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Machtkampf in der Ukraine

Seine Ursachen und die Perspektiven der Arbeiterklasse

Martin Suchanek, Infomail 726, 1. Februar 2014

“Herr, die Not ist groß!

Die ich rief die Geister

Werd ich nun nicht los.”

(Goethe, Der Zauberlehrling)

Der Machtkampf in der Ukraine scheint in eine entscheidende Phase zu treten. Die Lage für die Regierung Janukowitsch wird prekär. Nach den ersten Massenprotesten gegen die Entscheidung, das Assoziationsabkommen mit der EU vorerst nicht zu unterzeichnen, hoffte sie noch, die Bewegung „aussitzen“ zu können.

Es schien so, als würden die Demonstrationen an Zahl und Kraft verlieren. Die „demokratische“ Opposition um die „pro-europäischen“ Kräfte Udar und die „Vaterlandspartei“ sowie die faschistische Swoboda waren tatsächlich nicht in der Lage, die Dynamik der ersten Tage aufrecht zu erhalten. Angekündigte „Generalstreiks“ stießen nicht auf die erhoffte Resonanz, etliche angekündigte Großdemonstrationen mussten sogar verschoben werden.

Die Regierung Janukowitsch überspannte dann jedoch den Bogen. Sie verschärfte das ohnehin schon extrem eingeschränkte Demonstrationsrecht Mitte Januar 2014 und begann, gegen die DemonstrantInnen in Kiew vorzugehen, die weiter den zentralen Maidan-Platz besetzt hielten. Die brutalen Räumungsversuche scheiterten und verfehlten ihren Zweck gänzlich. Die gefürchtete Sondereinheit „Berkut“ hinterließ massenhaft Verletzte, misshandelte Festgenommene auf unmenschliche Art und tötete mindestens 3,  womöglich sogar 6 DemonstratInnen.

Sie vermochte nicht, mit repressiven Mitteln die Protestbewegung zu brechen. Eine Staatsmacht freilich, die auf eine Verschärfung der Unterdrückung setzt, verliert im Falle ihres Scheitern nicht nur weiter an Legitimität in den Augen der Bevölkerung - sie wird auch nicht mehr gefürchtet.

Seither befindet sich Jankowitsch in der politischen Defensive. Den Oppositionsführern Klitscho, Jazenjuk und Tjagnoibok bot er die Rücknahme der Gesetzesverschärfungen vom Januar an, die Freilassung hunderter Gefangener sowie die Übernahme des Premierministerpostens an. In der Parlamentssitzung am 28. Januar trat Regierungschef Asarow zurück. Die Einschränkungen des Demonstrationsrechts wurden nach zwei Wochen wieder zurückgenommen.

Auch die festgenommenen AktivistInnen sollen freikommen, allerdings um Preis, dass die Besetzung der Ministerien u.a. Amtsgebäude aufgehoben wird und sich die Protestbewegung von der Straße zurückzieht. Das ist wiederum für die Opposition nicht akzeptabel, besteht doch ihr einziges wirkliches Druckmittel in der Mobilisierung und Besetzung der „Straße“.

Ob all diese Manöver Janukowitsch retten werden, ist mehr als fraglich. Was noch vor Wochen die Situation hätte befrieden können, reicht heute, da sich die Bewegung radikalisiert hat, der Einfluss der erzreaktionären und faschistischen Kräfte zugenommen hat, nicht mehr aus. Auch die Mehrheit der Provinzen steht nicht mehr unter Kontrolle oder jedenfalls nicht mehr unter eindeutiger Kontrolle des Staatsapparats und der Regierungsbehörden.

Diese Entwicklung hat auch dazu geführt, dass die eigentlichen Hintermänner von Janukowisch und seiner „Partei der Regionen“, die Oligarchen in der Ostukraine, von ihm abzurücken beginnen. Verliert er die Unterstützung dieses Teils der herrschenden Klasse, der großen Wirtschaftsbosse aus der Ostukraine, sind seine Tage gezählt. Klar ist schon jetzt: Die Oligarchen wollen keinen Bürgerkrieg, so wollen einen Ausgleich mit den Führern der Opposition, der ihre eigenen Pfründe sichert. Dafür sind sie auch bereit, Janukowitsch zu opfern.

