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Tunesien

Eine zweite Revolution?

Ilona Szernethy, Infomail 671, 11. März 2013

Anfang Februar 2013 begann in Tunesien eine Welle heftiger Proteste. Ausgelöst wurde sie durch die Ermordung des Oppositionellen Belaid.

Belaid, Jurist und Generalsekretär der sich marxistisch-panarabisch nennenden „Bewegung der Demokratischen Patrioten“ (MOUPAD) und deren Volksfront-Bündnis wurde am 6. Februar vor seinem Haus erschossen. Kurz nach Bekanntwerden des Attentats versammelten sich spontan wütende Massen vor dem Innenministerium, in mehreren Städten gab es Demonstrationen, in manchen wurden die Büroräume der islamistischen Ennahda-Partei verwüstet, in Tunis wurde sogar ein Ennahda-Bürogebäude in Brand gesetzt.

Belaid war Anwalt und kommt aus der Arbeiterbewegung. Er lebte bis zu seiner Ermordung in einem proletarischen Stadtteil. Unter Ben Ali war er als mutiger Verteidiger von GewerkschafterInnen bekannt, insbesondere der Bergarbeiter aus der Region Gafsa. Nach dem Sturz des Diktators war er ein scharfer Kritiker der regierenden „Troika“, in der, abgesehen von Ennahda, die mit 41,47% der Stimmen führt, auch noch die sozialdemokratische „Ettakatol“ und - bis vor kurzem - der liberale „Kongress für die Republik“ (CPR) sitzen.

Die gewählte Verfassunggebende Versammlung wurde im Oktober 2011 durch die ersten freien Wahlen seit Ben Ali beauftragt, innerhalb eines Jahres eine Verfassung zu erstellen und Parlamentswahlen zu organisieren. Diese Aufgabe steht jedoch noch immer aus.

Warum sich die Proteste so gezielt gegen die Ennahda richten, wird klar, wenn man sich die Entwicklungen der letzten Monate ansieht. Es kam verstärkt zu Übergriffen auf Veranstaltungen und Lokale der Opposition und der Gewerkschaften, zivilgesellschaftliche Gruppierungen und Frauenorganisationen. Diese sind der „Liga zum Schutz der Revolution“ zuzuschreiben, ein  ironischer Name für die der Ennahda nahestehenden gewalttätigen Milizen, die fortschrittliche und oppositionelle Kräfte angreifen. Weitere Terroraktionen kamen von den tunesischen Salafisten, die sogar Theater und Ausstellungen überfielen sowie Synagogen.

Ennahda weist natürlich die Verantwortung entschieden von sich. Der ehemalige Ministerpräsident Hamadi Jebali, als „gemäßigt“ bekannt, verurteilte mit scharfen Tönen den „Terrorakt gegen ganz Tunesien“. Er und seine Regierungspartei warnen vor der „Kriminalitätsfalle“ und vor Chaos und Unruhen im Land. Der Grund dafür ist ihre Angst - könnte sie die erneute Protestwelle doch um ihre Macht bringen.

Generalstreik

Doch die TunesierInnen lassen sich nicht beirren. Sie schreiben „Dégage“ („Hau ab!“) auf ihre Banner - wie schon vor zwei Jahren, als sie Diktator Ben Ali vertrieben. Jetzt richtet sich diese Losung gegen die Ennahda - sie fordern den Rücktritt der Troika. Ennahda-Chef Ghannouchi antwortete auf den Vergleich der aktuellen Situation mit der Revolution 2011, dass Belaid nicht Bouazizi ist und er selbst nicht Ben Ali. Doch die Ähnlichkeiten lassen sich nicht leugnen.

Schon 2012 gab es immer wieder Proteste gegen die mittlerweile sehr unbeliebte gemäßigt-islamistische Regierungspartei Ennahda, die sich gern mit der türkischen AKP vergleicht.

