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Berliner Charité

Kämpfen oder Kuschen?

Elise Hufnagel, Infomail 697, 31. Juli 2013

Am 25. Juli 2013 fand das zweite Treffen des Bündnisses „Berlinerinnen und Berliner für mehr Personal im Krankenhaus“ statt, das von der ver.di-Betriebsgruppe an der Berliner Charité initiiert wurde.

Thema des Treffens war u.a. die Forderung nach einer vertraglichen Regelung der  Mindestbesetzung von Stellen im medizinischen Bereich. Daneben ging es auch um den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz und die Ausbildungsqualität. Konkret heißt das für den Dienst im Krankenhaus, dass eine 1:2-Versorgung auf Intensivstationen und von 1:5 auf Normalstationen gewährleistet sein sollen (d.h. eine Pflegekraft versorgt 2 bzw. 5 PatientInnen) und es keine Einzel-Nachtdienste mehr gibt. Die Angestellten wollen diese Forderung tariflich fixieren lassen, bevor es zu einer gesetzlich festgelegten Personalbemessung kommt.

Fatale Versorgungslage

Die Versorgungslage im Gesundheitswesen ist allgemein fatal. Lt. Berichten hat eine Pflegekraft auf einer „Normalstation“ bis zu 15 PatientInnen zu versorgen, im Nachtdienst sind es oft bis zu 38.

Es wurde von „gefährlicher Pflege“ und „blutigen Entlassungen“ berichtet. Das bedeutet, dass PatientInnen zu früh von der Intensiv- auf die Normalstation und von dort auch nach Hause entlassen werden.

An der Charité fehlen z.B. 300 Pflegekräfte, die Angestellten haben eine hohe Überstundenzahl, es gibt zahlreiche Leiharbeitskräfte und es ist „selbstverständlich“, dass Mitarbeiter aus ihrer Freizeit geholt werden. Wenn sie dies verweigern würden, wäre der Betrieb schon längst nicht mehr aufrecht zu erhalten.

Mit einem Flugblatt und Unterschriftenaktionen haben die Beschäftigten nun begonnen, auf ihre prekäre Situation aufmerksam zu machen. Die ver.di-Gruppen an den Uni-Kliniken Gießen und Marburg haben angekündigt, ebenfalls über einen Tarifvertrag zu Mindeststandards und Gesundheitsschutz verhandeln zu wollen.

„Die aktuelle Auseinandersetzung an der Charité ist Teil von bundesweiten ver.di-Aktivitäten, um die Personalbemessung an allen Krankenhäusern durchzusetzen. Diese Tarifbewegung soll auch anderen Beschäftigten im Gesundheitswesen Mut machen, für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen“, meinte Dana Lützkendorf von der ver.di-Betriebsgruppe an der Charité.

Während zum ersten Bündnistreffen am 11. Juli noch über 100 Beschäftigte, GewerkschafterInnen, organisierte Linke und interessierte BürgerInnen gekommen waren, trafen sich zum zweiten Termin nur noch 30-40, vorrangig PflegerInnen, MedizinstudentInnen und Auszubildende der Charité. Bereits vor dem zweiten Treffen wurde - ohne Begründung - mitgeteilt, dass eine für den 29. Juli geplante Aktion auf dem Charité-Campus Mitte abgesagt wird. Das war sicher auch der Anlass, weshalb das Interesse vieler Menschen nachließ.

Es wurde mitgeteilt, dass der Arbeit“geber“ nach einem Jahr (!) immerhin zu Verhandlungen über eine Mindestbesetzung bereit sei und es schon drei Termine gebe. Allerdings würde es „dem Klima schaden“, wenn während der laufenden Verhandlungen vor der eigenen Haustür Protestaktionen liefen. Von der anwesenden Belegschaft wurde kein Einspruch gegen diese Entscheidung der ver.di-Betriebsgruppe erhoben. Auf Nachfrage einer unserer GenossInnen wurde auch keine Begründung dafür geliefert, warum die „mutmachende Tarifbewegung“ plötzlich nicht mehr die Geschäftsführung mit Öffentlichkeitsarbeit auf dem eigenen Terrain belästigen solle.