Sicher nicht retten wird ihn das neu eingerichtete „Regierungscamp“, eine Platzbesetzung für den Präsidenten, wo gerade ein paar Hundert aus der Regionen kommen, die gegenüber den von der Opposition gehaltenen Plätzen eher als unfreiwilliges Zeichen der Schwäche erscheinen.

All das zeigt, dass es sich beim Regime Janukowitschs um ein reaktionäres Präsidialregime mit zunehmend diktatorischen Zügen handelt, dem jedoch die soziale Basis von allen Seiten wegbricht und dessen Stützen von ihm abrücken. Das Resultat ist ein Zick-Zack-Kurs von Offerten an die bürgerliche Opposition bis hin zur „Machtteilung“ einerseits und drohende Repression andererseits.

Es ist schwer vorherzusehen, wie sich die nächsten Tage entwickeln werden. Eine explosive Zuspitzung bis zu einem Volksaufstand scheint möglich. Auch eine brutale Niederschlagung der Opposition und die Errichtung einer offenen Präsidialdiktatur kann nicht ausgeschlossen werden - auch wenn die dafür notwendige Gefolgschaft der Armee überaus zweifelhaft ist.

Schließlich - und das ist die wahrscheinlichste Variante - kann es sein, dass die gegenwärtige, „unhaltbare“ Lage noch einige Zeit anhält, dass es weiter zwischen Regierung und Opposition samt der obligaten westlichen und russischen „Vermittler“, die allesamt auf „Nichteinmischung“ - vorzugsweise der jeweils anderen Seite - drängen, ein instabiles „Gleichgewicht“ der Kräfte gibt.

Und die bürgerliche Opposition?

Noch vor einigen Wochen wären die „Kompromissangebote als „Erdrutschsieg“ der Opposition erschienen, als „Kompromiss“, den sie euphorisch angenommen hätte. Heute lehnen die Oppositionsführer sie eher ab. Weder annehmen noch ablehnen - so lautete die hilflose erste Antwort von Klitschko nach der ersten Gesprächen mit der Regierung.

Die Helden der Opposition erweisen sich selbst nur als Getriebene. Der politisch unbeschriebene Boxer Klitschko, dessen „pro-europäische“ Urda wenig mehr Programm hat als allgemeine Phrasen und enge Beziehungen zu konservativen Parteien in der EU, war das „Gesicht“ der Bewegung in den ersten Wochen. Gerade seine politische Naivität und Farblosigkeit machten ihn, einen „Quereinsteiger“, der aus „eigener Kraft“ etwas erreicht hatte, zur scheinbar selbstlosen Projektionsfläche höchst widerstreitender Ziele und Interessen in der Opposition.

Keinem anderen hätte jemand abgenommen, dass er an die bürgerlich-demokratischen und „westlichen“ Freiheitsphrasen, an „Ehrlichkeit“ und „Kampf gegen Korruption“, die er permanent abließ, wirklich glaubt.

Natürlich ist Klitschko in Wirklichkeit keineswegs so „unbeschrieben“ und „selbstlos“ wie er gern tut, sondern er und „seine“ Partei Urda sind eng mit der Adenauer-Stiftung der deutschen CDU verbunden und würden ohne deren finanzielle Hilfe und politische „Beratung“ wahrscheinlich gar nicht existieren.

Der andere „bürgerliche“ Oppositionsführer, Jazenjuk, hätte diese Rolle nicht spielen können. Seine „Vaterlandspartei“ steht selbst ganz offen für einen Teil der ukrainischen Oligarchen, einer Schicht von milliardenschweren „Wirtschaftsführern“, die sich nach der Unabhängigkeit und der Restauration des Kapitalismus gnadenlos bereichert haben. Sie bestimmen das wirtschaftliche und politische Geschehen im Land. Während sich ein Teil der Oligarchen, v.a. jener aus der russischsprachigen Ostukraine, die „Partei der Regionen“ des amtierenden Prädidenten Janukowitsch hält, versammelt der andere Teil hinter der „Vaterlandspartei“ und zu einem geringeren Teil auch in Udar.

