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Entgeltrahmenabkommen

ERA, Preis, Profit

Frederick Haber, Neue Internationale 124, Oktober 2007

Lohn ist der Preis für die Ware Arbeitskraft, deren Wert durch ihre Reproduktionskosten, also die Summe aller Warenwerte bestimmt wird, die zu ihrer (Wieder)Herstellung benötigt werden. Das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse von Marx.

Die Arbeitskraft schafft den Mehrwert für den Kapitalisten, da sie die einzige Produktivkraft ist, die mehr Werte schaffen kann, als zu ihrer Herstellung gebraucht wurden. Die Kapitalisten hören das nicht gern, für sie sind die Träger der Arbeitskraft nur Kostenfaktoren.

Daraus folgt auch, dass die Vorstellung vom „gerechten“ Lohn eine ideologische Fassade ist, die das eigentliche Ausbeutungsverhältnis verdeckt. Sprüche wie „Gute Arbeit, gutes Geld“ oder „Für ein gerechtes Entgeltsystem“, „für die Bezahlung von Arbeit und Qualifikation“ verbleiben auf der gesellschaftlichen Oberfläche, sind eigentlich Mystifikationen. Sie verschleiern, dass kapitalistische Ausbeutung auch, ja gerade unter der Bedingung stattfindet, dass die Arbeitskraft zu ihrem Wert ge- bzw. verkauft wird, als zu einem „gerechten Wert.“

Berthold Huber, demnächst Vorsitzender der IG Metall, hätte dies wissen können. Vor etwa 6 Jahren war er als Bezirksleiter von Baden-Württemberg entscheidend an der endgültigen Ausprägung von ERA, dem neuen Bezahlungssystem in der Metallindustrie beteiligt.

Schöne neue Welt

Die Ziele des neuen Rahmenvertrags klangen überzeugend. Die unterschiedlichen Tabellen für ArbeiterInnen, technische und kaufmännische Angestellte sollten zusammengeführt und einheitliche Kriterien eingeführt werden. Die FacharbeiterInnen sollten aufgewertet werden. Die heutigen Berufe und Qualifikationen sollten erfasst werden. In der Tat kannte der alte Lohn- und Gehaltsrahmen weder Programmierung noch Informationstechnik.

ERA besteht aus einem ganzen System von Tarifverträgen, die auch noch nach Tarifgebieten sehr unterschiedlich ausfallen. Es gibt zukünftig nicht mehr Lohn oder Gehalt, es gibt Entgelt. Es gibt keine Akkord- und keine Leistungszulage, sondern Leistungsentgelt. Es gibt so goldige Wortschöpfungen wie „betrieblich ermöglichter Mehrverdienst“ und die Menschheit zerfällt in „Überschreiter“ und „Unterschreiter“, wobei entgegen spontaner Logik letztere die sind, die besser wegkommen.

Was ihre Schöpfer aus den Bezirksleitungen also die „ERA-Welt“ nennen, ist ein Irrgarten komplizierter Regeln und Mechanismen, die noch schwerer nachvollziehbar sind als ihre Vorgänger.

Alle Arbeitsplätze werden neu bewertet. Nach dem Baden-Württemberger Vertrag, der Mutter aller ERAs, wird z.B. untersucht, welche Qualifikation nötig ist und wieviel Erfahrung, wieviel eigenes Denken, Kommunikation und Handlungsspielraum vorhanden sind.

Um auf finanzieller Ebene dieses Projekt durchzuführen, wurden vier Jahre lang Teile von Lohnerhöhungen in betriebliche Fonds eingezahlt. Daher gibt es also Spielraum nach oben, die eigentliche Lohnlinie liegt ja höher; und es gibt Reserven, um den ERA-Verlierern weiter ihr altes Einkommen zu zahlen, das allerdings in den nächsten Tarifrunden nicht erhöht wird.

Bilanz

Diese starke Ausrichtung auf Qualifikation geht zwangsläufig zu Lasten der Produktionsarbeitsplätze. Mit kurzen Anlernzeiten und einfachen Tätigkeiten landet man bei ERA ganz unten. Während früher bis zu 5 Lohngruppen-Stufen durch die Belastung am Arbeitsplatz bezahlt wurden, gibt es heute maximal 5 Belastungspunkte (ca 350 € ) in Baden-Württemberg oder gar nichts in Berlin-Brandenburg.

Begründet wird dies innerhalb der IG Metall damit, dass sowieso die Belastung in Wirklichkeit abgebaut worden sei und dass man ja diese gar nicht mehr zulassen wolle. Das ist unlogisch. Wenn Belastungen den Unternehmer nichts kosten, dann werden sie wieder zunehmen. In der Tat sind zwar Lärm und Schmutz in etlichen Fällen zurückgegangen - aber die Belastungen insgesamt steigen durch die Intensivierung der Arbeit, durch die Rückkehr zu kurzen Takten und durch immer flexiblere Schichten, Streichung von Pausen und Verdichtung der Arbeit.

