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Anarchismus

Antiautoritäre Sackgasse

Martin Suchanek, Arbeitermacht 58, September/Oktober 2000

Der Anarchismus, so schreibt Trotzki an einer Stelle, ist die Strafe für die opportunistischen Fehler der Arbeiterbewegung. Dass es an Feigheit, Verrat, Perspektivlosigkeit bei Sozialdemokraten, Stalinisten und Gewerkschaftsbürokraten allerorts nicht mangelt, wissen wir alle. Wen wundert es also, wenn die anarchistische Ideologie (bzw. Versatzstücke ebendieser) in der Bewegung gegen den globalen Kapitalismus eine große Rolle spielt.

Dazu bedarf es auch keiner deklarierten und geschulten Anarchisten und Anarchistinnen. Unter Autonomen, aber auch unter vielen anderen Linken haben solche Vorstellungen und Vorurteile oft schon den Rang von Volksweisheiten.

So gelten Massenorganisationen als autoritär, bürokratisch, hierarchisch, reformistisch. Ob und warum auf diese Art agiert, wird nicht aus eine Analyse der Klassenkräfte und -interessen, die ebendiese Organisation vertritt, hergeleitet. Vielmehr wird aus formalen Ähnlichkeiten auf bestimmte Eigenschaften geschlossen. Dieser Methode kommt entgegen, dass in der bestehenden Gesellschaft (aber auch in der stalinistischen Diktatur) tatsächlich die meisten Massenorganisationen gemeinsame bürgerliche Charakteristika aufweisen.

Der individual-anarchistischen Doktrin zufolge sind so unterschiedliche Phänomene wie bürgerliche und revolutionäre Parteien, Räte, bürokratisch-reformistische, revolutionäre oder selbst anarcho-syndikalistische Gewerkschaften wesensgleich und ein Übel. Sie sind immer hierarchisch, sie wollen immer Macht, sie wollen immer andere dominieren, ...

Doch alle Massenorganisationen müssen immer ein Mindestmaß an Zentralisierung und Disziplin, an "Hierarchie" aufweisen. Ansonsten sind sie wirkungslos. Das trifft z.B. auf eine militante antifaschistische Demonstration zu. Wir wählen dieses Beispiel, weil sich darin zeigt, wie absurd die anarchistischen Phrasen sind, wenn man sie zu Ende denkt.

Wir wissen, dass jede solche Mobilisierung mit zwei gut organisierten (hierarchischen, autoritären, ...) Gegnern zu tun hat: Faschisten und Polizei. Daher wissen wir auch, dass die Demonstration um so wirkungsvoller sein wird, je besser sie organisiert ist. Die Demonstranten und Demonstrantinnen müssen handeln, als wären sie eine Person. Wenn jeder und jede nach eigenem Gutdünken - "freiem Willen" - entscheidet, so wird die Demo desorganisiert, leicht von der Polizei aufgemischt oder von den Nazis attackiert.

Um sicherzustellen, dass die Demo geschlossen agiert, dass einzelne geschützt und in die kollektive Aktion einbezogen werden, wird die Demo nicht nur ein Leitung brauchen, sondern auch Ordner, einen Selbstschutz, kurzum sie muss in sich strukturiert, organisiert sein. Sie hat eine "vertikale" oder "hierarchische" Struktur.

Aber nein, so entgegen uns die individuellen Anarchisten, das ist ja nur eine "technische Absprache". Das hat nichts mit Politik oder Hierarchie zu tun. Solche Einwände gehen davon aus, dass das Wesen einer Sache geändert wird, wenn man sie nicht beim Namen nennt.

Wie eine solche Demo organisiert ist, warum, wer sie leitet usw. ist ein Resultat politische Erfahrung, politischer Entscheidung und eines politischen Kräfteverhältnisses unter jenen, die sich zu einer solchen Aktion vereinen.

Das trifft im übrigen auch nicht nur auf anti-faschistische Demos, sondern auf alle Massenaktionen und Bewegungen zu. Jeder Streik, jede Massendemo, jede Besetzung kann nicht umhin, zentralisierte Entscheidungsstrukturen und eine politische Führung herauszubilden.

