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Debatte zum Bombenkrieg

Leichen im Keller

Infomail 103, 30. Januar 2003

Das Geschichtsbild der Deutschen ist wieder einmal in Unordnung geraten. Nach der Debatte um Flucht und Vertreibung von Millionen Menschen aus den deutschen "Ostgebieten" 1944/45 oder die Schlacht von Stalingrad hat nun das Buch "Der Brand" des Historikers Jörg Friedrich den Bombenkrieg gegen Deutschland thematisiert.

Allein schon der Umstand, dass rund sechs Jahrzehnte (!) nach Kriegsende zentrale historische Probleme und Fragestellungen quasi als weiße Flecke der Geschichtsschreibung neu "entdeckt" werden, wirft die Frage auf, wie so viel Erklärungsbedarf entstehen konnte. Natürlich mangelte es nicht an zahlreichen Darstellungen über Faschismus und Zweiten Weltkrieg - historische, publizistische, belletristische. Doch das Interesse an einer Neudiskussion dieser Themen speist sich aus einem offensichtlichen Manko: der Oberflächlichkeit, der teilweisen Tabuisierung von Themen in der historischen Diskussion und der Vermittlung von Geschichte per Medien und Schulen. Dieses Dilemma hat freilich Gründe.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Kollektivschuldthese (alle Deutschen sind unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit an Faschismus und Krieg mitschuldig und müssten daher Sanktionen hinnehmen) zur herrschenden Ideologie, mit der der Klassencharakter des Faschismus und die Verantwortlichkeit der deutschen und internationalen Bourgeoisie am Aufstieg bzw. an den Verbrechen Hitlers vertuscht werden sollte. Die Kollektivschuldthese vertrug sich aber schlecht mit Darstellungen von Verbrechen und Leiden an der deutschen Bevölkerung. Die Deutschen hatten nur Täter zu sein und nicht auch Opfer.

Diese einseitige Ideologie resultierte neben den Klasseninteressen der deutschen Kapitalisten v. a. aus der Rücksichtnahme des besiegten Deutschlands auf die weißen Westen der westalliierten Siegerdemokratien und des "sozialistischen" Nimbus Stalins. Im Kalten Krieg betonte jede Seite einige Verbrechen der jeweils anderen. Deshalb gab es zum westalliierten Luftkrieg die besten und kritischsten Darstellungen von DDR-Historikern (z.B. Olaf Groehler). Deshalb wurden Verbrechen der Roten Armee Stalins nach Kriegsende eher im Westen dargestellt.

Freilich hatten die westdeutsche Bourgeoisie wie die DDR-Bürokratie wenig Interesse daran, zu tief in der Vergangenheit zu wühlen. Adenauers kapitalistische Restauration und die Integration von Nazi-Funktionären passten so wenig zu einer tabulosen Aufarbeitung der Vergangenheit wie die Zementierung der bürokratischen Herrschaft unter Ulbricht zur Aufdeckung der Fehler und Verbrechen des Stalinismus. Sowohl der westdeutsche Wiederaufbau als auch die "antifaschistisch-demokratische" Ordnung der DDR hatten ihre historischen Leichen in den Kellern der Ruinen, aus denen man "auferstand" und sich der Zukunft "zuwandte". Mit dem Wegräumen der Trümmer wurde auch gleich die Vergangenheit verdrängt.

Neben diesen historischen Gründen gibt aber wohl die Gegenwart die stärksten Impulse, sich erneut der Vergangenheit von Krieg und Faschismus, von Gewalt und Terror zuzuwenden. Die immer direktere Einbindung Deutschlands in kriegerischen Konflikten im Kosovo, in Afghanistan und der drohende Irak-Krieg; die Hysterie des Kampfes gegen den Terror haben Fragen nach historischer Verantwortung und Schuld, nach der Legitimität von Gewaltanwendung usw. aus rein akademisch-historischen zu aktuell-existentiellen Problemen gemacht.

Seit der deutschen Wiedervereinigung 1990 drängt die deutsche Bourgeoisie vehement auch politisch und militärisch nach Weltgeltung, die sie bisher nur ökonomisch hatte. Dieses neue deutsche "Selbstbewusstsein" der "Berliner Republik" ist jedoch nicht gut kompatibel mit Rücksichtnahmen auf ehemalige Siegermächte. Es verträgt sich ebenso wenig mit einer "historischen Schuld der Deutschen" die a priori bei jedem Schritt deutscher Politik "mitgedacht" wird.

Was der deutsche Imperialismus braucht, ist kein geschichtliches Sentiment, sondern Selbstbewusstsein als psychologische Grundlage kriegstauglicher und kriegsbereiter junger Deutscher. Die stärkere Betonung der Deutschen als Opfer anderer Mächte passt dazu schon eher. Allerdings wird auch hier die Wahrheit oft genug so lange zu recht gebogen, bis sie die Klassenfrage nicht mehr berührt.

So wenig "die Deutschen" an den Verbrechen Hitlers Schuld waren, sondern die Bourgeoisie und ihre faschistischen Büttel, so wenig waren "die Deutschen" Opfer. Wie in jedem Krieg waren die Massen, war das Proletariat, waren antifaschistische Widerständler, waren unterdrückte Nationalitäten wie Juden, Roma, ... Opfer von faschistischer Gewalt - und oft genug auch der Politik und des Terror der Alliierten Sieger.

Friedrichs zentrale These ist, dass der Bombenkrieg ein Kriegsverbrechen war, das von vornherein der Terrorisierung und massenhaften Vernichtung der deutschen Zivilbevölkerung diente und sich durchaus nicht von den Methoden der faschistischen deutschen Luftwaffe unterschied.

