Arbeitermacht
Liga für die fünfte Internationale

Nord & Südamerika Europa Asien & Australien


google.de arbeitermacht.de

Chile

Aufstand der Pinguine

Augenzeugenbericht, Infomail 266, 29. Juni 2006

In Chile haben sich 1,3 Millionen OberschülerInnen im Mai und Juni dieses Jahres in einem monatelangen Kampf gegen die neoliberale Organisation des Bildungswesens engagiert. Wegen ihrer schwarz-weißen Schuluniformen tragen sie den Spitznamen Pinguine; ihr Kampf gegen die brutalen Polizeitruppen, die ein Erbe der Pinochet-Diktatur sind, heißt deswegen „Aufstand der Pinguine“ (el levantamiento de los pinguinos).

Das wichtigste an diesem Aufstand ist das direkte Auftreten gegen das gesamte neoliberale Programm dieser und voriger chilenischer Regierungen. Das chilenische neoliberale Modell ist das älteste der Welt - noch vor Thatcher und Reagans Politik. Es wurde durch die blutige Diktatur eingeführt, die den Präsidenten Allende am 11.9.1973 stürzte. Über 3.000 SozialistInnen und GewerkschaftlerInnen wurden hingerichtet oder ‚verschwanden’ spurlos. Mehr als 27.000 wurden eingekerkert und gefoltert, noch mehr mussten außer Landes flüchten.

Dieser Blutspur folgte das chilenische Modell drei Jahrzehnte und wurde in ganz Lateinamerika als glänzendes Beispiel für „Entwicklungspolitik“ nachgeahmt.

Nun kommt gibt Chile ein anderes Beispiel: eine ganz neue Generation hat sich dem kontinentalen Widerstand gegen den Neoliberalismus angeschlossen. Dies kann große Folgen für die künftige politische Entwicklung in Chile und darüber hinaus haben.

Im Mittelpunkt der Schülerbewegung stand die Forderung nach Abschaffung des verhassten organischen verfassungsmäßigen Bildungsgesetzes, das einen Tag vor Pinochets Amtsabschied im März 1990 in die Verfassung aufgenommen wurde. Dieses Gesetz überantwortet das Bildungswesen den mit geringen Finanzmitteln ausgestatteten örtlichen Verwaltungen und bahnt der Privatisierung von Schulen, Fachhochschulen und Universitäten den Weg. Laut Meinungsumfragen haben 84% der chilenischen Bevölkerung den Schülerkampf unterstützt, nur ganze 14% haben das Verhalten der Regierung dazu gebilligt.

Einer der wichtigsten Punkte war die Selbstorganisation der SchülerInnen. An den Oberschulen wählten sie Abordnungen aus jeder Schulklasse. Diese bzw. die Klassensprecher wählten einen Schulsprecher. Jene wiederum wählten auf Regionaltreffen aus ihren Reihen Abordnungen zu einem landesweiten Treffen in der Landeshauptstadt Santiago. Dort wählten sie dann ihre Sprecher beiderlei Geschlechts als reguläre Vertreter der Bewegung. Alle Führer konnten auf ihren jeweiligen Ebenenversammlungen wieder abgewählt werden, wenn sie sich nicht an die Beschlüsse gehalten haben, und durch andere ersetzt werden, die den Beschlüsse Folge leisten.

Sie führten eine wirkliche eiserne Disziplin ein: kein Delegierter konnte mit persönlicher Meinung auftreten, sondern durfte nur das äußern, was von den Schülerversammlungen demokratisch vereinbart worden war. Sehr wichtig war auch, dass niemand Informationen an die Medien darüber durchsickern ließ, was geplant oder beschlossen worden war. An jeder Schule organisierten sie Ausschüsse: für Sicherheit, Sauberkeit, Propaganda, Versorgung, Spendensammlung, Unterhaltung usw. Rauschmittel (auch Alkohol) waren auf dem Schulgelände verpönt.