Hinzu kommt, dass die aktuelle Periode der Überakkumulation und verschärften Konkurrenz des Kapitals gerade dazu führt, dass die Steigerung der Ausbeutungsrate v.a. durch Steigerung des absoluten Mehrwerts (Intensivierung, Verlängerung des Arbeitstages ...) stattfindet - also gerade durch Erhöhung der Belastung der ArbeiterInnen.

Die ProduktionsarbeiterInnen werden aber doppelt bestraft: die Akkordzuschläge werden abgeschafft. Während früher im Schnitt 30% gezahlt werden mussten und in Wirklichkeit oft darüber, sind diese 30% jetzt das Maximum. Der Schnitt liegt zukünftig bei 15%. Oftmals wurden diese Akkorde so gar nicht mehr erarbeitet. Computergesteuerte Anlagen lassen sich nicht beliebig schneller stellen. Aber diese Lohnbestandteile konnten meistens bei der Einführung dieser neuen Anlagen gesichert werden - für alle, auch die Neuen im jeweiligen Bereich. Die Umstellung auf ERA vernichtet diese alten Einkommensbestandteile genauso wie hohe Gehaltsgruppen für Beschäftigte in anderen Bereichen, deren Qualifikation entwertet worden ist. Auch hier war in den Großbetrieben der Industrie selten das Gehalt gekürzt worden.

ERA sichert in solchen Fällen das individuelle Einkommen schon Beschäftigter. Aber neu Eingestellte werden zukünftig mit bis zu 40 oder gar 50 % weniger auskommen müssen. Die wichtigen Tarifrunden wurden immer mit den Großbetrieben der Autoindustrie geführt. Wenn große Teile der dort Beschäftigten nur noch auf Absicherungen sitzen und die erkämpften Erhöhungen angerechnet werden, wird diese Kampfkraft nachlassen. Zurecht regt sich deshalb Widerstand in den Belegschaften wie bei DaimlerChrysler Berlin-Marienfelde.

Auch wenn es keiner der IG Metall-Oberen zugibt: Offensichtlich wird hier die Logik der Standortsicherungsverträge fortgesetzt, die gerade bei Daimler schon massiv die Löhne in der Produktion für die Zukunft herabgesetzt haben. Offensichtlich soll auch mit ERA die „einfache Arbeit“ billiger gemacht werden, um dem Kapital auch in Deutschland hohe Renditen zu sichern.

Wen wundert es dann noch, dass bei den Standortsicherungsverträgen oft die ERA-Ziellinie herabgesetzt wurde oder Teile des ERA-Fonds, also bereits erkämpfte Lohnhöhen, geopfert wurden? Die Befürchtungen kritischer KollegInnen, die schon 2002, als 0,9% der erstreikten Lohnerhöhung im ERA-Topf verschwand, äußerten: „Das Geld sehen wir nie wieder“, haben sich bewahrheitet.

Panne oder Absicht?

Vor diesem Hintergrund muss man sich fragen, ob es politische Kurzsichtigkeit oder Absicht war, die Belegschaften und die Betriebsräte mit ERA zu konfrontieren, als sie gerade mit Personalabbau und Lohnkürzungen konfrontiert waren. Auch heute hat der Druck in den Betrieben trotz des „Aufschwungs“ nur wenig nachgelassen. In dieser Lage wurden die Betriebsräte vor die Aufgabe gestellt, alles, was sie über Jahrzehnte im Betrieb lohnpolitisch erreicht hatten, neu zu erkämpfen. Diesen Kampf haben viele verloren. Hinter den Absicherungsmechanismen wird diese Niederlage aber versteckt.

Die Unterstützung der Gewerkschaft für die Betriebsräte beschränkt sich auf Schulungen. Selbst da, wo Belegschaften den Kampf suchen, werden sie allein gelassen. So streikten die ArbeiterInnen beim Stuttgarter Maschinenbauer Coperion zwei Tage lang während der Tarifrunde. Sie setzten durch, dass ihre Löhne 1:1 in ERA überführt werden. Es gab keine organisierte Solidarität der anderen Maschinenbaubetriebe, obwohl eine Niederlage auch sie getroffen hätte und der Kampf hätte zu einem Beispiel werden können.

Die Debatte um die Einstufung von Arbeitsplätzen kann Beschäftigte voranbringen. Gerade Angestellte wurden darin erzogen, dass das Gehalt die individuelle Wertschätzung ihrer Arbeit durch den Vorgesetzen ausdrückt. Es könne nur durch Leistung oder Willfährigkeit verbessert werden. Jetzt erleben auch sie Angriffe. Wenn eine ganze Gruppe beginnt, über die Arbeitsinhalte zu diskutieren, lernen sie, dass Lohnfragen auch eine kollektive Angelegenheit sind. Wenn sie gemeinsam versuchen, die Einstufung zu verbessern, ist das mehr gewerkschaftliche Grundbildung als das Surfen auf den web-Seiten der IG Metall. Aber auch zu solchen Umsetzungen gibt es keine Handlungsanleitungen der Gewerkschaft. Jedem Betriebsrat bleibt es selbst überlassen, und so werden die Einstufungen mal mit größtmöglicher Beteiligung der Beschäftigten, mal im Hinterzimmer am grünen Tisch verhandelt.

