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Theoriegeschichte

100 Jahre Hilferdings “Das Finanzkapital”

Martin Suchanek, Neue Internationale 142, September 2009

1909 erschien Rudolf Hilferdings „Das Finanzkapital“. Es sollte ein zentrales Werk der Literatur über den Imperialismus werden.

Hilferding war der Erste, der den Begriff des „Finanzkapitals“ entwickelte und die neue, imperialistische Epoche als eine der Vorherrschaft des Finanzkapitals bestimmte. In dieser Hinsicht inspirierte er die Sichtweise des Marxismus des 20. Jahrhunderts wie wenige andere.

Er gehört neben Luxemburg, Bucharin, Kautsky, Trotzki und natürlich Lenin zu den wichtigsten Autoren, die schon vor dem Ersten Weltkrieg versuchten, das Wesen des jüngsten Entwicklungsstadiums des Kapitalismus zu bestimmen. Den Hintergrund bilden sowohl ein enormer Zentralisations- und Konzentrationsprozess des Kapitals (was sich in  der Bildung von Kartellen, Trusts, riesigen Monopolen) abzeichnete, der zunehmenden Bedeutung des Bankkapitals und des Kapitalexports und der Aufteilung der Welt zwischen den Großmächten und Monopolen.

Auf politischer Ebene wurde das begleitet durch aggressive Außenpolitik, koloniale Interventionen - von der „Kanonenbootpolitik“ bis zum Völkermord wie jenem an den Hereros und Nama durch das deutsche Marineexpeditionskorps 1908 - und der Verschärfung der staatlichen Kontrolle im Inneren. Alle diese Entwicklungen bedurften einer theoretischen Erklärung, welche MarxistInnen zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu geben suchten.

Das bleibende Verdienst Hilferdings besteht wohl darin, dass er die Aufmerksamkeit und die Analyse auf eine Formveränderung des Kapitals selbst richtete, auf das „Finanzkapital“.

Vor dem Ersten Weltkrieg war Hilferding ein Linker in der internationalen Sozialdemokratie. Im Zweiten Weltkrieg der USPD nahe, ging er später als zentraler Theoretiker ganz zum Reformismus und Austromarxismus. Er wurde vom Revolutionär zum Reformisten.

„Das Finanzkapital“ ist noch in seiner Zeit als Linker geschrieben und endet mit einer Schlussfolgerung, die ganz auf der Linie revolutionärer Politik und eines revolutionären Optimismus lag. So schreibt er im abschließenden Kapital „Das Proletariat und der Imperialismus“:

„Kann aber das Kapital keine andere Politik machen als die imperialistische, so kann das Proletariat der imperialistischen nicht eine Politik entgegensetzen, die die Politik der Zeit der Alleinherrschaft des industriellen Kapitals war; es ist nicht Sache des Proletariats, der fortgeschritteneren kapitalistischen Politik gegenüber die überwundene Freihandesära und der Staatsfeindschaft entgegenzusetzen. Die Antwort des Proletariats auf die Wirtschaftspolitik des Finanzkapitals, des Imperialismus, kann nicht der Freihandel, kann nur der Sozialismus sein.“ (Hilferding, Das Finanzkapital, S. 556, Dietz-Verlag, 1947)

Und er schließt das Buch mit folgenden Sätzen:

„Das Finanzkapital in seiner Vollendung bedeutet die höchste Stufe ökonomischer und politischer Machtvollkommenheit in der Hand der Kapitaloligarchie. Es vollendet die Diktatur der Kapitalmagnaten. Zugleich macht es die Diktatur der nationalen Kapitalbeherrscher des einen Landes immer unverträglicher mit den kapitalistischen Interessen des anderen Landes und die Herrschaft des Kapitals innerhalb des Landes immer unvereinbarer mit den Interessen der durch das Finanzkapital ausgebeuteten, aber auch um Kampf aufgerufenen Volksmassen. In dem gewaltigen Zusammenprall der feindlichen Interessen schlägt schließlich die Diktatur der Kapitalmagnaten um in die Diktatur des Proletariats.“ (Hilferdings, S. 562)

Schwächen Hilferdings

Aber eine Würdigung Hilferdings wäre ganz und gar ungenügend, würde sie nicht auch die theoretischen Schwächen seiner Arbeit benennen, die vom Marxismus abweichen und auch seine Wende zum Reformismus vorbereiten. Zentrale Fehler seiner Arbeit waren:

1. Eine falsche Geldtheorie, die mit der Marxschen Werttheorie fundamental bricht.

Hilferding zufolge wird der Wert des Geldes nicht mehr bestimmt durch die Menge der gesellschaftlich notwendigen Arbeit zur Herstellung der Geldware, sondern sein Kurs würde durch den „gesellschaftlich notwendigen Zirkulationswert bestimmt.“

Dieser Bruch ist Hilderding und auch den Marxisten zu Beginn des 19. Jahrhunderts durchaus bewusst. Sie tun diese, wie z.B. Kaustky 1910 in der „Neuen Zeit“, aber als „Schrulle“ ab.