Erst recht konnte der Chef der faschistischen „Freiheitsbewegung“ Swoboda, deren unverhohlener Rassismus und Anti-Semitismus, deren Morde an AntifaschistInnen sogar die EU-Kommission noch vor wenigen Monaten als „alarmierend“ kritisierte hatte, nicht einfach als „Sachwalter der Menschenrechte“ firmieren.

Klitschko und Jazenjuk dachten nie daran, Swoboda die Führung der Opposition zu überlassen. Sie gingen vielmehr davon aus, den Apparat und die Organisiertheit der Rechten für ihre Zwecke zu nutzen. Dasselbe gilt für die hinter der Opposition stehenden westlichen Imperialisten aus der EU, allen voran aus Deutschland, wie auch für die USA.

Die Entwicklung der letzten Tage und Wochen freilich hat die Kräfte innerhalb des Oppositionslagers verschoben. Swoboda, die „Kraft für das Grobe“, und andere, teilweise noch „radikalere“, faschistische Gruppen haben sich im Kampf gegen die Spezialeinheiten des Innenministeriums als die „Vorhut“ der Opposition erwiesen. Sicher sind sie (noch) weit davon entfernt, die Mehrheit der großen Massendemonstrationen mit Hunderttausenden zu stellen, aber ihr Gewicht ist ungleich größer unter den regelmäßig am Maidan Anwesenden und sie fungieren auch als Sprachrohr der „Kompromisslosigkeit“ mit der Regierung Janukowitsch.

Zugleich hat die Ausweitung der Bewegung in viele Regionen der Ukraine, die Besetzung von Regierungsgebäuden usw. dazu geführt, dass die Staatsgewalt zumindest zeitweilig zurückgedrängt wurde und dass sich die Bewegung und damit auch die Ansprüche an deren Führung ausgeweitet haben. Jetzt, da der Sturz Janukowitschs greifbar nah ist, ist es schwer, einen „Kompromiss“ zu erzielen, ohne die Massen (nicht nur die Rechtsradikalen) zu verprellen.

Innere Widersprüche

Hier zeigt sich, dass die inneren Widersprüche der „Oppositionsbewegung“ mehr oder weniger offen hervortreten.

Udar und die Vaterlandspartei sind eng mit dem europäischen Imperialismus und etlichen Oligarchen samt ihren „Clans“ verbunden. Ihr Ziel ist es, einen politischen Machtwechsel zugunsten des an der EU orientierten Flügels der herrschenden Klasse in der Ukraine herbeizuführen. Dabei wollen sie die aktuelle Schwäche von Janukowitsch, der Partei der Regionen und der ost- und südukrainischen, russischsprachigen Fraktion der Oligarchen nutzen, um einen möglichst großen Teil ihrer Ziele durchzusetzen und einen möglichst großen Teil des Staatsapparates unter ihre Kontrolle zu bekommen. Denn neben den hehren Zielen der EU-Anbindung und dem Anschluss an die westlichen Marktverhältnisse, geht es den Funktionären dieser Parteien natürlich auch darum, die Posten und Ämter im Staatsapparat zur möglich raschen persönliche Bereicherung zu nutzen.

Der europäische Imperialismus - allen voran der deutsche politische Apparat inklusive diverser Parteien und Stiftungen (v.a. der Konrad Adenauer Stiftung der CDU, die Urda federführend aufgebaut hat) - haben von Beginn die Bildung einer Regierung forciert, die die Ukraine enger an die EU heran führt und das Assoziationsabkommen, das die Rolle der deutschen und europäischen Wirtschaft in der Ukraine stärkt, ohne Wenn und Aber unterschreibt.