Jede solche Aktion muss die Umsetzung ihrer Ziele, ihrer Beschlüsse zu erreichen trachten, oder sie wird schnell und leicht vom Gegner besiegt werden. Jeder Streikende lernt aus der Erfahrung, dass ein Streik oder eine Besetzung nur gewonnen werden kann, wenn möglichst viele (am besten alle) Beschäftigten geschlossen handeln, wenn die Minderheit, die z.B. gegen den Streik ist, freiwillig oder aufgrund der Macht der Streikenden den Kampf unterstützt oder wenigstens nicht sabotiert. Die Mehrheit wird in diesem Fall also ihren Willen der nicht-kampfbereiten oder zögernden Minderheit aufzwingen müssen, will sie nicht selbst ihre Chancen auf den Erfolg untergraben. Sie braucht also Macht und muss bereit sein, ihre Machtmittel auch einzusetzen. Wie "autoritär", wie "kollektivistisch"!

Wir wissen, dass die bestehenden Massenorganisationen der Arbeiter und Unterdrückten bürokratisch aufgebaut sind. Die Macht liegt in den Händen einer selbstherrlichen reformistischen, bürgerlichen Bürokratie. So weit stimmen wir mit den individuellen Anarchisten und kleinbürgerlich Radikalen überein.

Unsere Kritik an der Bürokratie ist aber eine ganz andere als die ihre. Während für die "Anti-Autoritären" die Macht und das Machtstreben der Organisationen (z.B. der Gewerkschaften) an sich das Übel darstellen, so besteht unsere Kritik an der Bürokratie und den Reformisten darin, dass sie die Macht der Arbeiterorganisationen unterminieren, ihr Potential hintertreiben, ihre Kontrolle über die Massenorganisationen gegen die Klasse einsetzen und als Druckmittel für ihre eigenen Kombinationen mit den Kapitalisten missbrauchen.

Unsere Alternative besteht nicht darin, die Gewerkschaften oder andere Massenorganisationen in "Netzwerke" und "horizontale" und lokale Splittergrüppchen aufzulösen. Unsere Alternative ist der Kampf gegen die Arbeiterbürokratie. Wir wollen möglichst mächtige Arbeiterorganisationen, die einheitlich und geschlossen gegen das Kapital und seinen Staat kämpfen. Darum treten wir für eine revolutionäre Führung ein und für Arbeiterdemokratie.

Arbeiterdemokratie ist für uns kein Selbstzweck und schon gar kein Mittel zur individualistischen Selbstdarstellung. Sie ist ein Mittel zur Organisierung und Einbeziehung möglichst aller Lohnabhängiger, ein Mittel zur politischen Erziehung der Massen, zur Erhöhung ihres politischen Bewusstseins und ihrer Kampfkraft. Sie dient nicht dazu, keine Führung zu haben, sondern eine möglichst starke und gleichzeitig den Massen verantwortliche Leitung zu haben. Daher treten wir für die Rechenschaftspflicht, die Wahl und jederzeitige Abwahlmöglichkeit der Führung ein - und zwar nicht durch irgendwelche Kleingruppen, sondern auf Massenversammlungen. 

Das ist die einzige Form, wie die Masse der Arbeiterklasse ihre Kontrolle über ihre Organisationen wieder herstellen und sichern kann, wie sie sich aus dem Zustand ihrer eigenen Zersplitterung und Individualisierung erheben kann.

Für die individuellen Anarchisten ist das ein Graus. Wird nicht der freie Wille der Leute vergewaltigt, werden sie nicht manipuliert? Für die Arbeiterklasse, die Jugend, für alle unterdrückten Klassen und Schichten ist das Ausgangsproblem ein ganz anderes. Als Individuen sind sie der Willkür der Kapitalisten, des Staates, der Polizei ausgesetzt, als einzelne Individuen sind sie Spielball von Manipulationen usw. Als Einzelne sind sie tatsächlich ohnmächtig.

Zur eigenen Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung, ja selbst nur zur Einschränkung der Macht ihrer Unterdrücker müssen sie sich in Massenorganisationen zusammenschließen. Ohne Organisationen, ohne Gewerkschaften, Parteien, usw. sind die Proletarier nur Ausbeutungsmaterial für das Kapital. Daher geben sie auch zurecht bestehende Organisationen nicht leichtfertig auf, ohne auf alternative, kämpferstärkere und wegweisendere zurückgreifen zu können.

Die Individual-Anarchisten predigen freilich, dass die Arbeiter und Arbeiterinnen damit nur die Entfremdung, den Bürokratismus usw. der bürgerlichen Gesellschaft in ihren eigenen Organisationen reproduzieren würden. Der Weg zur Befreiung der Arbeiterklasse hat demzufolge auch nicht über die Eroberung der Staatsmacht, die Zerschlagung der bürgerlichen bürokratischen und militärischen Maschinerie und ihre Ersetzung durch einen Arbeiterstaat, durch die Diktatur des Proletariats, zu erfolgen, sondern durch den Aufbau einer "Bewegung frei von den Zwängen der bürgerlichen Gesellschaft in der bürgerlichen Gesellschaft".