Für den 8. Februar 2013 riefen die Oppositionsparteien und die größte Gewerkschaft zu einem Generalstreik auf - am selben Tag wurde Belaid beigesetzt, es gingen insgesamt 1,4 Millionen Menschen auf die Straße - bei 11 Millionen EinwohnerInnen! Es sollte ein „friedlicher Streik gegen Gewalt“ sein, so die Gewerkschaft. Dennoch marschierte in Tunis die Armee auf, aus Angst vor Ausschreitungen. Die DemonstrantInnen riefen „Das Volk will eine neue Revolution“. Sie machten klar, dass sie den Kampf Belaids fortsetzen werden. Als Antwort darauf organisierte auch die Ennahda eine Demonstration, die aber nur ein lächerlicher Versuch von Machtdemonstration wurde, denn sie brachte gerade einmal 15.000 auf die Straße.

Die Ennahda hat viele Rückschläge hinnehmen müssen - angefangen beim Rücktritt ihres Ministerpräsidenten Jebali, der die von ihm geforderte Expertenregierung nicht durchsetzen konnte und daraufhin zurücktrat. Vor allem aber verlor sie das Vertrauen und die Beliebtheit in weiten Teilen der Bevölkerung. Die Verfassunggebende Versammlung steckt in einer Krise, viele Mandatare sind zurückgetreten, sogar der CPR hat die Troika verlassen, die Opposition hat das vorläufige Einstellen der Mitarbeit angekündigt. Es bleibt fast nur die Ennahda, die aber krampfhaft an ihrer Macht festhält.

Das Land, in dem sich der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi im Januar 2011 selbst in Brand gesteckte und damit den Arabischen Frühling ausgelöst hatte, erlebt eine erneute Protestbewegung. Die tunesische Bevölkerung hatte sich nach der Revolution ein besseres Leben erhofft, doch ihre ökonomische und politische Lage hat sich kaum geändert. Noch immer herrscht massive Arbeitslosigkeit, die Polizei prügelt immer noch, die Lebensmittelpreise steigen, genau wie die Inflationsrate, die Regierung antwortet auf Protest mit Repression - so wurden viele Demonstrationen verboten oder niedergeschlagen.

Die alten Diener des Imperialismus wurden durch die Revolutionen im arabischen Raum gestürzt, doch inzwischen durch neue reaktionäre Marionetten des Kapitals ersetzt. Keine der regierenden Parteien will wirklich an den dringenden Problemen der armen Bevölkerung etwas ändern. Im Gegenteil, besonders die Ennahda in Tunesien fährt einen absolut neoliberalen Kurs, den sie nicht einmal, wie andere reaktionär-religiöse Parteien als „anti-imperialistisch“ zu tarnen versucht. Sie verkauft die tunesische Wirtschaft ganz offen an ausländische Investoren.

Doch die tunesische Arbeiterklasse und die Jugend haben aber das Kämpfen nicht verlernt. Im letzten Jahr hatten sie in ganz Tunesien zahlreichen Streiks, Aufstände und Demonstrationen organisiert, um ihre Rechte einzufordern. Einer der größten Proteste, welcher aber von den westlichen Medien weitgehend ignoriert wurde, war ein 5-tägiger Generalstreik der besonders  ausgebeuteten ArbeiterInnen in Siliana im Dezember 2011/Januar 2012, die u.a. bessere Löhne und reguläre Arbeitsverträge verlangten. Dieser Protest wurde brutal niedergeschlagen. Die Gewerkschaft, welche die Proteste geführt hatte, hatte sich aber schlussendlich mit der Regierung geeinigt, weitere Protestmaßnahmen desorganisiert und damit den berechtigten Aufstand der kämpfenden ArbeiterInnen verraten.

Eine halbe Revolution?

Doch wie die aktuelle Entwicklung zeigt, kommt Tunesien nicht zur Ruhe, weil die ökonomische Lage Tunesiens sich weiter verschlechtert und das tunesische Proletariat zugleich Mut beweist, um ein freies und würdiges Leben zu kämpfen.

Die revolutionäre Welle, die 2011 begann, hat den TunesierInnen zwar formale politische Freiheiten und Rechte gebracht, aber die grundlegenden politischen und sozialen Probleme, die zur  Revolution führten, sind geblieben. Mehr noch: selbst die formalen Freiheiten werden jetzt von reaktionären Islamisten und neoliberalen Kräften bedroht. Eine zweite Revolution ist notwendig! Die arbeitenden Massen und Jugend müssen sich gegen die Regierung und zugleich gegen das kapitalistische System erheben.

