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Ausnahmezustand in Frankreich

Der Aufstand der Jugend und die Linke

Martin Suchanek/Rex Rotmann, Neue Internationale 106, Dezember 2005/Januar 2006

Der Rauch der Jugendrebellion, welcher die französischen Vorstädte im Oktober/November 2005 durchwehte, hat sich verzogen. Der von der Nationalversammlung am 15. November beschlossene Ausnahmezustand gilt aber weiter - bis Februar 2006.

Dadurch wird den Präfekten der jeweiligen Départements (Bezirke), also vom Zentralstaat eingesetzten Beamten, erlaubt, Ausgangssperren zu verhängen. Es ist auch erlaubt, Personen, die die „öffentliche Ordnung gefährden, zwangsweise festzuhalten, „Pressekontrollen“ einzuführen oder Versammlungslokale zu schließen.

Der rassistische und nationalistische Hintergrund des Gesetzes ist bekannt. Zuletzt wurde es in Frankreich 1961, während des Algerienkrieges angewandt, um AlgerierInnen zu verbieten, nach Einbruch der Dunkelheit die Straßen zu betreten.

Als die algerische Befreiungsfront FLN am 17. Oktober 1961 aufrief, das Gesetz mit Demonstrationen für die Unabhängigkeit ihres Landes zu durchbrechen, wurden in Paris 300 AlgerierInnen von der Polizei ermordet und viele von ihnen einfach in die Seine geworfen. Mehr als 10.000 wurden in Sammellagern und Fußballstadien festgehalten.

Sarkozys Provokationen

Erster Anlass für die Ausbrüche von Gewalt war der Tod zweier Jugendlicher, die auf der Flucht vor der Polizei in ein Trafohaus geflüchtet waren und dort einen Stromschlag erlitten. Diese Episode war nur eine Eskalation des permanenten Kleinkriegs zwischen der Polizei und den Jugendlichen, die sich oft mit Kleinkriminalität oder illegalem Handel durchschlagen müssen. Die Ursachen der Unruhen in den Vorstädten, die seit Jahren immer wieder aufflackern, liegen freilich tiefer.

Dort wohnen vor allem ImmigrantInnen, oft Nachkommen von AlgerierInnen, die nach Ende des Kolonialkrieges nach Frankreich gekommen waren. Keine Regierung hatte in den Jahrzehnten ernsthaft versucht, diesen Menschen eine gleichberechtigte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. So verstärkten sich die Tendenzen der sozialen Desintegration immer mehr: schlechtere Bildung, weniger Infrastruktur, hohe Arbeitslosigkeit, Separierung und Gettoisierung des sozialen Lebens der ImmigrantInnen.

In den letzten Jahren hat sich deren Lage durch die diversen Sparprogramme der Regierung weiter verschlechtert. Die Ausgaben für Schulen, Jugendeinrichtungen, soziale Unterstützungen usw. wurden gerade in den Pariser Randbezirken gekürzt. Das Gefühl der Jugendlichen dort, Menschen zweiter Klasse zu sein, nicht gebraucht zu werden, überflüssig zu sein, hat handfeste soziale Ursachen.

Hinzu kommt die politische Krise der herrschenden Klasse in Frankreich - das NEIN beim EU-Referendum, die Streiks und Blockaden korsischer und französischer Hafenarbeiter, der landesweite Massenstreik im Oktober und die Planung eines weiteren Aktions- und Streiktages im November.

Die Eskalation

In dieser Situation hat Innenminister Sarkozy die Situation bewusst eskaliert. Nach dem Tod der beiden Jugendlichen inszenierte er seine rassistischen Provokationen in den Vorstädten und im Fernsehen. Die Jugendlichen seien „Gesindel, das man wegpusten müsse“.

Chirac und De Villepin ließen verlauten, dass man sich in der Sprache mäßigen müsse - und überließen Sarkozy das Feld. SP-Chef Hollande forderte Sarkozy’s Rücktritt, jedoch nur solange, wie sich die Aufstände noch nicht ausgeweitet hatten.

Zugleich werden über die Medien gezielt rassistische Lügen verbreitet. Der Aufstand der Jugend soll als sinnlose Krawallmacherei oder „bestenfalls“ als Ausdruck von Empörung gesehen werden, „der jetzt jedoch beendet werden müsse“. In dieser Situation stimmt auf die oppositionelle SP damit überein, dass die Hauptaufgabe die „Wiederherstellung der Ordnung“ sein müsse, um dann die Jugend mit Knüppel, Sozialarbeit und leeren Versprechungen zu befrieden.

Vor allem aber geht es darum, die Mittelschichten und Teile der Arbeiterklasse mit der „Angst vor dem Chaos“ und durch rassistische Hetze auf die Seite der Unterdrückung zu ziehen, um die Lohnabhängigen zu spalten und den eigenen sozialen Frust auf die „Fremden“ zu projizieren.

Eine landesweite Rebellion

In Wirklichkeit handelte es sich bei der Bewegung nicht um Aktionen einzelner „Jugendgangs“. Es handelt sich um eine landesweite Rebellion, um einen Aufstand der Vorstädte, der sich auf die Masse der überwiegend migrantischen Jugendlichen vor allem aus subproletarischen Schichten stützt und die Sympathie der Mehrheit der BewohnerInnen dieser Vorstädte genießt.

In dem, was oberflächlich als „Vandalismus“ und „Krawallmacherei“ bezeichnet wird, zeigt sich der Charakter des Aufstandes als einer spontanen Emeute, einer Art Aufruhr, die sich gegen die staatliche Ordnung richtet, diese vor Ort herausfordert, der es jedoch auch (noch) an einer politischen Perspektive und Organisierung fehlt.

