolution

In Russland war der Zarismus bis ins Mark verfault. Zar Nikolaus hörte mehr auf die Einflüsterungen des verrückten Priesters Rasputin als auf seine Minister. Erniedrigt und geschwächt durch die aufeinander folgenden Niederlagen im Krieg gegen Deutschland verloren die Adeligen und liberalen Kapitalisten nun die Geduld mit dem Monarchen. Die kriegsmüden Soldaten desertierten scharenweise. Auf dem Land und in den Städten stieg die Unzufriedenheit. Im Februar 1917 brach diese Unzufriedenheit offen aus - der Zar wurde gestürzt.

Am 8. März (23. Februar nach dem alten russischen Kalender), dem Internationalen Frauentag, strömten Massen von Arbeiterfrauen auf die Straße und forderten Brot. Am nächsten Tag streikten die Textilarbeiterinnen und - ohne auf die Führer zu warten - entsandten fliegende Streikposten zu den riesigen Metallfabriken und riefen ihre Klassenbrüder zur Unterstützung auf. Der Ruf nach Brot wurde bald übertönt durch den Schrei nach einem Ende der Monarchie und des Krieges. Die Polizei löste die Kundgebungen auf, während sich die Armee und die Kosaken als Eliteeinheit des Zaren als nicht so zuverlässig erwiesen. Trotzki beschrieb, wie es den Frauen gelang, die Soldaten zu gewinnen:

”Eine große Rolle in den Beziehungen zwischen Arbeitern und Soldaten spielten die Frauen, die Arbeiterinnen. Kühner als die Männer bedrängten sie die Soldatenkette, greifen mit den Händen die Gewehre, flehen, befehlen fast: ‚Wendet eure Bajonette weg, schließt euch uns an!' Die Soldaten sind erregt, beschämt, sehen sich unruhig an, schwanken, irgendeiner faßt als erster Mut - und die Bajonette erheben sich über die Schultern der Bedrängten, die Barriere ist niedergerissen, ein freudiges, dankbares 'Hurra!' erschüttert die Luft, die Soldaten werden umringt, überall Wortwechsel, Vorwürfe, Mahnrufe - die Revolution hat wieder einen Schritt vorwärts gemacht.” (Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, S. 103)

Innerhalb von Tagen übertraf die Revolution die Ereignisse von 1905. Der Zar dankte ab. Eine provisorische Regierung mit bürgerlichen Ministern, denen sich bald Menschewiken und Populisten unter dem irreführenden Namen „Sozialrevolutionäre Partei Russlands“ (Sozialrevolutionäre)  anschlossen, wurde errichtet. Aber dies war nicht die einzige Macht im Land. Eingedenk der Lehren von 1905 bildeten die ArbeiterInnen und Soldaten Sowjets, diesmal jedoch auf einer breiteren und dauerhafteren Grundlage als damals.

Auf der einen Seite stand die neue Regierung der Kapitalisten, die ihre Existenz nur der Rebellion der Arbeiterklasse verdankte, auf der anderen der Sowjet, eine Organisation der Arbeitermacht. Der Sowjet organisierte sogleich die Lebensmittelversorgung, schuf seine eigene bewaffnete Miliz und sicherte die Pressefreiheit durch den Boykott aller Zeitungen, welche die Regierungszensur hinnahmen.

Doch diese Doppelmacht konnte nicht von Dauer sein. Trotzki verstand das: “Entweder wird die Bourgeoisie den alten Staatsapparat dominieren, ihn für ihre Zwecke etwas ummodeln, wovon die Sowjets nichts haben werden - oder die Sowjets werden die Grundlagen für einen neuen Staat legen und nicht nur den alten Regierungsapparat auflösen, sondern auch die Herrschaft jener Klassen, denen er gedient hat.”