Wie Markus Lehner im Artikel „Finanzkapital, Imperialismus und die langfristigen Tendenzen der Kapitalakkumulation“ zeigt, liegt dem jedoch schon eine falsche Darstellung des Wertgesetzes selbst zugrunde, wo Hilferding Wertsubstanz (abstrakte Arbeit) und Wertmaß (Arbeitszeit) im von ihm eingeführten Begriff „abstrakte Arbeitszeit“ vermengt. Diese Konfusion Hilferdings führt dann auch dazu, dass er die Wertbildung selbst in den Zirkulationsprozess verlagert - womit der Wert des Geldes als Zirkulationsmittel letztlich nicht mehr durch die Produktion, sondern in der Zirkulation gebildet wird.

Politisch-praktisch geht dies damit einher, dass die Banken, insbesondere die Notenbanken politisch den Geldwert setzen können - und dies auch „krisenfest“. Daher auch seine heute eigentümlich anmutende Sicht, dass die monopolisierten Banken der Ära des Finanzkapitals tatsächlich die Spekulation zurückdrängen könnten, dass der „nüchterne“ Bankbeamte den Spekulanten ersetzen würde.

Hilferding entwickelt also letztlich ein Bild von Finanzkapital, wo alles von einer Finanz- und Bankenoligarchie abhängt, kontrolliert wird und - umgekehrt - diese Oligarchie die Mittel hätte, die kapitalistische Wirtschaft „organisiert“, also krisenfrei zu führen. Das Finanzkapital hätte so unter der Hand eine Möglichkeit geschaffen, die Wirtschaft krisenfrei zu organisieren. Umgekehrt bedeutet dass auch, dass die Arbeiterklasse oder ein „progressives Bündnis“ diese nur in ihre Hände nehmen und zum Wohle der Menschheit einsetzen müsste.

2. Diese theoretische Schwäche zeigt sich auch im Unterschied der Hilferdingschen und der Leninschen Definition des Finanzkapitals. Lenin selbst führt das in seiner bahnbrechenden Broschüre „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus aus:

„ ‚Ein immer wachsender Teil des Kapitals der Industrie', schreibt Hilferding, ‚gehört nicht den Industriellen, die es anwenden. Sie erhalten die Verfügung über das Kapital nur durch die Bank, die ihnen gegenüber den Eigentümer vertritt. Anderseits muß die Bank einen immer wachsenden Teil ihrer Kapitalien in der Industrie fixieren. Sie wird damit in immer größerem Umfang industrieller Kapitalist. Ich nenne das Bankkapital, also Kapital in Geldform, das auf diese Weise in Wirklichkeit in industrielles Kapital verwandelt ist, das Finanzkapital.' Das Finanzkapital ist also ‚Kapital in der Verfügung der Banken und in der Verwendung der Industriellen'. (Hilferding)

Diese Definition ist insofern unvollständig, als ihr der Hinweis auf eines der wichtigsten Momente fehlt, nämlich auf die Zunahme der Konzentration der Produktion und des Kapitals in einem so hohen Grade, daß die Konzentration zum Monopol führt und geführt hat. Doch wird in der ganzen Darstellung Hilferdings überhaupt und insbesondere in den zwei Kapiteln, die demjenigen, dem diese Definition entnommen ist, vorangehen, die Rolle der kapitalistischen Monopole hervorgehoben.

Konzentration der Produktion, daraus erwachsende Monopole, Verschmelzung oder Verwachsen der Banken mit der Industrie - das ist die Entstehungsgeschichte des Finanzkapitals und der Inhalt dieses Begriffs.“ (Lenin, Werke Bd. 22, S. 230)

Schluss

Die Geschichte hat gezeigt, dass der Unterschied dieser Definitionen durchaus größer war, als von Lenin ins Auge gefasst.

Die Hilferdingsche Vorstellung einer möglichen krisenfreien Regulierung wurde zur theoretischen Begründung einer Schule des Reformismus der Zwischenkriegszeit.

Doch auch nach 1945 diente sie weiter zu Begründung einer Spielart stalinistischer, neo-reformistische Kapitalismus- und Imperialismustheorie, der Theorie vom „staatsmonopolistischen Kapitalismus“ mit dem DKP und SPD-Linke jahrtezehntelang hausieren gingen.

Hilferdings „Das Finanzkapital“ steht nach 100 Jahren nicht nur für die geistige Auseinandersetzung der Arbeiterbewegung, das Ringen um ein Verständnis neuer Phänomene (was sich immer auch in Irrtümern bewegt). Es steht auch dafür, dass sich im „Finanzkapital“ Momente der beiden Flügel der Arbeiterbewegung, die in der imperialistischen Epoche einander als Todfeinde gegenüberstehen - des revolutionären, wie des reformistisch- bürgerlichen - noch vermengen.

Hilferding hat, bei allen Fehlern, einen Beitrag zur Entwicklung auch der revolutionären Arbeiterbewegung geleistet. Seine Tragik besteht freilich darin, dass seine politische und theoretische Entwicklung dazu führte, dass die revolutionären, fortschrittlichen Aspekte und Folgerungen seiner Arbeit heute geradezu als Fremdkörper seines Lebenswerks erscheinen.

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