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Nukleare Katastrophe droht in Japan

Rauch über Fukushima 1

Markus Lehner, Infomail 542, 13. März 2011

Der 11. März wurde zu einer nationalen Tragödie in Japan. Das Land wurde von einem riesigen Tsunami getroffen. Ganze Landstriche sind verwüstet, die geschätzte Zahl der Toten steigt stündlich. Mittlerweile sollen weit über tausend Menschen gestorben sein. Zehntausende werden vermisst, Hunderttausende sind obdachlos. Ein neuerliches Beben ist nicht auszuschließen.

Zugleich droht die Kernschmelze in zwei AKWs, eine nukleare Katastrophe steht ins Haus – eine Katastrophe, die noch gestern von der japanischen Regierung und den Kernkraftwerksbetreibern geleugnet und auf kriminelle Weise verharmlost wurde.

Warum kam es zur „Naturkatastrophe“?

Der verbreitete Glaube, die Natur sei „für den Menschen geschaffen“, drückt sich auch im Begriff der „Naturkatastrophe“ aus. Die Natur, zu der auch der Mensch selbst gehört, folgt einfach ihren Gesetzen. Es kann der menschlichen Gesellschaft nur mehr oder weniger gut gelingen, sich diesen Gesetzmäßigkeiten anzupassen oder sie zu nutzen. Die kapitalistische Verwertungslogik erzeugt die Illusion einer grenzenlosen Verfügbar- und Beherrschbarkeit „der Natur“ – danach kann eine sich nicht daran haltende Natur nur katastrophal sein.

Die Bewegung der Kontinentalplatten im Erdmantel und die daraus folgenden Phänomene wie Erdbeben, Tsunamis oder Vulkanausbrüche gehören zu den Grundbedingungen unserer Existenz auf diesem Planeten. Ihre Berechenbarkeit oder gar Beherrschbarkeit ist derzeit noch fernste Zukunftsmusik. Von daher gehören geologische Großereignisse zu den elementaren Risiken, die bei allen gesellschaftlichen Planungen, ob bei Städteplanung oder technischen Projekten berücksichtigt werden müssen – genauer: berücksichtiger werden müssten, unter kapitalistischen Bedingungen aber immer dem Kampf um mehr Profit untergeordnet werden.

Gerade in Japan, wo das Zusammentreffen von pazifischer und eurasischer Platte Erdbeben zu einer fast alltäglichen Erscheinung macht, wurde lange Zeit die Illusion einer besonders perfekten „Erdbebentechnologie“ geschürt. Dies hat sich durch das schiere Ausmaß des Bebens vom 11. März 2011 nun relativiert. Ein Beben der Stärke 8,9 der Richterskala erzeugt etwa das 10fache an Energie, für die normalerweise in Bezug auf „schwere Erdbeben“ geplant wird.

Die Nähe des Epizentrums zur Küste bei Sendai überforderte offenbar auch das Tsunami-Warnsystem. Allen angeblichen Vorkehrungen zum Trotz wurden allein schon durch die Folgen von Erdbeben und Flutwelle mehrere tausend Menschen getötet und hunderttausende obdachlos. Neben Hafenanlagen wurden auch viele Industrieanlagen wie etwa Raffinerien schwer getroffen, so dass die Hauptinsel von einem Meer an Bränden getroffen ist. Die soziale Katastrophe für viele der schon jetzt durch die Wirtschaftskrise getroffenen japanischen ArbeiterInnen und Armen wird unvermeidlich folgen.

Japans AKWs und ihre Betreiber

Doch damit nicht genug. Trotz der bekannten Erdbebengefahr werden in Japan 54 Atomkraftwerke betrieben, die für ein Drittel der Stromversorgung verantwortlich sind. Auch in Japan wird - wie in jedem anderen Land der Welt - behauptet, dass es nirgendwo derart sichere AKWs gäbe, die auf dem höchsten Standard der Erdbebensicherheit seien. Dass man darunter die Unbedenklichkeit bis zu einem Erdbeben der Stärke 8,2 verstand, lässt die seit dem 11. März folgenden Ereignisse als kalkuliertes Desaster erscheinen. Waren doch schon bis dahin bei verschiedenen schwächeren Erdbeben bedenkliche „Zwischenfälle“ aufgetreten. So 2007, als aus einem AKW stundenlang kontaminiertes Material ins Meer gelangte und ein Kraftwerk monatelang vom Netz genommen werden musste.

Viele AKWs sind nicht nur nahe der tsunamigefährdeten Küste gebaut. Sie sind auch riesige Komplexe, oft mit zig AKW-Blöcken an einem Ort konzentriert. Dazu sind die Kraftwerksbetreiber durch ein besonders diktatorisches Arbeits- und Öffentlichkeitsregime bekannt. Der jetzt bekannt gewordene AKW-Betreiber TEPCo (Tokio Electro Power Company) ist berüchtigt für die Vertuschung von Unfällen, die Be- genauer: Misshandlung „unbotmäßiger“ Arbeiter und den „kreativen“ Umgang mit Messwerten.

