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Türkei

Das Regime will Bürgerkrieg

Svenja Spunck, Infomail 840, 11. September 2015

In den letzten Tagen spitzte sich die Situation in der Türkei drastisch zu. Im ganzen Land wurden Parteizentralen der HDP angegriffen, einige Häuser wurden sogar in Brand gesetzt. Gleichzeitig bilden sich faschistische und nationalistische Mobs, die durch die Straßen laufen, pogromartig kurdische Geschäfte zerstören und Menschen kurdischer Herkunft angreifen. In nur zwei Tagen wurden 400 HDP-Büros angegriffen. In Istanbul wurde ein junger Mann sogar erstochen, weil er an einer Bushaltestelle auf kurdisch telefonierte.

Der Konflikt zwischen den KurdInnen und türkischen NationalistInnen existiert zwar schon seit der Gründung der Türkischen Republik, doch wurde er in den letzten Jahren v.a. durch viele Zugeständnisse der Kurdischen Arbeiterpartei PKK und ihrer politisch legalen Kraft, der BDP, „friedlicher“. Doch nun müssen Menschen wieder Angst haben, wenn sie kurdisch sprechen oder den türkischen Staat in seiner Übermächtigkeit kritisieren. Die Fronten verhärten sich, wie auch auf den Straßen erkennbar ist. Deutlich zeigen auch die Anhänger des Regimes, Nationalisten und noch Rechtere ihre Unterstützung, wenn sie am Geschäft oder am Motorrad die rote Halbmondfahne anbringen oder sogar für drei Tage den Laden schließen, um der toten Soldaten zu gedenken.

Seit dem Attentat von Suruc kommt es zu Massakern an der kurdischen Bevölkerung im Osten des Landes, die Stadt Cizre ist komplett vom Militär belagert, die Bevölkerung hat Ausgangssperre. Gleichzeitig greift das Militär diejenigen an, die sich oder ihre Familien verteidigen wollen. Allein in der Nacht vom 10. zum 11. September gab es 20 Tote, darunter auch Kinder. Unvorstellbar ist die Vorstellung, dass Mütter ihre ermordeten Kinder im Kühlschrank verstauen müssen, weil sie sie nicht beerdigen dürfen.

Nun machte sich vor einigen Tagen eine Delegation von HDP-Abgeordneten nach Cizre auf den Weg, ihre Busse wurden von der Polizei gestoppt, so dass sie zu Fuß weiter mussten. Unter ihnen befanden sich auch die Vorsitzenden Figen Yüksekdag und Selahattin Demirtas sowie Ertugrul Kürkcü, einer der Aktivisten der 68er Bewegung, der schon damals nur knapp dem Tod entkommen war. Auf dem Weg über die Landstraße und sogar durch den Fluss Tigris wurde die Kolonne mehrmals von der Polizei angegriffen, eine der HDP-Abgeordneten befindet sich seit heute im Hungerstreik.

Kürkcü erklärte, dass Regime und Armee die Verweigerung des Zugangs der Delegation nach Cizre damit rechtfertigten, dass dies nur „eine weitere Provokationen“ sei und auch Aufmerksamkeit verursachen würde. Aufmerksam ist jedoch bereits die gesamte Türkei, wenn eine komplette Stadt seit einer Woche von der Außenwelt abgeschnitten ist und ihre BewohnerInnen weder eine funktionierende Strom- noch Wasserversorgung haben.

Erdogan und seine AKP nutzen die Konflikte gegen die KurdInnen und in den kurdischen Gebieten außerhalb der Türkei bewusst, um die HDP zu delegitimieren, sie im Idealfall sogar zu illegalisieren und sich selbst als „stabilisierenden Faktor“ zu präsentieren. 400 Überfälle auf Büros der HDP (und auch Angriffe auf Zeitungsredaktionen) sind nicht möglich, ohne dass der Staat zumindest „wegschaut“, zumal wenn sie mit anti-kurdischen Aufmärschen von Regierungsanhängern, Nationalisten und Faschisten einhergehen.