Hinter verschlossenen Schultüren organisierten sich die SchülerInnen in Hinblick auf den schulischen Alltag mit gegenseitiger Hilfe, aber auch für die Zukunft ihrer Bewegung. Sie besetzten die Gebäude, so dass wenigstens immer 30 SchülerInnen anwesend waren. Verständnisvolle Eltern ließen ihre Kinder dort auch übernachten. Einkäufe, Küchendienst usw. wurden organisiert und eine Musikanlage aus Spenden sorgte für Reggaebeschallung. Den größten Teil ihrer Zeit verbrachten die Jugendlichen mit Diskussionen über den weiteren Kurs der Bewegung.

Sie erübrigten sogar Zeit, die sanitären Anlagen und Schulmauern mit Bildern aus ihrem Kampf künstlerisch zu verzieren oder Theaterstücke zu schreiben, um ihre Mitschüler und Gäste zu unterhalten. Wir wurden in das Barros Arana-Internat eingeladen und durften einer kurzen Satireaufführung über die Regierung beiwohnen.

Während der vielen Demonstrationen in den Städten, v.a. in Santiago, mischten sich gelegentlich kriminelle und lumpenproletarische Individuen unter die SchülerInnen und versuchten, sie zu bestehlen. Aber die SchülerInnen schnappten sich diese Verbrecher und Provokateure und verpassten ihnen eine Abreibung. Die Schülerbewegung nahm also ihre Wach- und Rechtsaufgaben wahr.

Seit Streikbeginn haben viele Schüler das Gesetz zur Bildungsstruktur in Chile verstanden. Die Schüler des Lyzeums B-30 and viele andere verdanken dies dem Einsatz von StudentenInnen, die sie mit Material und Kurzvorträgen über die Politik und ihre Auswirkungen auf das chilenische Bildungswesen versorgten. Ein Organisator des Lyzeums erzählte, dass seine Klassenkameraden binnen drei Tagen schnell die Politik als Hintergrund der Bildungsmisere begriffen hatten. Diese Erkenntnis veränderte die Zielsetzungen der Oberschülerbewegung von reinen Kostenverbilligungsforderungen zu einem durchgreifenden Aufstand gegen die Bildungspolitik in Chile.

Die SchülerInnen waren baldmöglichst lern- und verständniseifrig, nicht nur in Bildungs-, sondern auch in gesamtpolitischen Fragen. Unser Material, wie auch das anderer linker Gruppen, wurden unter den Mitschülern verteilt. Als uns die Exemplare ausgingen, plakatierten sie mit dem Restbestand die Mauern, so dass jeder unsere Schriften und alle Infos oder politischen Positionen zu den sie betreffenden Problemen nachlesen konnte.

Am Sonnabend, dem 3. Juni, 2 Tage nach dem landesweiten Streik, luden die Schüler alle politischen und gesellschaftlichen Organisationen zum Meinungsaustausch in das Barros Arana-Nationalinstitut von Quinta Normal Santiago ein. Alle Abordnungen durften das besetzte Gebäude betreten, mussten aber ihre Personalausweise am Geländezugang abliefern. Alle VertreterInnen durften ein paar Minuten sprechen und hörten aufmerksam den vielen Beiträgen zu. Als einige Schüler die reformistischen Parteiführer ausbuhen wollten, schritten die Diskussionsleiter ein und ließen die Redner ausreden. Die Atmosphäre war äußerst demokratisch, und kein Medienvertreter oder Fotograf war in der Versammlungshalle zugelassen.

Die Schüler beschlossen, den landesweiten Boykotttag auf dem besetzten Schulgelände abzuhalten. Doch die Patriotische Front Manuel Rodriguez rief zu Demo und Kundgebung in der Innenstadt von Santiago auf. Als die Medienreporter später wegen der verschiedenen Taktiken einen Keil zwischen die Schülerbewegung und linken Gruppen zu treiben versuchten, lehnten es die SchülerInnen ab, die Linken zu kritisieren.