Als am 11. März das Beben und der Tsunami über die Hauptinsel hereinbrachen, kam es bald zur Abschaltung von 11 AKWs. Im AWK Onagawa brach ein Brand aus, der jedoch gelöscht werden konnte. Doch dann stellte sich heraus, dass im AKW Fukushima 1 bei drei der sechs Reaktorblöcke das Kühlsystem ausgefallen ist. Später wurde bekannt, dass ähnliches auch bei dem wenige Kilometer entfernten AKW Fukushima 2 geschehen war.

Die Wirkung von Beben und Tsunami hatten die Stromversorgung zur Steuerung der Kühlung zerstört und auch die Notstromaggregate waren trotz redundanter Anlage nicht in Betrieb zu nehmen. Das „völlig Unmögliche“ war eingetreten. Trotz Abschaltung (Unterbrechung der atomaren Kettenreaktion durch Separierung der Brennstäbe) entwickelt der Reaktor immer noch enorme Hitze und kann nur durch entsprechende Kühlung heruntergefahren werden. Ansonsten droht die Verdunstung des Kühlwassers, die Abschmelzung der Brennstäbe und letztlich die Kernschmelze. Mit letzterer setzt die atomare Kettenreaktion wieder voll ein, ein Durchbrechen des Reaktordruckmantels ist nicht mehr zu vermeiden. Folge ist, dass es durch den enormen Druck zu einer Explosion kommt, die das strahlende Material kilometerweit in die Atmosphäre schleudert. Dieses letztere Szenario hat sich vor knapp 25 Jahren, am 26. April 1986, im sowjetischen AKW Tschernobyl ereignet. Damals erfolgte die Kernschmelze so rasch, dass die enorme Explosion zur Kontamination über hunderte von Kilometern führte und eine noch größere Katastrophe nur durch den heroischen Einsatz hunderter sowjetischer Soldaten und Feuerwehrleute verhindert werden konnte, die bei der Ummantelung des brennenden Kerns ihr Leben ruinierten oder verloren.

Damals wurde in der kapitalistischen Welt sowohl die sowjetische Technik als Hauptursache dargestellt, als auch die dortige Informationspolitik gegeißelt. Wie die Havarie des AKW Fukushima zeigt, ist die Information der Öffentlichkeit auch im Kapitalismus das erste, was im atomaren Nebel versinkt. Auch bei Fukushima kamen immer nur Informationsbruchstücke heraus, meistens, wenn es nicht mehr zu leugnen war. Dass der Betreiber TEPCo nicht alles im Griff hatte, wurde letztlich durch die immer größeren Evakuierungsgebiete um das Kraftwerk deutlich. TEPCo spielte auch noch die 1000fache Strahlenbelastung im Kontrollraum hinunter, musste jedoch das völlige Versagen des Kühlsystems zugeben. Wie dann noch eine Kernschmelze zu vermeiden sei, wurde nicht erklärt. Offenbar wurde durch den Druck im Reaktorbehälter und die Entstehung radioaktiver Gase das Kühlsystem auch noch leck – was später auch noch als „Ablassen von Druck“ verharmlost wurde. Das Gasgemisch im Reaktorgebäude führte schließlich am 12. März zu einer massiven Wasserstoffgas-Explosion, die das äußere Reaktorgebäude zerstörte. Auch hier kamen von TEPCo und Regierung nur nebulöse Erklärungen, nach denen dies mit dem „Druckablassen“ zu tun hätte und die Strahlenbelastung in der Umgebung nicht gestiegen sei. Tatsächlich war aber inzwischen sogar das Vorhandensein von Cäsium-Isotopen nicht mehr zu leugnen, was auf einen Beginn des Prozesses der Kernschmelze hindeutet. Auch die Ausweitung der Evakuierungszone auf 20 Kilometer und die Evakuierung von inzwischen 50.000 Menschen ließ nicht gerade auf ein „normales Prozedere“ schließen. Die bekannten Messmethoden von TEPCo wurden gänzlich unglaubwürdig, nachdem die ersten Strahlenopfer medizinisch nachgewiesen wurden.

Sicherlich: gegenüber Tschernobyl gibt es bei Fukushima einige Momente, die hoffen lassen, dass diesmal die Katastrophe nicht so schreckliche Ausmaße annimmt. Einerseits war bei Fukushima der Reaktor schon ausgeschaltet und im Prozess der Abkühlung. Der Prozess der Kernschmelze setzte offenbar zu einem sehr viel „ungefährlicheren“ Zeitpunkt ein. In der Folge könnte das Szenario eher das eines längerfristigen Ausströmens kontaminierten Materials in eine relativ beschränkte Umgebung als die einer explosiven Schleuderung in die weitere Atmosphäre sein. Zweitens scheinen die Wetterverhältnisse die radioaktive Wolke eher „aufs Meer hinaus“ zu treiben. Andernfalls wären auch Ballungsräume von Millionen von Menschen betroffen!

