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OB-Wahl in Kassel

Çakir wählen reicht nicht

Matthias Bacher, Infomail 932, 2. Januar 2017

Wenn am 5. März die 150.000 Wahlberechtigten in Kassel zur Wahl des Oberbürgermeisters aufgerufen sind, können sie sich zwischen 6 KandidatInnen entscheiden: Sowohl die amtierende SPD, die 2011 mit Bertram Hilgen schon im ersten Wahlgang die Wahl für sich entschied, als auch CDU, Grüne, Freie Wähler und ein Spaßvogel von Die Partei stellen sich zur Wahl. Die Linkspartei tritt mit Murat Çakir, dem bisherigen Geschäftsführer der Rosa-Luxemburg-Stiftung Hessen, zur Wahl an.

Warum überhaupt wählen?

Die meisten werden sich fragen, warum sie überhaupt zur Wahl gehen sollen, ist doch das Amt des Oberbürgermeisters vor allem für die Verwaltung und zur Dekoration der Stadt geschaffen. Dass mit Bertram Hilgen seit 12 Jahren unangefochten die SPD amtiert und nun seinem Stadtkämmerer und „Kronprinzen“ Christian Geselle (SPD) die besten Chancen zur Nachfolge eingeräumt werden, trägt vermutlich auch nicht dazu bei, die Wahlbeteiligung über die mageren 43 % von 2011 zu heben. Doch auch wenn der Oberbürgermeister kaum politische Entscheidungen treffen kann, so ist seine Wahl ein Gradmesser für das politische Kräfteverhältnis in der Stadt und eine fürs Wahlvolk seltene Möglichkeit, mit der herrschenden Politik abzurechnen.

Der Kandidat fürs heimische Kapital: Christian Geselle

Favorit Geselle versucht sich dabei vor allem damit zu profilieren, dass alles bleibt wie es ist. So will der SPD-Franktionsvorsitzende und Ex-Polizist die heimische Wirtschaft (v. a. Auto- und Rüstungsindustrie) „stärken“ und die von ihm mit organisierte angeblich „soziale“ Kürzungspolitik seines Vorgängers Hilgen fortführen, welche unter anderem zur Schließung von Büchereien und der Streichung von Nahverkehrslinien führte. Zugleich sollen zum Wohle der Wirtschaft weitere Millionen in den vollkommen überflüssigen Regionalflughafen Kassel-Calden gepumpt werden. Gesetz und Ordnung sind dem Ex-Polizist schon seit seinen Einsätzen bei Castor-Transporten ein Anliegen: in Kassel soll nun die Videoüberwachung „sinnvoll“ ausgebaut werden.

Mit einem Ende der Dominanz durch die SPD in Kassel ist allerdings nicht zu rechnen, nicht zuletzt weil die SPD über den DGB nach wie vor gut in den Metallbetrieben Kassels verankert ist. Die OB-Wahl in Kassel spielt sich aber natürlich nicht im luftleeren Raum abseits des weltweiten Rechtsrucks und des Niedergang von SPD und CDU bundesweit ab. Schon bei der Kommunalwahl im März 2016 wurden SPD, CDU und Grüne massiv abgestraft, die AfD kam mit 11 % in die Stadtverordnetenversammlung, doch auch die Linkspartei erzielte mit fast 11 % ein für Westdeutschland beachtenswertes Ergebnis. In den Ortsbeiräten der Stadtviertel, in denen Studierende und ArbeiterInnen überwiegen, erreichte die Linkspartei gar bis zu 28 %. Auf dieser Welle der Ablehnung von SPD und CDU scheint ein zweistelliges Ergebnis für Çakir möglich.

Murat Çakirs „soziales Kassel für alle“

Murat Çakirs Gegenentwurf ist „ein soziales Kassel für alle“ und eine „soziale, ökologische und demokratische Stadtentwicklung“. Dafür hantiert er gern mit antikapitalistischen Floskeln, zitiert auch mal Marx, bleibt aber letztlich bei einem klassisch linksreformistischen Programm stehen. In Çakirs Wahlprogramm finden sich zwar viele gute Vorschläge: die Förderung des sozialen Wohnungsbaus, ein Sozialticket für GeringverdienerInnen, ein Privatisierungsstopp, der Ausbau der Radwege und des ÖPNV oder ein öffentliches Beschäftigungsprogramm im Sozialbereich. Von einer „Kampfansage an die neoliberale Denkweise“ ist das Programm aber weit entfernt, nicht zuletzt weil im Unklaren bleibt, wie die Forderungen überhaupt umgesetzt werden sollen. Im Interview mit der SoZ wird klar, was Çakir mit „Kampfansagen“ meint: „alle Verbesserungen stellen Systemfragen“. Als Beispiele für „Systemfragen“ führt er „gute Löhne für gute Arbeit“ oder „ökologisch verantwortliches Wirtschaften“ an. Nach dieser Lesart des Marxismus stellt auch der Brokkoli im eigenen Gemüsegarten die Systemfrage. Besonders absurd für einen bekennenden „Marxisten“ wird es, wenn Çakir als Angestellter der Stiftung mit dem Namen Rosa Luxemburgs meint, dass „der Widerspruch zwischen Reform und Revolution eben nur ,scheinbar’ ist.“