Durch diese Haltung insgesamt wird klar, dass die Schüler die besten Elemente der revolutionären Demokratie wieder entdeckt haben, Redefreiheit, demokratische Art der Austragung von Streitgesprächen, demokratische Schülerräte mit Handlungsvollmacht und Entfernung von Führern oder Gruppen, die die Disziplin der Bewegung, Gemeinschaft und des Solidaritätsgrundsatzes verletzen. Das ist eine sehr bedeutsame Errungenschaft in einem Land, das noch die Narben der Diktatur und des faulen Kompromisses durch die reformistischen Parteien, sowohl der Sozialisten wie der Kommunisten, trägt, dass einen Übergang zur bürgerlichen Demokratie erlebt hat, das Pinochet und den Folterknechten Straffreiheit ließ und den staatlichen Unterdrückungsapparat - Polizei und Armee, die mit Pinochet-Leuten besetzt waren – nicht antastete.

Dem Streik schlossen sich am Montag, dem 5. Juni mehr als 1 Million Schüler, Lehrer, medizinisches Personal und andere an. Der chilenische Gewerkschaftsverband CUT verweigerte sich in beschämender Weise dem Streikaufruf der Schüler. Berichten von außerhalb Santiagos zufolge gab es in anderen Städten von dieser Seite aber mehr Rückhalt für den Streik, zumal dort der Einfluss der Gewerkschaftsbürokratie weniger stark ist. Die chilenische KP forderte eine Reform des Gesetzes, während die SchülerInnen für dessen völlige Abschaffung sind. Eingedenk vieler Straßenkämpfe gegen die Polizei beschlossen die Schüler an jenem Tag die Besetzungen von Schulen. Leider riefen sie jedoch nicht zu einer zentralen Demonstration auf, die alle Regierungsgegner hätte vereinigen können. Aber sie kritisierten andere Organisationen auch nicht für den Aufruf zu einer solchen Demonstration in Santiago.

Einer der Gründe, warum die SchülerInnen den Beschluss zum Verbleib auf dem besetzten Gelände fassten – und es gibt tausende solcher Besetzungen - liegt in den vielen Zusammenstößen mit der Polizei während der vergangenen Wochen und in allen Großstädten, wo viele Schüler verhaftet wurden. Um Atem schöpfen und den Rückhalt in der Bevölkerung bewahren zu können, beschlossen sie Treffen, Musik und Volkstheater auf dem besetzten Schulgelände zu veranstalten.

In einer Gruppe von Genossen besuchten wir die Besetzungen und verteilten dort tausende von Sonderzeitungen für die Schüler, die wir ‚El Pinguino Rojo y Negro’ (Der rot-schwarze Pinguin) nannten. Wir wurden sofort zu Gesprächen und Diskussionen auf das Gelände eingeladen. Am Abend reihten wir uns in den Aufmarsch in Santiagos Innenstadt ein. Trotz amtlicher Genehmigung für diese Demo, die von Manuel Rodriguez Patriotischer Front, dem früher bewaffneten Arm der KP und anderen Organisationen am frühen Nachmittag angemeldet worden war, entzog die Stadtverwaltung der Demo die Erlaubnis. Aber tausende von Jugendlichen und anderen Aktivisten kamen trotzdem in der Stadt zusammen, um gegen die Regierung und für die Unterstützung der Schüler aufzutreten.

Eine Gruppe von GeschichtsstudentInnen erschienen mit einem Transparent ‚Wir nehmen an keinen Geschichtsseminaren teil, Geschichte wird auf der Straße gemacht’. Die polizeiliche Eingreiftruppe trat uns gegenüber. Große Wasserwerfer (guanacos), Gruppen schwer bewaffneter Polizisten, Lastwagen mit Tränengaskanistern und merkwürdige Busse, die für Verhaftete bestimmt waren, waren bereits am frühen Morgen in der Innenstadt an den Verkehrsknotenpunkten rund um die Universität und darüber hinaus aufgeboten worden.

Um 17 Uhr brachen Handgemenge zwischen Jugend und Eingreifpolizei nahe der nationalen Bibliothek aus, die sich zur Universität und dem benachbarten, von Schülern besetzten Nationalinstitut ausweiteten. Gruppen von Jugendlichen kamen aus der Universität und bewarfen die verhasste Polizei und die Wasserwerfer mit Steinen. Dann tauchte eine andere Schülergruppe auf und bekleckerte vom Dach der Universität aus die Polizeischwadron mit Wandfarbe. Ein Katz und Maus-Spiel begann und setzte sich bis tief in die Nacht fort. Die Innenstadt war von Tränengasschwaden durchzogen. Während der Nacht attackierten Neonazi-Gruppen einige der besetzten Schulen. Die SchülerInnen stellten darauf hin ‚Sicherheitsausschüsse’ auf, bewaffnet mit Metallstangen und Keulen.  Studenten eilten den Oberschülern zu Hilfe.