Wie bei den anderen Revolutionen des Arabischen Frühlings sind auch in Tunesien die  demokratischen und sozialen Aufgaben noch weitestgehend ungelöst:

Auflösung und Zerschlagung der brutalen Polizei- u.a. Repressionskräfte, die noch vom alten Regime stammen und vom neuen übernommen wurden, und ihre Ersetzung durch Milizen der ArbeiterInnen und armen Massen! Zerschlagung der halb-faschistischen islamistischen Banden!

Enteignung der reichen parasitären Nutznießer des alten und neuen Regimes, Übertragung des Landes an jene, die es bebauen, Verstaatlichung der Unternehmen unter Arbeiterkontrolle!

Freilassung aller politischen Gefangenen! Festnahme der Mörder Belaids u.a. AktivistInnen, der korrupten Richter und der Folterknechte in den Gefängnissen sowie ihrer Hintermänner! Sie müssen vor von den Massen gewählte Tribunale gestellt und von diesen abgeurteilt werden!

Die tunesischen Massen müssen sich an das bekannte Diktum des französischen Jakobiners Saint Just erinnern, nachdem sich eine Revolution, die auf halbem Weg stehen bleibt, ihr eigenes Grab schaufelt.

Heute droht die tunesische Revolution tatsächlich auf halbem Weg stecken zu bleiben und in einer ganzen Konterrevolution zu enden. Die Massendemonstration und der Generalstreik nach der Ermordung Belaids zeigen aber auch, dass die Massen spontan darauf drängen, die Revolution weiter zu treiben und zu vollenden.

Aber um das zu tun, ist es notwendig, die Mobilisierung voranzutreiben. Die Arbeiterklasse und die Gewerkschaften müssen einen Generalstreik organisieren, um die Regierung zu stürzen und die Einrichtung einer „Übergangsregierung“, die von den Parteien der „Troika“ ernannt wird, zu verhindern und die „Konstituierende Versammlung“, die nicht vom Fleck kommt, aufzulösen.

Zweifellos setzen auch heute noch viele TunesierInnen ihre Hoffnungen in eine „echte“, bürgerlich-demokratische Verfassunggebende Versammlung. Doch wenn diese von den herrschenden Parteien kontrolliert wird, kann sie entweder zu einer kompletten Farce oder zu einem Machtmittel werden, das - wie in Ägypten - nur eine neue autoritäre Herrschaftsform legitimiert.

Arbeiter- und Bauernregierung

Daher ist es notwendig, dass die Einberufung und Wahl einer solchen Versammlung unter der Kontrolle der ArbeiterInnen und Jugendlichen, der revolutionären Massen, organisiert in räte-ähnlichen Komitees in den Betrieben und Stadtteilen stattfindet. Dabei muss die Arbeiterklasse  immer für ihr eigenes Programm kämpfen: für die Errichtung einer Arbeiter- und Bauernregierung, deren Hauptaufgabe es sein muss, zunächst die unmittelbaren Bedürfnisse der Massen zu befriedigen - durch ein Programm öffentlicher Arbeit, durch die Einführung von Mindestlöhnen und -einkommen durch die Besteuerung der Reichen und die Enteignung der Großgrundbesitzer, der tunesischen, europäischen, US-amerikanischen und sonstigen KapitalistInnen und die Umsetzung eines Notplans zur Reorganisation der Wirtschaft unter Arbeiterkontrolle.

Eine solche Arbeiter- und Bauernregierung wird sich natürlich nur halten können, wenn sie den repressiven Staatsapparat, der aus der Diktatur stammt, zerschlägt und durch Arbeiter- und Soldatenräte und durch eine Arbeitermiliz ersetzt. Kurzum: nur eine sozialistische Revolution wird in der Lage sein, sowohl die demokratischen Forderungen der Massen wie ihre sozialen Interessen zu sichern und zu erfüllen.

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