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Gesundheitsreform

Bittere Pillen

Infomail 129, 26. Juli 2003

Frau Schmidt (SPD) und Herr Seehofer (CSU) haben zusammen eine Nacht verbracht. Das Ergebnis des Bemühens dieser beiden Vertreter von Regierung und Opposition passt zur mitternächtlichen Atmosphäre: die von beiden im Morgengrauen verkündete Gesundheitsreform ist eine der finstersten Momente des deutschen Gesundheitswesens.

Nachdem PolitikerInnen, KassenvertreterInnen, Apotheker- und ÄrztelobbyistInnen und Medien jahrelang die Misere des Gesundheitssystems beklagt und sich gegenseitig die Schuld zugeschoben haben, ist nun der Gordische Knoten von den geschickten Händen der Dame Schmidt und Dank des energischen Zupackens des bayerischen Bergdoktors Seehofer aufgedröselt worden. Die Lösung ist so einfach wie genial: die PatientInnen zahlen einfach mehr als vorher und schon läuft der Laden.

Die Negativ-Reform

Insgesamt geht es um etwa 20 Mrd. Euro Einsparungen. Davon sollen etwa 17. Mrd. von den PatientInnen aufgebracht werden.

So sollen pro Arztbesuch bis zu 10 Euro (im Vierteljahr maximal 10 Euro) bezahlt werden. Pro Tag Krankenhausaufenthalt fällt eine ähnliche Selbstkostenbeteiligung an. Zahnersatz wird ab 2005 an überhaupt nicht mehr von den Kassen gezahlt. Dafür sollen die Versicherten (nicht die Kapitalisten!) in eine Zusatzversicherung einzahlen. Ab 2007 soll auch das Krankengeld allein von den Arbeit"nehmern" übernommen werden. Etliche Medikamente werden nicht mehr auf Rezept ausgegeben, sondern müssen komplett selbst bezahlt werden. Dazu zählen v. a. "Bagatellmittel" wie Mittel gegen Schmerzen, Erkältungen etc. - also Medikamente, die einen Grossteil des Bedarfs ausmachen. Die Zuzahlungen bei Mitteln, die es auf Rezept gibt, werden ebenfalls deutlich erhöht.

Man kann nur hoffen, dass Mittel gegen Hirnschwäche noch bezahlbar bleiben, denn solche brauchten Schmidt und Seehofer bestimmt in größeren Mengen, da sie doch verkündeten, die "paar Euro mehr könne jeder leicht aufbringen". Diese "paar Euro" mehr summieren sich selbst für Leute, die nicht chronisch krank sind, pro Jahr schnell auf einige hundert Euro. Parallel dazu werden etliche Leistungen ganz gestrichen: Sterbegeld, Entbindungsgeld, Leistungen für Sterilisation, Brillen usw. usf.

Unseren nachtarbeitenden Volksvertretern ist ganz zufällig entgangen, dass das Reallohnniveau, dass der Lebensstandard der Mehrheit der Bevölkerung seit Jahren sinkt. Aber klar: wenn sowieso alles schlechter wird, kommt es auf die paar Euro auch nicht mehr an.

Immerhin: wenn man zufälligerweise Kapitalist ist, kann man sich an dieser Reform durchaus gesund stoßen. Die bisher wenigstens einigermaßen "paritätische" Finanzierung des Gesundheitswesens wird klar zu Ungunsten der Arbeit"nehmer"Innen verschoben. Für etliche Leistungen (Krankengeld, Zahnersatz) müssen sie künftig ganz allein aufkommen.

Freuen können sich auch die BürokratInnen der rund 350 Krankenkassen oder die Pharmakonzerne. Vor allem letztere können nach wie vor ungeniert abkassieren, sündhaft teure Werbekampagnen durchführen, überflüssige Parallelentwicklungen von Präparaten durchführen und überhöhte Preise verlangen. Gab es vor Monaten noch Überlegungen, diesen hochprofitablen Wildwuchs wenigstens etwas einzuschränken, so redet nun niemand mehr davon. Die Positivliste für Medikamente ist genauso vom Tisch wie jeder Versuch, ein unabhängiges Kontrollgremium in Sachen Gesundheitswesen zu schaffen.

In beiden Fragen fiel Frau Schmidt komplett um und gab dem Drängen ihres christsozialen Partners Seehofer nach. Nunmehr soll ein besonderes Gremium im Gesundheitswesen nach dem Rechten sehen und unnötige Kosten vermeiden. Es wird von Ärzteverbänden und KassenverteterInnen gestellt. Unabhängig ist es damit tatsächlich - von den Lohnabhängigen, von den PatientInnen, von der Mehrheit der im Gesundheitssystem Beschäftigten.

Bei dieser Art von Kontrolle, die nicht einmal die Oberfläche des letztlich auf Profit und Privilegien ausgerichteten "Gesundheits"sytems ankratzt, darf man sicher sein, dass schon in wenigen Monaten ein neuer Aufschrei ertönt, das System sei nicht finanzierbar, weitere Reformschritte seinen nötig, immer noch lebten wir über unsere Verhältnisse.