Die Schüler im Aufstand und die sich daran anschließenden Studenten verkörpern eine ganz neue Generation im Kampf. Sie wurden nicht unter der Pinochet-Diktatur geboren, sondern in den Aufschwungjahren des chilenischen Wirtschaftswunders, der bürgerlich-reformistischen Regierung der Concertacion. Jetzt will die Jugend ihren Anteil an der ‚Entwicklung’, insbesondere seit sich der Kupferpreis sich wegen der Nachfrage aus China verdoppelt hat.

Aber sie kämpfen für weit mehr. Sie begehren auch gegen die ‚Verbrauchergesellschaft’ und die Privatisierungsprogramme der Regierung auf. Die Idee, Bildung zum Geschäft zu machen, hat Widerwillen erzeugt. Dies drückt sich in Transparenten in Santiago aus, auf denen es u.a. heißt: ‚Um vermarktete Bildung zu bekämpfen, brauchen wir organisierte Schüler’.

Gegenwärtig haben die Schüler der Regierung einige Zugeständnisse wie kostenlose Schülerfahrkarten, kostenlose Schulspeisungen für arme Schüler, das Versprechen, die langen Schulstunden zu revidieren, bedürftige Schüler zu unterstützen usw. abgerungen. Ihr Kampf ist selbst bei den Kindern der Reichen in vornehmen Privatschulen und Universitäten angekommen. Viele von ihnen waren auch besetzt und streikten solidarisch mit anderen Schülern. Im Augenblick herrscht Waffenstillstand. Die Regierung versucht, zu manövrieren und hat eine Sonderkommission beauftragt, ein Programm für Verbesserungen im Bildungsbereich aufzusetzen, während die Studenten das Recht auf ein kostenloses und allgemein öffentliches Bildungssystem verlangen und das Recht der Schüler, Eltern und Lehrer zu Entwürfen zur Neufassung der Bildungsgesetze.

Die Sonderkommission soll in drei Monaten Vorschläge anbringen. Aber die Schüler wollen keine Elitebildung, sondern die Abschaffung des aus der Diktaturzeit stammenden organischen verfassungsmäßigen Bildungsgesetzes. Sie sind bereit, den Kampf wieder aufzunehmen, wenn die Kommission und das Parlament ihnen nicht das Verlangte geben. Alle Hoffnungen, dass Präsidentin Bachelet, die im Januar gewählt und seit dem 11. März im Amt ist, sich grundlegend von ihren Vorgängern unterscheidet, schwindet schon jetzt bei vielen Schülern. Auf Plakaten in Santiago heißt es ‚Bachelet – Reden für die Armen – Regierung für die Reichen’: trotz des Umstands, dass Bachelet zusätzlich 135 Millionen in den Bildungshaushalt pumpen will, 10.000 zusätzliche Schulmahlzeiten, Gebührensenkung für universitäre Aufnahmeprüfungen und andere kleine Zugeständnisse angekündigt hat.

Wichtigster Punkt aber ist, dass dieser Kampf einen Wendepunkt im chilenischen Klassenkampf bedeutet. Mit ihm wurde ein neues Kapitel der Übergangszeit nach den Diktaturjahren und der wirtschaftlichen ‚Entwicklung’ aufgeschlagen. Anti-Neoliberale und sogar antikapitalistische Gedanken traten wieder in den Vordergrund. Diese Wochen des Massenkampfs junger Leute bieten große Möglichkeiten, Unterstützung für ein revolutionär sozialistisches Programm in den kommenden Monaten und Jahren aufzubauen.

Leserbrief schreiben   zur Startseite

Wöchentliche E-News
der Gruppe Arbeitermacht

:: Archiv ::