Ebenso wie Klitschko und Jazenjuk haben sie kein Interesse an „unkontrollierten“ Zuständen im Land. Daher drängen die westlichen Politiker jetzt auf einen „vernünftigen Ausgleich“ und „Kompromiss“, der auch die „Partei der Regionen“ und die östlichen Oligarchen in eine zukünftige Machtteilung einbindet, um das Land „stabil“ zu halten. Sie wollen eine „kontrollierte“ Machtübergabe, jetzt wo der Präsident schwach und auch die Möglichkeiten Russlands, seine eigenen imperialen Interessen durchzusetzen, geschwächt sind. Während Putin noch vor einigen Monaten wie der Sieger im Kampf um die Ukraine aussah, so scheinen dem russischen Imperialismus jetzt die Felle davon zu schwimmen.

Dieser hatte zwar versucht, das geplante Assoziierungs-Abkommen mit der EU mittels Zuckerbrot und Peitsche zu stoppen. Die Peitsche gab es in Form willkürlicher Handelserschwernisse im Jahr 2013 - eine unmissverständliche Drohung an die ukrainische Regierung, die Handelswege der ostukrainischen Wirtschaft abzuschneiden. Zuckerbrot gab es in Form von Krediten, um das von extremer Staatsverschuldung und Inflation gebeutelte Land vor der Zahlungsunfähigkeit zu bewahren.

Um weiter gegen die Regierung Janukowitsch vorzugehen und den Erfolg Russlands auszuhebeln, haben die bürgerlich-liberale Opposition, aber auch die EU im Januar versucht, eine sich radikalisierende Bewegung als Rammbock gegen Janukowitsch zu nutzen. Diese droht ihnen aber nun ihrerseits zu entgleiten, weil sie tw. die Form kleiner Aufstände, bewaffneter Kämpfe mit der Polizei und dem Kampf um die Macht annimmt.

Um die Massen vor ihren Karren zu spannen, können Klitschko und Jazenjuk nicht offen ihre eigentlichen sozialen Ziele aussprechen, sondern müssen diese in Beschwörungsformeln von „Freiheit“ und „Demokratie“ kleiden und die reale Verzweiflung der Massen nach zwei Jahrzehnten wirtschaftlichen und sozialen Niedergangs - jedenfalls vordergründig - aufgreifen. Die allgegenwärtige staatliche Willkür, die natürlich auch während der Regierungszeit der „Vaterlandspartei“ ungebrochen weiterging, die Korruption, Einschüchterung politischer AktivistInnen, wird nun aufgegriffen.

Satellitenstaat

Natürlich stellt sich dann den von der Opposition mobilisierten Hunderttausenden die Frage, warum mit einem Regime noch verhandelt werden soll, das offenkundig schwankt. Wozu braucht es noch einen Kompromiss mit dem Innenminister, wenn das Ministerium besetzt ist?

Die Antwort ist einfach. Die Oligarchen und die EU (und letztlich auch Russland) wollen „kontrollierte und geordnete“ Verhältnisse. Sie wollen eine Ukraine, die ihren Zwecken dient, nicht permanentes „Chaos“.

„Was wäre, wenn die Proteste gegen Janukowitsch Erfolg hätten und die Opposition das Ruder übernehme? Eine beschleunigte Annäherung der Ukraine an die EU wäre mit hohen Risiken behaftet“, fürchtet der Herausgeber der konservativen FAZ, Günther Nonnenmacher in einem Kommentar am 28. Januar. Daher könnte ein Umsturz der Straße nicht nur „falsche Hoffnungen“ wecken, sondern auch ein „falsches“ Modell für die Zukunft darstellen.

Swoboda hingegen will eine „nationale Ukraine“, eine faschistische Umwandlung der Verhältnisse. Die EU ist den Rechten letztlich kein zentrales Anliegen, sie schwelgen lieber in der Phantasie einer „Großukraine“, die frei von Juden und Jüdinnen u.a.  „Minderwertigen“ sein und zugleich zur europäischen Großmacht werden soll.

Doch wie so viele Utopien ist dieses Programm ebenso reaktionär wie phantastisch. Eine „unabhängige Ukraine“ oder gar eine „Großukraine“ ist auf Basis eines schwachbrüstigen Kapitalismus aufgeschlossen.