Eine „Politik der Spannung“ soll Erdogan helfen, seine bei den letzten Wahlen gescheiterte Präsidialverfassung erneut durchzupeitschen, sei es über eine Mehrheit der AKP, sei es über einen Ausnahmezustand oder ähnliches. Es ist jedenfalls eindeutig, dass die diktatorischen, bonapartistischen Züge des Regimes immer deutlicher hervortreten - und der Krieg gegen das kurdische Volk ist ein Mittel, diese Entwicklung zu legitimieren.

Die Strategie der HDP

Demirtas wirft der AKP und dem Staat zurecht Kriegstreiberei und eben jene bewusste Ausnutzung der Situation vor, doch bleibt es bei mahnenden und moralistischen Worten. Die Führung der HPD hofft, mit ihren offiziellen Stellungnahmen zur „Deeskalation“ beizutragen und sich als „Friedenspartei“ zu halten und schwankt so zwischen Opposition und Opportunismus. Mit der Verkündung von Neuwahlen wurde eine Übergangsregierung gebildet, die aus AKP, einem (von seiner Partei deswegen ausgeschlossenen) MHP-Mitglied und zwei HDP-Abgeordneten (!) besteht.

Während Demirtas unter den KurdInnen die PKK-Guerilla verteidigt, ruft er im Parlament zur Niederlegung der Waffen auf. Die zeigt das ganze Dilemma nicht nur der Politik der HPD, sondern letztlich auch der PKK, die beide eigentlich den „Friedensprozess“ wieder beleben wollen, den Erdogan längst aufgekündigt hat. Das AKP-Regime will nicht Verhandlung, sondern Kapitulation.

Solange der Kampf auf den Krieg mit der Guerilla und auf die Städte im Osten beschränkt bleibt, kann ihn Erdogan zur Aufheizung der Stimmung nutzen.

Was jedoch dringlichst gebraucht wird, sind zum einen Selbstverteidigungsstrukturen, nicht nur für die HDP-Büros, sondern auch für den WählerInnen und Mitglieder, die auf offener Straße attackiert werden. Zum anderen muss gerade jetzt die Debatte um die Perspektive des kurdischen Befreiungskampfes vorangetrieben werden. Es gibt kein normales Gespräch, das  nicht nach fünf Minuten zur politischen Debatte wird. Jede(r) ist betroffen, alle sprechen vom Krieg und vom sehnlichen Wunsch nach Frieden und Menschlichkeit.

Doch diese kann nicht erbeten oder durch moralische Überlegenheit erreicht werden. In diesem Fall muss man klar Stellung beziehen - für die Unterdrückten, die ihrer politischen Stimme beraubt werden sollen. Der Selbstverteidigungskampf der KurdInnen ist legitim und auch die HDP sollte sich klar dazu äußern, statt um jeden Preis zu versuchen, bis zu den nächsten Wahlen ihr Mantra des unbewaffneten Widerstands zu wiederholen oder sich der bürgerlichen Demokratie unterzuordnen, während ihre Basis sich durchaus über den Weg zum Sozialismus unterhält.

Eine solche Position ist keineswegs mit einer Rückkehr zur Guerilla-Strategie gleichzusetzen. Der aktuelle Krieg gegen das kurdische Volk kann letztlich nur gestoppt werden, wenn Erdogan in der ganzen Türkei auf Widerstand trifft, wenn die städtische ArbeiterInnenklasse und alle unterdrückten Schichten mobilisiert werden, mit Massendemonstrationen auf die Straße gehen, wenn die Gewerkschaften für Solidarität mit dem kurdischen Volk eintreten, wenn politische Streiks organisiert werden, wenn gegenüber den türkischen Soldaten agitiert wird, sich nicht als Kanonenfutter Erdogans missbrauchen zu lassen. Nur wenn die türkischen ArbeiterInnen ihre Gefolgschaft oder jedenfalls passive Hinnahme der AKP-Politik und des türkischen Nationalismus aufkündigen und den kurdischen Massen beistehen, werden sie auch in der Lage sich, sich gegen das Joch der Ausbeutung und Unterdrückung Erdogans zu erheben.

Eine ausführlichere Analyse: Erdogans reaktionäre Ambitionen

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