Da die Kapitalisten noch an der Macht waren, war der Kampf noch nicht zu Ende. Lenin befand sich noch im Exil; andere bolschewistische Führer wie Stalin und Kamenjew liefen den Ereignissen hinterher, klammerten sich an alte Losungen, welche die Revolution schon längst überholt hatte. Wie auch die Menschewiki glaubten sie, dass die Revolution aufhören müsse, weil eine moderne bürgerliche Demokratie errichtet worden war. Sie schrieben in der bolschewistischen Zeitung „Prawda“ am 7. März 1917: ”Gewiß handelt es sich bei uns noch nicht um den Sturz der Herrschaft des Kapitals, sondern um den Sturz der Herrschaft des Absolutismus und Feudalismus.” (Zitiert nach: L. Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, S. 257)

Die Geschichte hatte der Arbeiterklasse eine ausgezeichnete Gelegenheit gegeben, die Revolution durch die Machtübernahme der Sowjets selbst zu vollenden. Aber erfolgreiche Revolutionen gehen nicht automatisch vonstatten. Sie brauchen eine Führung. Für den Sieg der sozialistischen Revolution waren bewusste Entscheidungen und Aktionen vonnöten.

Es gab drei Voraussetzungen für den endgültigen Erfolg der Bolschewiki: zunächst Lenins Rolle. Bei seiner Rückkehr nach Russland brüskierte er ein Begrüßungskomitee der Menschewiki, die ihn um Unterstützung für die provisorische Regierung baten. Stattdessen erklärte er, dass die Revolution nicht vorbei sei, dass die ArbeiterInnen kein Vertrauen in die neue Regierung setzen sollten und dass alle Macht an die Sowjets fallen sollte. Eine solche Regierung würde Russland aus dem Krieg herausführen, den Bauern Land geben und die Kontrolle über die Fabriken den ArbeiterInnen selbst übergeben. Diese Argumente wurden in Lenins berühmten „April-Thesen“ vorgetragen.

Doch auch Lenins enormer Einfluss in der bolschewistischen Partei hätte allein nicht ausgereicht. Zunächst wollten die anderen bolschewistischen Führer Lenins Rat nicht folgen. Aber die Arbeiter- und Soldatenmassen verloren das Vertrauen in die provisorische Regierung. In Kronstadt, einer Petrograd (Sankt Petersburg) vorgelagerten Hafenfestung, erklärte der Ortssowjet: ”Die einzige Macht in Kronstadt ist der Rat der Arbeiter- und Soldatendeputierten”. In der militanten Hochburg Wyborg - ebenfalls in der Nähe Petrograds gelegen - verkündeten die ArbeiterInnen einer Maschinenfabrik: ”Die einzige Macht im Land müssen die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten sein, die wir mit unserem Leben schützen wollen.”

Diese Unterstützung durch die Massen war die zweite Bedingung für den Sieg der Revolution. Die Kompromissler in der bolschewistischen Führung wurden durch Lenins revolutionäre Argumente und die Entschiedenheit der Parteibasis in die Zange genommen.

Der dritte lebenswichtige Faktor betraf Trotzkis Rolle. Er kam Anfang Mai nach Russland zurück und begab sich sofort zum Treffen des Petrograder Sowjets, der unter der Leitung von Menschewiki und Sozialrevolutionären stand, welche die provisorische Regierung unterstützten. Sie wollten ihn ignorieren, aber die großen Tage von 1905 waren nicht vergessen. Nach Rufen aus der Versammlung wie ”Trotzki! Wir wollen den Genossen Trotzki hören!” durfte er sprechen. Er trat gegen eine Unterstützung der Regierung auf und rief den Sowjets zu, die gesamte Macht selbst zu übernehmen, mit Worten, die Lenins Position stark ähnelten. Im Sommer schlossen sich Trotzki und seine kleine Anhängerschar den Bolschewiki an.

Trotzkis große Begabung für öffentliche Auftritte verband sich nun unmittelbar mit der Stärke und dem Einfluss von Lenins organisierter revolutionärer Massenpartei. Er sprach auf vielen Versammlungen in Fabriken, in Sälen und auf Plätzen der Stadt und hielt seine Zuhörerschaft in Bann, was ein Beobachter wie folgt beschrieb: ”der kraftvolle Rhythmus seiner Rede, seine laute, nimmermüde Stimme, der bemerkenswerte Zusammenhang und die literarische Fertigkeit seiner Ausdrucksweise, sein Einfallsreichtum, die beißende Ironie, sein hohes Pathos, seine strenge Logik, klar wie polierter Stahl” bewirkten das.

