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Bremen

Beschäftigte der Assistenzgenossenschaft demonstrieren für Bezahlung nach Tarif

Jürgen Roth, Infomail 764, 19. Juli 2014

Am Mittwoch, dem 16. Juli 2014, demonstrierte ca. ein dutzend Angestellter der hiesigen Assistenzgenossenschaft im Beisein fast ebenso vieler Menschen mit Beeinträchtigung vor der bremischen Bürgerschaft für die Finanzierung ihres Tarifvertrags durch Sozialressort, Kranken- und Pflegekassen.

Die Assistenzgenossenschaft ist ein Kind der so genannten „Krüppelbewegung“, die seit Ende der 1970er Jahre dafür eintrat, dass auch Menschen mit Beeinträchtigung ein selbstbestimmtes Leben führen können. Das sah die Bewegung bei traditionellen Pflegeträgern nicht gegeben. Hier stehen die PatientInnen eben nicht an erster Stelle, sondern die Einrichtungen selber und zunehmend deren „Wirtschaftlichkeit“. Die Bremer Genossenschaft besteht aus ca. 60 Mitgliedern. Sie müssen nicht AssistenznehmerInnen sein - so werden diejenigen hier genannt, die deren Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Aber auch umgekehrt: AssistenznehmerInnen müssen nicht der Genossenschaft beitreten.

Seit 3 Jahren kämpfen die ca. 300 Beschäftigten dort um einen Tarifvertrag. Ihre Löhne sind in den letzten 19 Jahren nicht angestiegen. Um tariffähig zu werden, reichte die Existenz eines durchaus rührigen Betriebsrates nicht. Zahlreich organisierten sich die AssistenzgeberInnen in der Gewerkschaft ver.di. In zähen Verhandlungen gelang schließlich im April 2014 eine Einigung. Der an den TvÖD angelehnte Haustarifvertrag sieht vor, dass je nach Beschäftigungsdauer zwischen 10,08 und 12,50 € pro Stunde bezahlt werden sollen (vorher zwischen 9,15 und 10,15 €).

Zu hoch???

Diese fast beschämend moderate Erhöhung - bedenkt man die lange Zeitdauer - ist nun den Kostenträgern zu hoch. Stein des Anstoßes ist eine Entgeltstufe für ältere MitarbeiterInnen, die über den üblichen Rahmen der Länder-Tarifverträge hinausgehe, so Behördensprecher Lukaßen. Das sind die Taten, die den salbungsvollen Worten Sozialsenatorin Stahmanns (DIE GRÜNEN) folgen! Diese hatte in der Vergangenheit betont, es sei nicht hinnehmbar, wenn die Gehälter der Assistenzbeschäftigten hinter der allgemeinen Lohnentwicklung hinterherhinkten. Ein Schiedsgericht wird sich nun mit dem Disput befassen.

Die Demonstrierenden und ihre KollegInnen tun gut daran, nicht auf dessen Spruch zu vertrauen, sondern über weitere Arbeitskampfmaßnahmen nachzudenken. Ein eventueller Streik muss vorbereitet werden. Erste Bedingung dafür: sie brauchen eine gut funktionierende gewerkschaftliche Betriebsgruppe und ein Kollektiv von gewerkschaftlichen Vertrauenspersonen sowie im Streikfall tägliche Mitgliederversammlungen und ein nur diesen verantwortliches und jederzeit neu wählbares Streikkomitee.

Das Hauptproblem eines Streiks unter diesen Bedingungen ist aber: wie und auf wen kann er Druck ausüben? Die AssistenznehmerInnen, die eigentlichen ArbeitgeberInnen, stehen in dieser Auseinandersetzung zum Glück größtenteils auf der Seite des Personals. Das ist gut. Die eigentlichen VerweigererInnen sind hier die Kostenträger: Kassen und Behörde. Die würde ein Streik für die mehr als berechtigten Forderungen kalt lassen. Nichtsdestotrotz wäre ein Streik ein richtiges Signal unter der Bedingung, dass die Beschäftigten und NutzerInnen einen Notdienst einrichten, der z.B. ausschließt, dass letztere ihren Arbeitsplatz aufsuchen können. Allerdings ist nur eine kleine Minderheit erwerbstätig.

Die zweite Bedingung ist das Begreifen der den eigentlichen Anlass weit übergreifenden Bedeutung ihres Kampfes unter der Belegschaft selbst. Das gleiche Dilemma gilt ja für viele ähnliche Einrichtungen. Wichtig ist hier, eine Politisierung des Konfliktes anzustreben, eine Debatte, die Fragen aufwirft wie:

Wem nutzt ein Gesundheitswesen mit massenhaft prekärer Arbeit? Wieso hat der Staat kein Geld dafür, aber für die Rettung der Profite der Banken? Wie kommt die Staatsschuld zustande? Wo sitzen ihre Gläubiger? Wenn fortschrittliche Modelle wie die Assistenzgenossenschaft nur um den Preis von Hungerlöhnen ihrer Angestellten oder verschlechterter Betreuung ihrer NutzerInnen wirtschaftlich überleben können, warum gehören dann nicht alle Einrichtungen im Sozialbereich, darunter auch vornehmlich die Pflege Kranker und die Betreuung von Menschen mit Beeinträchtigung, die die Assistenz in Anspruch nehmen, in Staatshand?

Die Pflegenden und AssistenznehmerInnen brauchen wie alle ihre KollegInnen und Menschen in ähnlichen Lebensumständen einen Plan für ihre „Branche“, der für an den Bedürfnissen der AssistenzehmerInnen ausgerichtete Betreuungsstandards ebenso wie für angemessene Entlohnung des Personals eintritt. Dies lässt sich nur realisieren, wenn die Profiteure wie die großen Gesundheits- und Pflegeketten entschädigungslos verstaatlicht und unter Kontrolle ihrer NutzerInnen und ihres Personals vernünftig arbeiten können.

Dazu bedarf es aber auch einer Gewerkschaft, die diesen Arbeitskampf nicht isoliert verhungern lässt, sondern als Auftakt, als ein Signal für eine ganze Branche begreift und für die Solidarität mit ihm unter ihren zahlreichen Mitgliedern wirbt.

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Nr. 191, Juli/Aug. 2014
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