Durch den Zusammenschluss von Individuen in Kleingruppen und deren lose und unverbindliche (natürlich nicht-hierarchische, horizontale) Vernetzung soll die reinste "direkte Demokratie", die Basisdemokratie pur verwirklicht werden. Die bürgerliche Gesellschaft soll durch eine anti-autoritäre, autonome, ... Gegengesellschaft ausgehöhlt, unterwandert und schließlich überwunden werden, ohne dass die ausgebeutete Klasse auf revolutionärem Weg die politische Macht zu erobern bräuchte.

Die autonomen und anti-autoritären Wölfe entpuppen sich hier als biedere reformistische Schafe. Kein Wunder, dass ihnen die Huldigung der Bewegung als Selbstzweck über die Lippen geht, dass Bernstein, der theoretische Begründer des Revisionismus in Deutschland, vor Neid erblassen würde. "Die Bewegung ist alles", hatte er Rosa Luxemburg und den Revolutionären in der Sozialdemokratie entgegengehalten. Die Autonomen und Antiautoritären plappern das nach - blind für die historischen Zusammenhänge, aber umso treffsicherer in der Sache.

Ihre Verwandtschaft mit dem Reformismus ist keineswegs zufällig und rhetorisch. So wie Bernstein die Arbeiterbewegung mit der modernen bürgerlichen Gesellschaft auszusöhnen versucht, so wollen die Anti-Autoritären, den anti-kapitalistischen Widerstand auf ein klein-bürgerlich utopisches Programm festnageln.

Nicht die Enteignung der großen Kapitale, Überführung der Betriebe in Arbeiterhand und planmäßige Produktion gemäß den Bedürfnissen der Gesellschaft ist ihr Ziel, sondern Aufteilung der Produktion auf kleine, zersplitterte Einheiten, die Herstellung einer Gesellschaft gleicher Kleinproduzenten.

Nicht die proletarische Revolution und Sturz der Herrschaft der Kapitalistenklasse sind ihr Ziel. Wir wollen keine Macht, töt es von den Anti-Autoritären. Wir schon! - antworten die revolutionären Kommunisten als entschiedenste Repräsentanten des Proletariats. Je rascher sich die Arbeiterklasse der Notwendigkeit der revolutionären Machtergreifung bewusst wird, umso besser, desto rascher ist Schluss mit der Bourgeoisherrschaft. Wer den Arbeitern und Arbeiterinnen, wer den Unterdrückten den Verzicht auf die Macht predigt, hilft in Wirklichkeit der Bourgeoisie, ihre Macht zu behalten!

Es ist kein Wunder, dass dieses autonome, anti-autoritäre Milieu von der Arbeiterbewegung und der Arbeiterklasse als revolutionären Subjekt nichts wissen will. Revolutionär ist ihnen der aufgeklärte, "selbständige", freie Kleinbürger, der sich durch Herstellung seiner "Autonomie" über die Gesellschaft, ihre Zwänge und besonders über die "manipulierten" Proletarier und ihre Organisationen erhebt.

Wo bei Autonomen und individualistischen Anarchisten über "Selbstbefreiung", "Selbstbestimmung", "Emanzipation" usw. geredet wird, ist in Wirklichkeit von der "Selbstbefreiung", "Selbstbestimmung" usw. der Kleinbürger die Rede. Das zeigt sich nicht zuletzt, wenn es um die "Demokratie" geht.

"Demokratie" ist eine Form der Klassenherrschaft, der Herrschaft von Menschen über Menschen. Die bürgerliche Demokratie ist nichts weiter als die mehr oder weniger verhüllte Diktatur der Bourgeoisie. Die Rätedemokratie, die Räteherrschaft ist nicht minder eine Form der Klassenherrschaft - die Herrschaft des Proletariats jedoch, die Diktatur der Mehrheit gegen die Verteidiger der alten Gesellschaft. Ein Periode dieser Herrschaft ist notwendig, um den Übergang zu klassenlosen Gesellschaft (und damit auch das Absterben des Staates und das Ende jeder Demokratie) sicherzustellen.