Trotzkis blendender Erfolg als Redner bestand in der Fähigkeit, die tiefsten Bedürfnisse und Wünsche seiner Zuhörerschaft zu erfassen und auszudrücken und sie in klarer und dramatischer Sprache mit der Notwendigkeit der Revolution zu verbinden.

Alle Macht den Sowjets!

Die Regierung, nunmehr ein Bündnis aus Menschewiki, Sozialrevolutionären und kapitalistischen Ministern, verbot eine für Juni geplante bolschewistische Demonstration. Stattdessen veranstaltete sie einen offiziellen Marsch in der Hoffnung, damit ein Ventil zu schaffen. Aber während des Marsches übernahmen die ArbeiterInnen zum Entsetzen der Regierung mit Eifer die Losungen der Bolschewiki, besonders die Rufe „Nieder mit den zehn kapitalistischen Ministern“ und „Alle Macht den Sowjets“.

Viele Bolschewiki, besonders in der militärischen Abteilung der Partei, glaubten nun, dass es an der Zeit sei, die Macht von der provisorischen Regierung zu übernehmen. Aber auf dem ersten allrussischen Rätekongress im Juni hatten die Sozialrevolutionäre 285, die Menschewiki 248 und die Bolschewiki nur 105 Abgeordnete. Die Zeit für eine bolschewistische Machtübernahme war noch nicht reif, sie wusste die Mehrheit der russischen Arbeiterklasse und der Bauern noch nicht hinter sich.

In Sankt Petersburg, das inzwischen wieder Petrograd hieß, hatten Wut und Entschlossenheit der revolutionären ArbeiterInnen und Soldaten den Siedepunkt erreicht. Gegen den Rat von Lenin, Trotzki und des Zentralkomitees der Bolschewiki führten sie Anfang Juli eine bewaffnete Demonstration durch. Die Parteiführer versuchten noch, den Schaden zu begrenzen, aber umsonst.

Die Partei zog es vor, zu kämpfen und lieber an der Seite der revolutionären ArbeiterInnen eine Niederlage zu erleiden, als sich von ihnen zu isolieren und beteiligte sich deshalb auch an diesem  Kampf. Am 5. Juli1917 erreichten regierungstreue Truppen Petrograd und die Konterrevolution verrichtete ihr blutiges Werk. Die revolutionären ArbeiterInnen wurden zurückgeschlagen und verhaftet. Die Hauptquartiere der Bolschewiki wurden besetzt und zerstört. Trotzki landete erneut im Gefängnis.

In den auf diese “Julitage” folgenden Monaten geriet Russland durch die reaktionäre provisorische Regierung immer tiefer in die Krise. Auf dem Land besetzten Bauern immer mehr Adels-Güter. Die Disziplin in der Armee brach zusammen. Doch der Bolschewismus hatte trotz seiner Schwächung weiterhin Zulauf in den Fabriken.

Im Wissen, dass es so nicht weiter gehen konnte, verloren nun die Offiziere die Geduld mit der Regierung der gemäßigten “Sozialisten”. Eine Militärdiktatur, so glaubten sie, wäre die richtige Antwort. Dann würden sie alle Revolutionäre und jüdischen „Störenfriede“ hinwegfegen und den rechtmäßigen Zaren aller Russen gottgewollt auf seinen Thron zurück bringen.

Kerenski, der Regierungschef, stand im Zentrum der Kritik. Er wollte das Kriegsrecht verhängen, doch der Armeeoberbefehlshaber General Kornilow hatte andere Vorstellungen. Er setzte seine Truppen auf Petrograd zur Vorbereitung eines Putsches in Marsch.