Die vier Arbeitsgruppen des Bündnisses (Bürgerinformation, Auszubildende und StudentInnen, Verknüpfung mit anderen medizinischen Einrichtungen in Berlin und Brandenburg, Kontakt zu politischen Parteien) haben inzwischen begonnen zu arbeiten. U.a. geht es um Aktionen wie flashmobs und e-Mail-Aufrufe an medizinische und pflegerische Einrichtungen in Berlin und Brandenburg. Der Kontakt zu PolitikerInnen soll sich auf die LINKE beschränken. Der vom ersten Bündnistreffen beschlossene Streik wurde „als Option“ - nach den Verhandlungen - eingeräumt.

Der Beschluss der ver.di-Gruppe der Charité, den Streik u.a. Aktionen auszusetzen, solange die Verhandlungen laufen, widerspricht also nicht nur dem Beschluss und der Intention des Bündnisses. Er verhindert auch, dass Druck auf die Verhandlungen ausgeübt wird und die Vorbereitung eines eventuellen späteren Streiks rechtzeitig beginnen kann. Bezeichnend ist dabei auch die Rolle des ver.di-Vorsitzenden der Charite Carsten Becker. Als Unterstützer der SAV vertritt er erneut eine Politik, die wohl kaum „radikal“ oder „revolutionär“ genannt werden kann. Die offenbar auch von ihm  vertretene „Abwarte-Haltung“ wäre selbst für kämpferische ReformistInnen unakzeptabel - sie ist nichts anderes als ein Kniefall vor der Charité-Geschäftsführung und dem ver.di-Apparat.

Lehren

So könnte es erneut - wenn überhaupt - zu einem Arbeitskampf wie 2006 kommen, als die Tarifverhandlungen des Pflegepersonals der Charité am Ende nur eine sehr magere Lohnerhöhung von 4,4% (mit Abzügen bei Weihnachts- und Urlaubsgeld) brachten. Die Streiks an der Charité fanden damals versetzt statt, mit dem Ergebnis, dass höchstens 10% der Beschäftigten die Arbeit wirklich niederlegten und nur die Belastung für die anderen MitarbeiterInnen entsprechend höher wurde.

Die Taktik von Becker und Co. weist nun genau wieder in dieselbe fatale Richtung.

Die Ursachen für die Schieflage an der Charité sind keine Ausnahme, sondern die Regel. Gerade deshalb ist es dringend nötig, dass landesweit mit größeren Aktionen auf den Notstand im Gesundheitswesen aufmerksam gemacht wird und Politik und Gewerkschaften in die Pflicht genommen werden zu handeln.

Die vielen Berichte von Fehlbehandlungen durch Überforderung des Personals sind in der Öffentlichkeit längst bekannt, nun gilt es, den Übergang von betroffenem Kopfschütteln zu Solidarisierung und wirksamen Aktionen endlich konsequent zu gehen. Das Pflegepersonal aller Einrichtungen muss sich von der verstaubten Vorstellung des „dienenden Berufsstandes“ verabschieden und die häufig anzutreffende Loyalität mit dem Arbeit“geber“ beenden.

Der Berufsstand der „PflegerInnen“ hat leider die Fähigkeit perfektioniert, im Ausgleich zur deprimierenden Arbeitssituation die Leistung noch zu erhöhen, damit der zu Betreuende nach Möglichkeit nichts von den Defiziten mitbekommt. Dabei liegt gerade da das Potential für Solidarität durch die Bevölkerung - schließlich kann jede(r) einmal zum/zur PatientIn werden.

Die Öffentlichkeit muss umfassend über die Missstände informiert werden. Groß angelegte Protestaktionen aller an der Pflege Beteiligten sind in allen Städten notwendig - ohne Rücksicht auf laufende Verhandlungen. Der Druck von der Straße muss deutlich zu spüren sein, damit die Forderungen 1:1 umgesetzt und nicht wieder nur Löcher gestopft werden.

Streiks müssen in großem Rahmen mit minimaler Notversorgung durchgeführt werden, denn die frühere Taktik war offensichtlich ineffektiv. Das Argument „Das kann man den Patienten nicht antun“, ist schon längst fadenscheinig, denn es wird ihnen heute schon genug zugemutet.

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