Ursachen

Tatsächlich: wir leben über die Verhältnisse - des kapitalistischen Systems. Diese Gesellschaft ist nicht nur historisch und global außerstande, das Gesundheitsniveau der Gesellschaft zu verbessern. Die Wiederkehr "alter" Volkskrankheiten wie Pocken oder Tuberkulose belegen das genauso wie die katastrofalen Gesundheitsverhältnisse, unter denen hunderte Millionen Menschen nicht nur in der "Dritten Welt" leben müssen.

Pharmakonzerne, Krankenhaus- und Pflegeunternehmen sind nicht daran interessiert, Krankheiten aus der Welt zu schaffen. Dann hätten sie ja schließlich keine Profimöglichkeiten mehr. Sie brauchen Krankheiten und Kranke, um an deren "Gesundung" zu verdienen. Insofern kommt im Kapitalismus auch der Behandlung von Krankheiten ein deutlich höherer Stellenwert zu als deren Vorbeugung.

Dazu kommt, dass der Kapitalismus, dass die mit ihm verbundene Lebensweise, auch krank macht. Das fängt mit den berüchtigten "Bildschirmkrankheiten" bei PC-ArbeiterInnen (Augenleiden, Rückenleiden) an und reicht bis zu psychischen Problemen aufgrund von Existenzangst, Vereinsamung, Perspektivlosigkeit.

Und wenn an der Behandlung solcher Leiden nicht genug verdient wird, dann hilft man etwas nach, indem man eine Kampagne startet, dass man sich doch die Lippen auf Traktorreifengröße aufspritzen oder den Busen auf Fesselballondimensionen vergrößern kann.

Diese Profitinteressen sind es letztlich auch, die verhindern, dass Medizinwissenschaft, Pharmaproduktion und die gesamte Organisation des Gesundheitswesens wirklich zweckentsprechend und rationell geregelt werden. Allein die riesige Zahl verschiedener Kassen, die teilweise aberwitzige bürokratische "Regelung" des Gesundheitssystems sprechen eine klare Sprache in punkto Rationalität.

Die tatsächlich vorhandene Krise des Gesundheitssystems resultiert einerseits natürlich auch aus dieser bürokratischen Organisation. Mehr noch ist sie aber der allgemeinen Krise des Kapitalismus geschuldet, welche die Finanzierung des "paritätischen Systems" unterhöhlt.

Sinkende Löhne, immer mehr Menschen, die z.B. aufgrund von Arbeitslosigkeit weniger oder keine Beiträge mehr bezahlen sind ein wichtiger Faktor. Gleichzeitig werden die Kapitalisten immer weiter von ihren "Arbeitgeberanteilen" entlastet und müssen relativ wie absolut immer weniger Steuern zahlen. So sollen die Krankenkassenbeiträge bis 2007 von derzeit 14,4 % auf 13 % sinken. Während jedoch aktuell Arbeit"geber"- und Arbeit"nehmer"anteil mit jeweils 7,2 % gleich sind, sollen gemäß den Reformplänen 2007 die Unternehmen nur noch 6 %, die Beschäftigten aber 6,9 % einzahlen.

Bei der Senkung der "Lohnnebenkosten" geht es in Wirklichkeit um die Senkung von, über das Sozialversicherungssystem umverteilten Lohnbestandteilen.

Das so auch das Gesundheitssystem ruiniert und privatisiert wird, hat nichts mit "überzogenem Anspruchsdenken" oder "Missbrauch" zu tun, sondern ist vom Kapital erwünschtes Resultat dieser Offensive. Schließlich ist für die Pharmaindustrie und andere im Gesundheitswesen tätige Kapitale nicht der Kranke, sondern ausschließlich der zahlungskräftige Patient von Interesse.

Die "Lösung" dieses Problems haben Schmidt und Seehofer bei ihrem nächtlichen Reform-tete a tete nun einen großen Schritt voran gebracht: diejenigen, die an der Misere nicht Schuld sind, sollen sie ausbaden; die Ursachen der Krise werden nicht beseitigt; die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen, die Abkassierer und Profiteuere nicht enteignet.

Nach Harz-Reform und Agenda 2010 ist nun mit der Gesundheitsreform, die schon im Januar 2004 in Kraft treten soll, ein weiterer rabiater Angriff auf die Lohnabhängigen und die große Mehrheit der Bevölkerung im Gange. Was an der Marktwirtschaft angeblich "sozial" war - es soll weg! Das Gebäude des Sozialstaats wird immer mehr zur Ruine. Und jene, die noch ein gewisser Garant dafür waren - die Gewerkschaften - müssen ebenfalls weg - verlautet es jedenfalls seit Monaten von den Herren Merz und Westerwelle aus einer größeren und einer etwas kleineren Volkspartei.

Widerstand

Angesichts der diversen Angriffe von Kapital und Regierung ist es um so erstaunlicher, dass die Kräfte, die wirklich etwas gegen dagegen tun könnten und müssten - allen voran die Gewerkschaften - geradezu tatenlos zusehen, wie historische Errungenschaften, die sich die Arbeiterklasse oft bitter erkämpft hat, geraubt werden oder ihr in den Rücken fallen, wenn sie - wie jüngst im Osten - für neue kämpft.