Wenn so „nur“ ein paar hundert Quadratkilometer und „das Meer“ radioaktiv verseucht werden, ist es schon zynisch, von „Glück“ zu reden. Es heißt, dass mit dieser Art der Anwendung der AKW-Technologie letztlich Hazzard mit dem Leben von Millionen von Menschen gespielt wurde, und die Verwüstung beträchtlichen natürlichen Lebensraums als „Glücksfall“ übrigbleibt.

Lehren aus der Katastrophe

Diese neuerliche Katastrophe der Nukleartechnologie zeigt eindeutig, dass unter den heutigen Bedingungen den kapitalistischen Betreibern von AKWs diese so schnell wie möglich aus den Händen genommen werden müssen! Es gibt keine „endgültige“ Sicherheit von AKWs zur Vermeidung des Super-GAUs. Neben der geologisch gesehen unlösbaren Frage der Endlagerung kontaminierten Materials kann die Bedrohung durch einen solchen Super-GAU heute nur heißen: möglichst schnellen geplanten Ausstieg aus der AKW-Technik!

Unmittelbar steht in Japan an, der vor unseren Augen stattfindenden Katastrophe zu begegnen, den Schaden für die Bevölkerung so weit wie möglich abzuwenden. Das setzt aber voraus, dass die Koordinierung des Schutzmaßnahmen und erst recht die Aufklärung über die wirklichen Gefahren nicht ausgerechnet jenen AKW-Betreibern und jenen Regierungsvertretern überlassen werden kann, die sich bisher vor allem als Vertuscher, Verharmloser und profitgierige Kriminelle erwiesen haben, denen der Schutz des „Images“ ihre AKW letztlich wichtiger ist als das Leben von Millionen. Im Gegenteil: Die verantwortlichen Manager und Eigentümer von TEPCo sowie ihre Hintermänner in den Behörden müssen zur Rechenschaft gezogen und abgeurteilt werden.

Unmittelbar müssen alle Informationen, alle Unterlagen der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden! Die Beschäftigten in den AKWs und ExpertInnen, die das Vertrauen der Arbeiterbewegung und von UmweltaktivistInnen genießen, müssen offenen Zugang zu allen Informationen haben, so dass diese überprüft und auch objektiv und verständlich der Öffentlichkeit übermittelt werden können. Auf der Basis solcher Informationen kann auch die Koordinierung von Hilfsmaßnahmen weitaus effektiver betrieben werden – und zwar unter Kontrolle der Rettungskräfte, von Feuerwehrleuten und ihren Gewerkschaften selbst und nicht irgendwelcher korrupter Staatsdiener, denen die Profitinteressen der AKW-Betreiber womöglich näher stehen als die Überlebensinteressen der Beschäftigten und AnwohnerInnen.

Zweitens müssen die AKWs wie die gesamte Energiewirtschaft Japans nicht nur entschädigungslos enteignet und unter Arbeiterkontrolle – d.h. unter jener der Beschäftigten, wie auch von VertreterInnen der Gewerkschaften – verstaatlicht werden. Auf einer solchen Grundlage kann ein Energieplan zum möglichst raschen Umstieg auf erneuerbare Energien und zur Reduktion des Verbrauchs erarbeitet werden, der den schnellen Ausstieg aus fossilen und AKW-Technologien ermöglicht!

Diese Sofortmaßnahmen werden zweifellos mit den Profitinteressen des japanischen Großkapitals kollidieren, solche Forderungen werden zweifellos auf den Widerstand von Konzernen und Regierung stoßen. An ihrer Dringlichkeit ändert das nichts. Es liegt an der Arbeiterbewegung Japans, den politischen Kampf für solche Forderungen aufzunehmen.

Dieser Kampf und die Unfähigkeit des Kapitalismus, ein vernünftiges Verhältnis von Mensch und Natur herzustellen, werfen auch die Frage auf, den Kapitalismus selbst zu überwinden und durch eine demokratische Planwirtschaft zu ersetzen. Schon die Katastrophe von Tschernobyl hat Millionen von der Überlebtheit des Stalinismus überzeugt – die Katastrophe von Fukushima und der Tsunami über Japan könnte eine ähnliche Wirkung entfalten. Denn nur, wenn die Menschheit ihr Schicksal in ihre eigenen Hände nimmt, wenn Produktion und Verteilung gemäß den Bedürfnissen der großen Mehrheit und nicht für den Profit weniger organisiert werden, ist eine Welt möglich, in der die Menschheit die natürlichen Grundlagen ihrer eigenen Existenz zu sichern fähig ist.

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