In blinder Panik gab die Regierung den Befehl zur Verteidigung von Petrograd. Aber ohne den Rückhalt durch die revolutionären ArbeiterInnen und Soldaten hatten sie keine Chance, und sie wussten das auch. Eine Gruppe von Matrosenvertretern besuchte Trotzki im Gefängnis und befragte ihn, ob sie gemeinsam mit Kerenski gegen den Putsch vorgehen oder beide stürzen sollten. Trotzkis Antwort war ein gutes Beispiel für revolutionären Wirklichkeitssinn. Er riet ihnen, sich zuerst gegen Kornilow zu wenden, um hernach um so leichter Kerenski stürzen zu können.

Die Bolschewiki kamen aus ihren Verstecken hervor und die Sowjets veröffentlichten einen Aufruf zur bewaffneten Verteidigung der Revolution. Die ArbeiterInnen boykottierten alles, was den Putsch begünstigt hätte. Kornilows Truppen konnten weder Eisenbahnen noch Telegrafen benutzen. Bewaffnete ArbeiterInnen zogen Kornilows verwirrte und widerwillige Mannschaften auf ihre Seite. Die Revolte brach fast ohne Waffeneinsatz zusammen.

Wie Trotzki vorausgesagt hatte, war die Wirkung auf Kerenski und die gemäßigten Sozialisten gleichermaßen erschütternd. Die provisorische Regierung erschien schwach und unentschlossen. Sie hatte die Revolution an den Rand des Ruins gebracht. Hatten sich Kerenski und seine kapitalistischen Verbündeten mit Kornilow nicht noch kurz vor dem Putschversuch abgesprochen? Und hatten die Bolschewiki nicht schon lange davor gewarnt?

Im September sammelten die Bolschewiki überall neue AnhängerInnen in den landesweiten Sowjets. Während der vergangenen Monate der Revolution hatte sich auch eine bedeutende Verschiebung der Kräfte unter der Bauernschaft ergeben. Unzufrieden mit der Blockierung der Landreform und der Weiterführung des Krieges unter der provisorischen Regierung  Kerenskis wurden sie immer zahlreicher zu Unterstützern der konsequent revolutionären Politik der Bolschewiki. Ohne diese Unterstützung der Millionen Bauern wären der Sieg und die Verteidigung der Revolution unmöglich gewesen.

Am 23.9. wurde Trotzki erneut zum Vorsitzenden des Petrograder Sowjets gewählt. Lenin warb emsig innerhalb der Partei für eine sofortige bewaffnete Machtübernahme. Doch zunächst traf er bei der Mehrheit der anderen bolschewistischen Führer auf Ablehnung.

Der bewaffnete Aufstand

Trotzki hingegen befürwortete eine Erhebung. Scharfsinnig hielt er die Organisierung des Aufstands unter dem Kommando der Sowjets als die beste Methode zur Machteroberung und -sicherung. Der Petrograder Sowjet nahm diesen Vorschlag an: ”Wenn die provisorische Regierung unfähig ist, Petrograd zu verteidigen, muss sie entweder Frieden schließen (mit Deutschland) oder den Platz räumen für eine anderes Regime.” Der Sowjet richtete unter Trotzkis Leitung einen militärischen Revolutionsausschuss ein, um die Machtübernahme vorzubereiten.

Am 22. Oktober waren die Vorbereitungen nahezu abgeschlossen. Auf einer Massenkundgebung, die vom Sowjet veranstaltet wurde, forderte Trotzki tausende ArbeiterInnen und Soldaten auf, die Revolution bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen. Am nächsten Tag wagte er sein Leben, als er ohne Geleitschutz eine Zusammenkunft der Soldaten auf der Festung Sankt Peter und Paul besuchte, deren Loyalität zum Sowjet zweifelhaft schien. Nach einer Rede vor den versammelten Soldaten kehrte er mit dem Bericht zurück, dass sie nur den Befehlen des militärischen Revolutionsausschusses gehorchen und ihre 100.000 Gewehre ganz in den Dienst der Revolution stellen würden.