Die Einflusssphären werden zwischen Deutschland u.a. führenden imperialistischen EU-Staaten einerseits und Russland andererseits neu abgesteckt. Die USA und vielleicht auch China werden hier noch ein Wort mitreden. Für die Ukraine ist nur die Rolle eines Satellitenstaates der einen oder anderen imperialistischen Macht vorgesehen.

Das wissen bei allen Unterschieden alle Fraktionen der ukrainischen Oligarchen ebenso wie die Parteien der Regierung und de bürgerlichen Opposition. Sie wissen auch, dass die Regierung einer kapitalistischen Ukraine auf absehbare Zukunft nur zwischen EU und Russland lavieren kann. Denn: Egal, wer in Kiew regiert, die Energieversorgung des Landes hängt am russischen Gas und Erdöl. Russland ist neben der EU der größte Handelspartner. Schon heute arbeiten auch hunderttausende UkrainerInnen als BilliglöhnerInnen in Russland oder Polen.

Soziale Ursachen der Proteste

Die Zählebigkeit und Härte der Auseinandersetzung weist freilich darauf hin, dass sich in der von bürgerlichen und reaktionären Kräften geführten Opposition reale, tief verwurzelte Probleme der ukrainischen Gesellschaft artikulieren. Ginge es nur um ein Assoziierungs-Abkommen oder um Cliquenkämpfe von Oligarchen, so wäre nicht zu erklären, warum sich eine solche Massenbewegung entwickeln konnte, die jetzt die Rechten zu bündeln hoffen.

Nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 ging die Wiedereinführung des Kapitalismus mit einer vom IWF durchgesetzten „Schocktherapie“ einher. Diese führte in den Jahren 1992-95 zu einem Einbruch des Bruttoinlandsprodukts von 60 Prozent! Erst auf dieser Basis konnte sich die Wirtschaft „stabilisieren“ und erreichte im Gefolge der Stabilisierung der russischen Ökonomie um die Jahrtausendwende relativ hohe jährliche Wachstumsraten von durchschnittlich 7 Prozent.#

Von der globalen Krise wurde dann die Ukraine besonders hart getroffen. Allein 2009 sank die Wirtschaftsleistung um 18 Prozent. Die Industrie brach ein, die Landeswährung, die Hrywnja, verlor enorm. Die Staatsverschuldung stieg massiv an - und damit die permanenten Zahlungsprobleme, um die Bedingungen des IWF zu erfüllen.

Die Lebensbedingungen der Massen sind praktisch seit zwei Jahrzehnten im Keller. Die Arbeitslosigkeit lag 2012 bei 8,05 Prozent, für 2013 wird sie auf 8,24 Prozent geschätzt,  was auf den ersten Blick nicht besonders hoch erscheint. Ein Blick auf die Einkommen in Industrie, Handel und Landwirtschaft gibt jedoch ein weit genaueres Bild.

Der Durchschnittslohn beträgt gerade 300 Euro/Monat, der Mindestlohn 110 Euro. Zum Vergleich: Der Durchschnittslohn ist in Polen etwa drei Mal so hoch, in Russland oder Weißrussland rund 2,5 Mal. Kein Wunder also, dass mehrere hunderttausend ArbeitsmigrantInnen in diesen Ländern als BilliglöhnerInnen arbeiten.

Hinzu kommt, dass die Beschäftigten immer wieder von Nichtbezahlung ihrer Gehälter betroffen sind - nicht nur in der Privatwirtschaft, sondern auch Staatsbedienstete. Zudem spielen die Gewerkschaften praktisch keine Rolle, so dass ein gerichtliches Einklagen ausstehender Löhne überhaupt keine Erfolgschance hat.

Doch nicht nur die Arbeiterklasse lebt unter erbärmlichen Bedingungen. Auch die Landwirtschaft liegt darnieder. Vor allem im Westen des Landes ist diese extrem unproduktiv, die individuellen Bauernwirtschaften reichen für wenig mehr als Subsistenzproduktion. Es ist daher kein Wunder, dass dort die Armut noch größer und die durchschnittlichen Einkommen in der Westukraine deutlich geringer als im stärker industrialisierten Osten sind.