Rentenreform? Agenda? Hartz? Gesundheit? Keine Reaktion seitens der Gewerkschaftsführung. Sicher: Warnungen, Ankündigungen, Drohungen gab es genug. Doch realer Widerstand? Fehlanzeige. Außer einigen symbolischen und dazu noch isolierten Protesten, für die nicht ernsthaft mobilisiert wurde, unternahmen die Gewerkschaftsführungen nichts. Immer dann, wenn die Damen und Herren Reformisten auf den Vorstandssesseln von DGB, IG Metall, ver.di usw. am meisten gefragt sind, kommt von ihnen nur heiße Luft.

Was Wunder: gehorcht ihr politisches Denken doch derselben Logik wie jenes von Schröder oder Schmidt. Und eine sozialdemokratische Gewerkschaftskrähe kackt der anderen sozialdemokratischen Regierungskrähe kein Auge aus. Solange man selbst seine dicken Bezüge sicher hat und als Verhandlungspartner von Kapital und Regierung akzeptiert ist, hält man still.

Diese Gesellschaft ist krank und dass sie nicht geheilt wird, liegt wesentlich daran, dass die Arbeiterklasse an ihrer Führung krankt.

Wenn wir die Umsetzung solcher Schweinereien wie der Gesundheitsreform verhindern wollen, müssen wir dafür kämpfen, dass die Gewerkschaften verändert werden: dass sie kämpferische Interessenvertretungen ihrer Mitglieder und der ganzen Klasse werden!

Wenn wir etwas erreichen wollen, wenn wir die immer größer werdenden wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten auch im Gesundheitssystem für eine immer bessere Gesundheitsvorsorge nutzen wollen, dann müssen wir uns von der Illusion trennen, das sei im Kapitalismus grundsätzlich möglich.

Insofern bekommt der Satz von den "Reformisten als den Ärzten am Krankenbett des Kapitalismus" eine neue, beinahe dramatisch-konkrete Bedeutung.

So merkwürdig es klingen mag: um gesund leben zu können, bedarf es in erster Linie weder neuer Medikamente noch "kreativer Reformer", die versuchen, den Wahnsinn zu verbessern, sondern einer anderen, sozialistischen Gesellschaft. Erst dann wird es möglich sein, dass die Gesellschaft demokratisch und planmäßig darüber entscheidet, wie eine gesunde Lebensweise (zu der v.a. auch Lebensfreude gehört) zur "Normalität" wird, wie am effektivsten Gesundheitsvorsorge und -fürsorge geregelt werden kann.

Das ist ein großes Ziel, das es wert ist, sich schon heute dafür zu engagieren.

Was tun?

Der Kampf gegen die Gesundheitsreform ist ein Angriff auf die gesamte Arbeiterklasse und alle anderen nicht-ausbeutenden Schichten der Bevölkerung. Es ist ein politischer Angriff, der nur durch eine politische Gegenmobilisierung gestoppt werden kann.

Letztlich können wir der Generaloffensive von Kapital und Regierung aber nur begegnen, wenn wir zu Massenaktionen, wenn wir zu politischen Massenstreiks kommen. Denn es geht schon lange nicht mehr nur um eine Stunde mehr oder weniger Arbeitszeit, ein paar Lohnprozente mehr oder weniger oder ein Euro mehr oder weniger Medikamentenzuzahlung. Es geht um eine klare Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen. Es geht dem Kapital darum, der Arbeiterbewegung insgesamt eine entscheidende Niederlage beizubringen, um ihre Widerstandskraft zu brechen.

Daher muss die Gesundheitsreform zu einem zentralen Thema der von GewerkschafterInnen und Vertrauensleuten entberufenen Aktionskonferenzen werden, daher muss der Kampf degegen zu einem zentralen Bestandteil der Aktivität der Sozialforen, die in mehr und mehr Städten entstehen, werden.

In den Basisorganisationen der Gewerkschaften, in den Betrieben und Gesundheitseinrichtungen müssen Mitglieder bzw. Belegschaftsversammlungen organisiert werden, um Ziele und Methoden der Angriffe zu verstehen und Gegenmaßnahmen zu planen.

Die bewusstesten, die entschlossensten Beschäftigten und GewerkschafterInnen müssen sich in den Gewerkschaften zu einer kämpferischen Basisbewegung zusammenschließen, um Kämpfe zu initiieren, zu führen und eine Alternative zur inaktiven, ja verräterischen Gewerkschaftsführung aufzubauen.

Gleichzeitig müssen die Sozialforen für eine Bündnis mit der Arbeiterbewegung und die Orientierung auf die Kämpfe der arbeitenden Menschen gewonnen werden, um so den Kampf in den Betrieben mit der Schaffung von Aktionskomitees in den Kommunen zu verbinden.

Ein solches Aktionsbündnis aus anti-kapitalistischer Bewegung und Arbeiterbewegung kann die Gesundheitsform stoppen. Packen wir's an.

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