Während der Nacht und des Morgens vom 24. auf den 25.10. übernahmen Sowjetverbände die Kontrolle über alle Schlüsselstellungen der Stadt: Bahnhöfe, Lebensmittellager, die Telefonzentrale, Kraftwerke, Postämter, Brücken und Straßenkreuzungen. Widerstand wurde nicht geleistet - die Truppen der Regierung waren in Auflösung begriffen. Am 25.10. um 10 Uhr früh verkündete der militärische Revolutionsausschuss: ”Die provisorische Regierung ist gestürzt. Die Staatsmacht ist in die Hände des Organs des Petrograder Arbeiter- und Soldatendeputiertenrates übergegangen”

An jenem Abend traf sich der 2. allrussische Sowjetkongress in Petrograd. 60% der Abgeordneten waren Bolschewiki. Martow erklärte im Namen der Menschewiki-Fraktion, dass eine gemeinsame Regierung aus Vertretern aller sozialistischen Parteien unter Einschluss der menschewistischen  Hauptströmung und der rechten Sozialrevolutionäre, die gegen Sowjetmacht und für sofortige Verhandlungen mit der abgesetzten provisorischen Regierung waren, gebildet werden sollte. Trotzki erhob sich und erwiderte in einer seiner berühmtesten und dramatischsten Ansprachen:

”Unser Aufstand hat gesiegt. Und jetzt schlägt man uns vor: verzichtet auf euren Sieg, geht auf Verständigung ein. Mit wem? Ich frage: mit wem sollen wir die Verständigung eingehen? Mit jenen kläglichen Häuflein, die davon gelaufen sind? (...) Aber wir haben sie in all ihrer Größe gesehen. Hinter ihnen steht niemand in Rußland. Mit ihnen sollen sich verständigen, als Gleiche mit Gleichen, Millionen auf diesem Kongreß vertretene Arbeiter und Bauern, die jene gegen eine Gunst der Bourgeoisie nicht zum ersten- und nicht zum letzten Mal auszutauschen bereit sind. Nein, hier ist eine Verständigung nicht am Platz!” (Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, S. 951)

Zum ersten Mal in der Geschichte hatten Arbeiterinnen und Arbeiter den Staat in die eigenen Hände genommen. Allerdings einen Staat neuen Typs, unter ihrer unmittelbaren Kontrolle und zu einem neuen Zweck. Die Oktoberrevolution bewies die grenzenlose Energie und Schöpferkraft der Arbeiterklasse sowie die Notwendigkeit einer fest organisierten revolutionären Partei zur Führung im Kampf um die Macht.

Entgegen den feigen Argumenten der Menschewiki und Reformisten stellte sich heraus, dass es beim Sturz einer privilegierten Minderheit für die arbeitende Mehrheit keine Alternative zur Gewalt geben kann. Die Revolution zeigte der ganzen Welt, dass Arbeitermacht und Sozialismus keine bloßen Träume oder blutleeren Theorien sind, sondern die zwingende Konsequenz aus jahrhundertelangen Kämpfen.

Mit nur 38 Jahren an der Spitze der revolutionären Massen, als Mitglied der ersten siegreichen Arbeiterregierung, hatte die Oktoberrevolution Trotzki aus einem unbekannten, isolierten Agitator in  einen berühmten Führer eines proletarischen Staates gemacht.

Trotzki war nun auf dem Höhepunkt seines Einflusses angelangt, aber er gab sich nicht mit dem Erreichten zufrieden; seine revolutionäre Laufbahn war noch längst nicht beendet. Seine bedeutendsten Auseinandersetzungen lagen noch vor ihm.

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  Vorwort
  Einleitung
  Kapitel 1: Aus dem Gefängnis an die Macht
  Kapitel 2: Die permanente Revolution
  Kapitel 3: Brot, Land und Frieden
  Kapitel 4: Der Bürgerkrieg
  Kapitel 5: Der Aufstieg Stalins
  Kapitel 6: Trotzki und die Weltrevolution
  Kapitel 7: Der Kampf gegen den Faschismus
  Kapitel 8: Die Vierte Internationale
  Kapitel 9: Das Übergangsprogramm
  Kapitel 10: Das Leben ist schön
  Hans Graaf, Die Austreibung Trotzkis
  Hannes Hohn, Für den Aufbau der Fünften Internationale

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