Die bürgerliche Presse und „Migrationsforscher“ versuchen, den Aufstand in rassistischer Manier als „islamistische“ Aktion darzustellen. Das ist nicht nur lächerlich. Es wird dabei auch die Haltung der islamischen Organisationen in Frankreich vollkommen ausgeblendet. Diese unterstützen nämlich die Regierung und nicht die Jugendlichen. So hat die den Moslembrüdern nahe stehende „Union der islamischen Organisationen Frankreichs“ (UOIF) sich in einer Fatwa gegen die Aufständischen ausgesprochen, d.h. ihnen mit religiöser „Verdammung“ gedroht, falls sie den Aufstand nicht beenden!

Anstatt dieser reaktionären „Lösungsversuche“ war und ist es notwendig, den spontanen Rebellionen eine organisierte, koordinierte Form zu geben: durch den Aufbau von Selbstverteidigungskomitees, die den Widerstand gegen die Polizei koordinieren und Verbindung zur organisierten Arbeiterbewegung und zur Linken herstellen.

So kann die von der Regierung beabsichtige Isolierung der Jugend und die Vertiefung der rassistischen Spaltung der Gesellschaft verhindert werden, indem der Aufstand in den Vorstädten mit dem Kampf gegen die Angriffe auf die sozialen Sicherungssysteme, gegen die Privatisierung, mit dem Kampf für ein Programm gesellschaftlich nützlicher öffentlicher Arbeiten unter Kontrolle der Beschäftigten verbunden wird.

De Villepin, Chirac, Sarkozy setzen - bei allen Differenzen in der Rhetorik - alles daran, diese Bewegung niederzuschlagen, zu isolieren und die Mehrheit der französischen Bevölkerung dafür zu gewinnen.

Mögen sie auch versprechen, irgendwann Jobs zu schaffen und Legionen von Sozialarbeitern und Lehrern in die Vororte zu bringen - zunächst schickten sie nur 10.000 Polizisten, um die „Ordnung wieder herzustellen“.

Die Rechnung der Regierung droht jedoch aufzugehen. Die große Mehrheit der französischen Linken hat es verabsäumt, sich mit der rebellierenden Jugend zu solidarisieren. In Paris fanden nur wenige Demonstrationen mit nur einigen tausend TeilnehmerInnen gegen den Ausnahmezustand statt.

Wenn wir die Stellungnahmen der französischen Linken betrachten, wird freilich deutlich, warum die Rebellion der Jugend auf so wenig Solidarität stieß.

In der Stellungnahme „Banlieus: les vrais urgences“ (Banlieus: die wahren Notstände), die unter anderem von attac, der KPF, der CGT, Lutte Ouvriere getragen wird, heißt es:

“Die Gewalt ist selbstzerstörerisch. Sie schadet prinzipiell jenen, deren Ausschluss sie anprangern. Die Gewalt zu beenden, welche die Bevölkerung belastet, die ganz legitim nach Ruhe strebt, ist selbstverständlich notwendig. In diesem Zusammenhang darf die Aktion der Ordnungskräfte, die in einem strikt legalen Rahmen erfolgen muss und nicht zu Unverhältnismäßigkeit führen darf, nicht die alleinige Antwort sein.”

Immerhin hat die LCR diesen Schandparagraphen, der die staatliche Repression rechtfertigt und eindeutig Seite gegen die Unterdrückten bezieht, nicht unterzeichnet.

Eine Linke, die unfähig und unwillig ist, sich auf die Seite der rassistisch unterdrückten, rebellierenden Jugend zu stellen, wird natürlich auch keine AnhängerInnen unter den jungen ArbeiterInnen und Armen der Vorstädte gewinnen, die sie zurecht als linke, “zivilgesellschaftliche” Flankendeckung des rassistischen Establishments betrachten. Die LCR hat diesen Passus zwar nicht unterzeichnet, wohl aber den Rest der Erklärung, die vor reformistischen Phrasen nur so strotzt.

Statt sich mit den Jugendlichen zu solidarisieren und die Straßen von Paris und anderen Großstädten zu paralysieren, beschwört diese Linke „die Republik“, d.h. den bürgerlichen Staat!

“Die Republik muss öffentlich und durch ihre höchsten Behörden anerkennen, dass das Schicksal dieses Teils der Bevölkerung, die Diskriminierungen, die sie erfahren, unserer gemeinsamen Verantwortung und eine Übertretung der republikanischen Gleichheit darstellen.”

Das Großartige an der Rebellion der Jugend bestand aber gerade darin, den Beschwörungen der imperialistischen Republik, deren tägliche Realität nichts anderes als der tägliche rassistische Terror der Bullen und anderen staatlicher Vertreter ist, keinen Glauben mehr zu schenken.

Ein Großteil der französischen Linken hat aber die „Beendigung der Gewalt“ und damit die Rechterfertigung der staatlichen Repression zu ihrer Forderung erhoben. Die Beschwörung der bürgerlichen Republik und ihrer „Gleichheit“, die immer nur auf die Reproduktion und Rechtfertig realer Ungleichheit hinausläuft, ist ihre Maxime. Eine solche Linke ist wirklich staatstragend. Herr Sarkozy kann mit ihr zufrieden sein.

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Nr. 106, Dez 2005/Jan 2006

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*  Linkspartei-Fusion: WASG-Berlin sagt NEIN
*  Strategie- und Aktionskonferenz: Die Koalition greift an - die Konferenz zaudert
*  Aktionen gegen Studiengebühren: Über Gebühr teuer
*  Heile Welt
*  Politisch-ökonomische Perspektiven: Krise und Klassenkampf
*  Frauen und prekäre Arbeit: Küche, Krise, Kapital
*  Israel/Palästina: Alles nur Lüge
*  Ausnahmeszustand in Frankreich: Der Aufstand der Jugend und die Linke