Die ukrainische Wirtschaft ist seit der Restauration des Kapitalismus nicht nur fest in eine globale, kapitalistische Arbeitsteilung und Ordnung eingefügt, im Inneren wird sie von wenige „Oligarchen“, Großkapitalisten, die sich das vormalige Staatseigentum unter den Nagel rissen und riesige Wirtschaftsimperien bildeten, beherrscht. Die wichtigsten politischen Parteien werden von Gruppen solcher Oligarchen und deren „Clans“ dominiert.

So findet sich einerseits der „westliche“ Block um die „Vaterlandspartei“ und „Udar“, auf deren anderen die „Partei der Regionen“ samt ihrer „Kommunistischen Partei“ genannten Hilfstruppe.

Die Oligarchen haben nicht nur das Land unter sich mehr oder weniger aufgeteilt. Sie haben auch durchgesetzt, dass ihre Klasseninteressen von jeder Regierung „respektiert“ werden. So ist nicht nur deren Privateigentum sakrosankt, keine der im Parlament vertretenen Parteien - einschließlich von Swoboda oder der KP - hat in den letzten Jahren auch nur ein einziges Mal die faktische Steuerbefreiung diese Multimilliardäre in Frage gestellt.

Dieses System kapitalistischer Ordnung ist natürlich keine innere ukrainische Erfindung, sondern vielmehr das Resultat der Einordnung des Landes als von Russland und der EU umkämpfte Halb-Kolonie im Rahmen einer imperialistischen Weltordnung. Ein ukrainisches „Großkapital“ konnte sich hier nur auf „mafiöse“ Art bilden. Nur dieses wäre aber in einzelnen Sektoren überlebens- und exportfähig. Um sich zu bereichern, braucht es ein System der Vetternwirtschaft.

Die Staatsverwaltung und der Beamtenapparat, die weit verbreitete Korruption sind Folge, nicht Ursache dieser einzig möglichen Form des Kapitalismus für ein solches Land. Die Politik der EU wie Russlands sollen und können dies nur weiter befestigen.

Darin liegt auch das Illusionistische der gesamten bürgerlichen Politik in der Ukraine. Die einen versprechen, dass eine noch stärkere Westanbindung das Land voran bringen würde. Die Beispiele Bulgarien und Rumänien zeigen samt der rassistischen Einschränkung der Freizügigkeit der dortigen ArbeiterInnen im EU-Raum, was auch für die UkrainerInnen tatsächlich vorgesehen ist.

Während mit der EU illusorische Freiheitshoffnungen verbunden sind und diese im Vergleich zu russischen und ukrainischen Verhältnissen als „rechtssicherer“ Raum erscheinen mag, so hat der russische Imperialismus nur Drohungen für den Fall unbotmäßigen Verhaltens der Ukraine zu bieten.

Hinzu kommt, dass die Lage in der Ukraine auch von einem ungelösten, nationalen Gegensatz geprägt ist. Über Jahrhunderte waren die UkrainerInnen eine unterdrückte Nation und in den Völkergefängnissen von Großmächten - dem zaristischen Russland und dem Habsburgerreich - aufgeteilt. Das wurde unter dem Stalinismus, unter polnischer und erst recht unter der Nazi-Herrschaft fortgesetzt.

Die politischen Parteien des Landes sind - auch wenn formell „gesamt-ukrainisch“ - bis heute entlang nationaler Linien aufgestellt. So hat die aktuelle Regierung Janukowitsch ebenso wie die KP ihre Basis im russischsprachigen Osten und Süden, während die bürgerliche Opposition und Swoboda im ukrainisch sprechenden Westen und Norden des Landes dominieren.

Es ist eine Ironie der aktuellen Entwicklung, dass die bürgerlichen Kräfte trotz aller Beschwörungen der „Gesamtinteressen der ukrainischen Nation“ das Land unweigerlich nicht zusammenführen, sondern auseinander treiben.