Für die Anti-Autoritären erscheint Demokratie demgegenüber als klassenneutrales Gut. Natürlich kennen auch sie die Kritik an der "schlechten" Demokratie, dem Parlamentarismus oder der Rätedemokratie. "Schlecht" gelten ihnen beide, weil sie politische Formen der Herrschaft von Klassen sind.

Dem setzen die kleinbürgerlichen Radikalen die Vorstellung einer "reinen", herrschaftsfreien Demokratie entgegen. In den letzten Jahren machte dies oft unter dem Titel "Basisdemokratie" oder "direkte Demokratie" die Runde.

Wie wenig demokratisch diese Formen in Wirklichkeit sind, kann jeder bestätigen, der mehrere Male bei autonomen Plena, studentischen Basisgruppen oder z.B. bei der internationalen Versammlung von INPEG in Prag ausgeharrt hat. Der Anti-Autoritarismus geht so weit, dass überhaupt Bündnisse zwischen Organisationen z.B. zur Mobilisierung gegen den IWF abgelehnt werden! Diese gelten als autoritär und würden der "horizontalen Vernetzung" und der "Bewegung von unten" entgegenstehen.

Da niemand "autoritär" sein will, gibt es keine Mehrheitsentscheidungen, sondern die endlose Suche nach dem "Konsens", danach, wer die meiste Zeit und das größte Durchhaltevermögen hat. Hinter dem "Demokratismus" dieser Strukturen verbirgt sich in Wirklichkeit nur Cliquenwirtschaft und Immunisierung gegen jede politische Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflicht.

Die eigentlichen Führer und Führerinnen dieser Gruppen werden gewissermaßen unsichtbar, verschwinden hinter der Chimäre der "Hierarchiefreiheit". Die Basisdemokratie der Kleinbürger bringt keineswegs Hierarchien zum Einsturz, sie macht sie nur schwerer greifbar und die informellen, cliquenmäßigen Drahtzieher praktisch gegen Kritik immun.

Die Ablehnung der "autoritären" proletarischen Organisationen hat hier eine ganz handfeste Bedeutung: Schutz der unhinterfragten und politisch unausgewiesenen "Autorität" des Kleinbürgers. Daher kann es auch keine politische Aussöhnung mit dieser Form des kleinbürgerlichen Demokratismus geben - sie ist der proletarischen Demokratie entgegengesetzt, und sie muss vom Proletariat wie alle anderen ideologischen Mätzchen der Anti-Autoritären und Autonomen bekämpft werden. Sie muss vom Proletariat vor allem auch deshalb bekämpft werden, weil sie ein Mittel ist, durch das die Dominanz der Kleinbürger über die Proletarier hergestellt werden soll.

Die Angst vor dem Proletariat führt nicht nur zu offenen oder unterschwelligen Angriffen auf die "Autoritären", sondern ganz praktisch zur Desorganisation und mitunter zur direkten Sabotage der Bewegung.

So weigert sich die Prager Gruppierung INPEG beharrlich, mit dem Komitee "Stopp IWF" zusammenzuarbeiten, weil dort Kommunisten aktiv sind! Gleichzeitig hat INPEG bis Ende August kaum Flugblätter verteilt und kein einziges Plakat geklebt! Statt die Bevölkerung, statt die Arbeiter und Jugendlichen zu mobilisieren und zu organisieren zieht es INPEG vor, die Medien irgendwie wohl zu stimmen. Die sind aber wie überall auf der Welt in der Hand des Kapitals und lassen sich von INPEGs Antikommunismus und Pazifismus nicht beschwichtigen und dazu überreden, die Hetze gegen die Anti-IWF-Aktionen einzustellen.

Die Genossen und Genossinnen der SOP, unserer tschechischen Schwesterorganisation, haben dieses kleinbürgerliche Sektierertum immer abgelehnt. Sie arbeiten mit der KP, der kommunistischen Jugendorganisation und linken Gewerkschaftern im Komitee "Stoppt den IWF" zusammen und haben gleichzeitig ihre Bereitschaft wiederholt deutlich gemacht, so weit sie möglich gemeinsam Aktionen gegen den IWF und die Weltbank zu organisieren.

Die Politik von INPEG, das politisch von individualistischen Anarchisten und anderen Kleinbürgern dominiert wird, fällt jedoch nicht vom Himmel. Sie ist nur ein Ausdruck für die bremsende und fatale Rolle, die diese kleinbürgerlichen Ideologien in der Bewegung gegen den globalen Kapitalismus spielen.

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