Obwohl das Wahlprogramm Çakirs auf der utopischen Annahme beruht, dass ein sozialverträglicher Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus möglich sei und wir es deshalb ablehnen, wäre es natürlich falsch, seine richtigen Vorschläge nicht zu unterstützen. Die Kommunalwahl 2016 hat gezeigt, dass ein nicht unerheblicher Teil der (migrantischen) ArbeiterInnenklasse und der Studierenden in Kassel sich von der Linkspartei eine Verbesserung ihrer Lage erhofft. Die Linkspartei in Kassel und damit auch ihr Kandidat Çakir repräsentieren folglich nicht nur Teile der ArbeiterInnenklasse, die sich für „ein sozialeres Kassel“ aussprechen, sondern sind auch Ausdruck des Willens zum Widerstand gegen die schwarz-grüne Landesregierung in Hessen und die rassistische und asoziale Politik der Bundesregierung. Je mehr Stimmen Çakir bekommt, desto eher deutlich wird auch dieser Wunsch politisch zum Ausdruck gebracht. Zugleich sollte jeder Stimme auch als Aufforderung der WählerInnen betrachtet werden, für seine Versprechungen nach der Wahl gemeinsam zu mobilisieren und so die Linkspartei und ihren Kandidaten in der Praxis zu überprüfen. Dadurch bietet sich die Gelegenheit, entweder die politische Konfrontation mit dem zukünftigen OB und der Stadtverwaltung zuzuspitzen oder die reformistische Politik Çakirs in der Praxis zu entlarven. In jedem Fall können so seine UnterstützerInnen leichter für eine revolutionäre Politik angesprochen und gewonnen werden. Als Gruppe ArbeiterInnenmacht rufen wir deshalb zur kritischen Wahlunterstützung Çakirs auf.

Çakir wählen, Widerstand organisieren

Niemand hat die Illusion, dass Çakir die Wahl zum Oberbürgermeister gewinnen könnte. Umso wichtiger ist deshalb die Aufforderung an Çakir und Linkspartei, sich nach der Wahl nicht nur weiter für ihre Versprechungen einzusetzen, sondern auch mit der gewonnenen Unterstützung praktisch für deren Umsetzung zu mobilisieren.

Wie die Vergangenheit in Kassel gezeigt hat, ist die SPD nicht willens, eine antirassistische Bewegung gegen den Aufschwung der AfD und ihre faschistischen Anhängsel zu organisieren, sondern beteiligt sich selbst an Hetze und Abschiebungen. Die Linkspartei könnte hier eine tragende Rolle einnehmen, indem sie den Aufbau einer antirassistischen Einheitsfront im Bündnis gegen Rechts Nordhessen unterstützt, in den Betrieben und auf der Straße dafür mobilisiert und gemeinsam mit den Organisationen der ArbeiterInnenklasse durch Aktionen in den Stadtvierteln die Rechten zurückdrängt.

Auch der Kampf für sozialen Wohnraum ist bisher nicht über vereinzelte, schwache Aktionen hinausgekommen. Damit die Finanzierung des sozialen Wohnungsbaus nicht zur Kürzung in anderen sozialen Bereichen führt, müsste für eine massive Umverteilung der Unternehmensgewinne in Kassel mobilisiert werden. Dazu sollte die Linkspartei offen den Bruch der Gewerkschaften mit ihrer verräterischen sozialpartnerschaftlichen Politik fordern. Dieser wird angesichts der Krise von Autokonzernen wie VW in Zukunft wichtiger denn je für die ArbeiterInnen in nahen VW-Werk Baunatal sein. Zwar wird den hiesigen ArbeiterInnen versprochen, dass ihr Standort sicher sei, doch jeder weiß, dass für Elektroautos nur ein Bruchteil der Beschäftigten benötigt wird – und mit Sicherheit keine der in Kassel gefertigten Abgasanlagen. Statt auf Abfindungen und Standortsicherungsverträge zu vertrauen, sollte die Linkspartei die Gewerkschaften zum Kampf gegen alle Entlassungen in den betroffenen Betrieben auffordern und diesen mitorganisieren – notfalls durch Besetzung und durch den Kampf für die entschädigungslose Enteignung unter ArbeiterInnenkontrolle.

Auch dann stellt sich die Frage, was in den Kasseler Metallbetrieben Sinnvolles statt Autos und Panzern produziert werden soll. Eine Frage, die nur gesamtgesellschaftlich und letztlich nicht im Kapitalismus gelöst werden kann. Es bleibt deshalb eine zentrale Aufgabe, den Kampf für begrenzte soziale Forderungen mit einer revolutionären Antwort zur Überwindung des Kapitalismus zu verbinden.

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