Neuer Tarif? Neue Führung für die IG Metall!

Das System der Lohnfindung sagt einiges aus über die Arbeiterklasse in Deutschland. Es gibt einen hohen Anteil an „Arbeiteraristokratie“, also von Schichten, die sich über ihre höhere Qualifikation unentbehrlich machen konnten und aufgrund der starken Stellung des deutschen Imperialismus auch entsprechend bezahlt werden.

Nicht ohne Grund singen gerade MetallerInnen das Lied vom „Exportweltmeister.“ Diese arbeiteraristokratischen Schichten verteidigen ihre Qualifikation als Grundlage ihrer "Privilegien". In einer Zeit, da das deutsche Kapital diese angreifen muss, hat dieser Kampf auch etwas Fortschrittliches. So wie ihn die IG Metall gestaltet - auf Kosten der un- oder geringqualifizierten KollegInnen - ist es reaktionär!

Ein zweites Merkmal der deutschen Arbeiterklasse ist der hohe Anteil an hauptamtlichen Bürokraten in der Gewerkschaft oder im Betriebsrat. Sie schöpfen ihre Existenzberechtigung aus Verträgen wie ERA, denn so eine Bibel brauchen ihre Hohepriester, um sie auszulegen.

Vor allem aber zeigt ERA den Zustand der IG Metall. Eine Führung, die sich den Wettbewerbsinteressen des Kapitals verschreibt und dafür die gewerkschaftliche Solidarität international wie national opfert; die bereit ist, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeitenden  verschlechtern.

In Deutschland lagen die Löhne lange über dem Existenzminimum. Natürlich dank der guten ökonomischen Lage des deutschen Kapitals, aber auch dank der Kampfkraft der Klasse. Die MetallerInnen waren hier vorne dran.

Doch selbst die Sicherung der Reproduktionskosten durch die Klasse, der Verkauf der Ware Arbeitskraft zu ihrem Preis ist kein Selbstläufer. Ohne kollektive Interessenvertretung, ohne gewerkschaftlichen Kampf würde der Arbeitslohn für immer größere Arbeitergruppen unter ihren Wert fallen - zumal angesichts einer industriellen Reservearmee von Millionen. Oder, wie es Friedrich Engels in „Das Lohnsystem“ formulierte: „Ohne den Widerstand durch die Trade-Unions erhält der Arbeiter nicht einmal, was ihm nach den Regeln des Lohnsystems zusteht.“

Die IG Metall ist mit dieser Führung auf dem Weg, ihren Mitgliedern, den Beschäftigten in der Metallindustrie, nicht einmal mehr das zu sichern. Für die ArbeiterInnen aus Dienstleistungsbetrieben, die zu Tausenden schon heute bei Daimler, Ford, VW und Co. arbeiten, ist dies oft schon Wirklichkeit. Eine neue Führung ist nötig! Aber wir wagen die Prognose: der IGM-Gewerkschaftstag wird sie nicht bringen. Nur eine klassenkämpferische Bewegung der Basis kann sie erkämpfen.

Eine solche Bewegung muss nicht nur für Solidarität und Methoden des Klassenkampfes eintreten. Sie muss auch begreifen, dass die Frage der Sicherung des Arbeitslohns, der Reproduktion der gesamten Klasse nicht nur eine gewerkschaftliche Frage ist. Die Kapitalistenklasse und ihr Staat führen einen Generalangriff durch, von dem ERA nur ein wichtiger, die betriebliche Realität und gewerkschaftliche Diskussion aktuell mit-prägender, Teil ist.

Diesem muss auch eine Gewerkschaftsopposition Rechnung tragen! Nur als bessere, „rein gewerkschaftliche“ Vertretung wird die Offensive des Kapitals nicht zu stoppen sein.

Eine solche Opposition muss sich als politische Opposition zur reformistischen Führung verstehen, die auch für politische Forderungen wie gesetzlichen Mindestlohn, Abschaffung aller Einschränkungen des Streikrechts, für den gemeinsamen Kampf von GewerkschafterInnen, Arbeitslosen, AntikapitalistInnen eintritt. Sie muss sich vor allem auch dem Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung widmen und diesen mit dem Kampf für eine neue, revolutionäre Arbeiterpartei verbinden.

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Nr. 124, Oktober 2007
*  Soziale Lage: Die Massen zahlen drauf
*  Afghanistan-Einsatz: Deutschen Imperialismus stoppen!
*  Entgeltrahmenabkommen: ERA, Preis, Profit
*  Anti-kapitalistische Linke: Schönredner der Linkspartei
*  Hessen: Alle lieben Willi
*  Heile Welt
*  90 Jahre Oktoberrevolution: Lehren eines Sieges
*  Pakistan: Regime in Krise
*  Venezuela: Eine sozialistische Partei?
*  BKA-Gesetz: Schäubles FBI verhindern!