So stellt er z.B. dar, dass die Idee, in gegnerischen Städten bewusst Massenbrände zu entfachen, in deren Feuerinferno Menschen einfach abfackeln, wegschmelzen, verglühen, schon von Göhring geplant war. Der Unterschied zwischen Göhring und seinem britischen Pendant "Bomber" Harris war nur, dass dieser auch die technischen Mittel hatte, um die Massenvernichtung wirklich durchführen zu können.

Friedrich legt überzeugend dar, dass die alliierten Bombardements keineswegs nur das Ziel hatten, die deutsche Wirtschaft lahm zu legen. So wurde z.B. die deutsche Treibstoffwirtschaft - eine Achillesferse der deutschen Rüstung - erst 1944 massiv bombardiert. Auch die Bombardements auf Städte zeigen, dass nicht Industriegebiete, sondern die dicht besiedelten und oft industriefreien Zentren Ziel der Angriffe waren.

Getreu reaktionären Luftkriegsstrategien wie z.B. eines Drouets, sollte der Luftterror nicht nur dazu führen, die gegnerische Ökonomie zu schädigen, sondern die Bevölkerung des Gegners dazu zu bringen, die eigene Regierung zu stürzen, um sie an der Weiterführung des Krieges zu hindern.

Doch die ausgebombten deutschen Städter dachten nicht an Umsturz, sondern an das simple physische Überleben. In typisch bürgerlicher Manier stellten sich die imperialistischen Strategen eine Bewegung der Massen nur als Resultat von Terror und des Wirkens von "außen" vor.

Obzwar Friedrich überzeugend und eindrucksvoll die menschenverachtende Vernichtungsmaschine des alliierten Luftkriegs beschreibt, bleibt er doch eine grundsätzliche, die Frage der dahinter liegenden gesellschaftlichen- und Klassenverhältnisse erhellende, Bewertung schuldig.

Der oft gestellten - und natürlich in Britannien für heftige Wellen sorgenden - Frage, ob denn angesichts der Schrecknisse des Bombenkriegs gegen die Zivilbevölkerung Persönlichkeiten wie Churchill nun Kriegsverbrecher seien, weicht Friedrich aus. Natürlich war Churchill nicht einfach ein Kriegsverbrecher: er war ein großer Kriegsverbrecher!

Schon Napoleon - wenn man will, der erste große Militärpolitiker und -praktiker der bürgerlichen Gesellschaft betonte, worauf es im modernen Krieg ankommt: massenhafter Einsatz von Mitteln zur massenhaften Vernichtung des Gegners zwecks Durchsetzung der (welt)wirtschaftlichen Interessen der eigenen Bourgeoisie. Damals betraf es die englische Bourgeoisie, die er mit der Kontinentalsperre niederringen wollte.

Im Zeitalter des Imperialismus ist ein Krieg - der Zweite Weltkrieg ist dafür ein schlagendes Beispiel - auf Massenvernichtung aller Ressourcen des Gegners gerichtet. Im Unterschied zu Kriegen der vorbürgerlichen Zeit sind Kriege, die von imperialistischen Staaten geführt werden, nicht nur Kriege, die der Eroberung fremder "Schätze" gelten, sondern sie sind auch und vor allem Ausdruck der Krise der kapitalistischen Ökonomie eines Staates, zu deren Lösung neue Märkte und Kolonien mittels Gewalt "erschlossen" und die Konkurrenten verdrängt werden müssen.

So war die Kriegführung der imperialistischen "demokratischen" Staaten gegen Deutschland im Wesen Krieg gegen einen Weltmarktkonkurrenten, nachdem man zuerst Hitlers Aufrüstung geduldet und gefördert hatte - in der Hoffnung, dass sich dieser sofort gegen die Sowjetunion wenden würde.

So war es gewiss kein Zufall, dass die deutschen Mineralölwerke lange ungeschoren blieben - in ihnen war sehr viel amerikanisches Kapital angelegt. Und es war auch kein Zufall, das gegen Kriegsende vor allem Städte im Osten bombardiert worden sind - konnte man doch den Sowjets Stärke demonstrieren und die Gebiete, die wahrscheinlich an Stalin fallen würden, außerdem noch per Zerbombung "deindustralisieren". Es war auch alles andere als Zufall, dass die Bahnstrecken, auf denen Millionen Juden in die Vernichtung transportiert wurden, nicht bombardiert worden sind.

Nein, Menschlichkeit vom Imperialismus zu erwarten, hieße wahrlich, den Teufel zum Paradiesgärtner zu machen.
Wie auch zu anderen Fragen deutscher Geschichte gibt es kaum eine Einseitigkeit, eine Beschönigung, eine Fehleinschätzung, die nicht auch in der Linken anzutreffen wäre.

So hängen z. B. die Antideutschen auf ihre Art immer noch der Kollektivschuldthese an. Nicht die deutsche Kapitalistenklasse, nicht der deutsche Imperialismus wird gefährlich und reaktionär denunziert, sondern "die Deutschen". Kein Wunder, wenn in Teilen der Linken anlässlich der Zerstörung Dresdens geradezu genüsslich skandiert wurde "Bomber Harris do it again!".

Es sind nicht zufällig dieselben Linken, die sich heute weigern, den Irak gegen den imperialistischen Angriff durch Bush zu verteidigen, weil sie der irrigen Annahme sind, wer den Irak unterstütze, der mache sich des Antisemitismus schuldig.

Die Geschichte hält Lehren bereit, doch sie liefert den Lehrmeister nicht mit. So wünscht man gewissen Teilen der Linken als Denkanstoß nicht gerade Bomben, aber doch vielleicht anderweitig heftigen Denkanstoß.

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