Die Rechten geben sich z.B. als konsequenteste Sachwalter der Bewegung und v.a. der deklassierten Bauern und Lohnabhängigen der Westukraine. Schuld an deren Misere wären entsprechend der rassistischen, chauvinistischen Manier nicht der Kapitalismus oder „die Oligarchen“, sondern Juden, Kommunisten und auch Russen. Ihre reaktionäre nationalistische Politik ist - entgegen ihren Proklamationen - eine Politik, die die Spaltung des Landes entlang nationaler Linien vertieft.

Für eine chauvinistische Kraft wie Swoboda, die sich anti-russisch geriert, ist es praktisch unmöglich, eine Massenbasis in der Ost- und Südukraine zu erringen. Wohl aber kann ihr weiteres Erstarken zur Formierung ähnlicher Kräfte im Osten des Landes führen.

Der soziale Nährboden dafür ist da: die massenhafte Deklassierung von kleinbürgerlichen ländlichen Schichten wie auch von „Mittelschichten“ in den Städten und großer Teile der Lohnabhängigen.

Auch wenn aktuell eine wie auch immer geartete „Machtübertragung“ oder Teilung innerhalb der Parteien der Oligarchen die wahrscheinlichste Entwicklung - sei es in Form einer „Übergangsregierung“ oder/und von Neuwahlen - ist, so ist schon heute klar, dass auch eine solche Regierung keines der grundlegenden Probleme des Landes wird lösen können. Im Gegenteil: Die Existenz jeder bürgerlichen Regierung im Land ist untrennbar mit der Aufrechterhaltung der Ursachen aller Probleme verbunden.

Krise der Arbeiterbewegung

Die Gefahr der weiteren Stärkung einer reaktionären, faschistischen Massenbewegung wird dann noch akuter - zumal die Misere einhergeht mit einer enormen Schwäche, ja dem fast vollständigen Fehlen einer Arbeiterbewegung.

Die „Kommunistische Partei“ ist ein politischer und parlamentarischer Wurmfortsatz der regierenden „Partei der Regionen“. Sie hat seit den letzten Wahlen die Regierung mitgetragen und ist natürlich auch mitverantwortlich für deren Politik. Hinzu kommt, dass sie v.a. eine „russische“ Partei ist, die wenig Einfluss und Mitglieder in den ukrainisch-sprachigen Landesteilen hat - eine verdiente Folge ihrer eigenen chauvinistischen Politik.

Der Bruch mit der politischen Unterordnung unter die bürgerlichen - ob pro-russischen oder pro-westlichen - Parteien ist eine erste Bedingung, um überhaupt die Voraussetzungen für eine eigene, gesamtukrainische Arbeiterbewegung zu schaffen. Das schließt zugleich die Unabhängigkeit von westlichen wie vom russischen Imperialismus ein.

Das gilt nicht nur auf politischer, sondern auch auf gewerkschaftlicher Ebene, wo große Teile noch eng an „ihren“ Oligarchen, „ihr“ Unternehmen gebunden sind und wo die Gewerkschaften in der Regel auch noch entlang nationaler Linien gespalten sind.

Dabei ist der Organisationsgrad der dominierenden FPU (Föderation der ukrainischen Gewerkschaften), die rund drei Viertel aller gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten vertritt, sogar relativ hoch. Aber sie verteilt in erster Linie Sozialleistungen, die sie zum großen Teil vom Staat bzw. den Unternehmen erhält. Als Nachfolgevereinigung der stalinistischen Staatsgewerkschaften hat sie keinerlei Tradition in der kämpferischen Vertretung von Interessen, sie organisiert nicht nur keine Streiks, sondern auch keine Auseinandersetzungen um Lohnerhöhungen. Zugleich sind die Beschäftigten auf die Krankenversorgung und die Urlaubszuschüsse bzw. Ferienplätze angewiesen, was den hohen Organisationsgrad erklärt, der über dem Russlands liegt und fast doppelt so hoch ist wie in der BRD.

Die zweitgrößte Gewerkschaft des Landes nennt sich „Konföderation Freier Gewerkschaften in der Ukraine“ (KVPU) und ist auf den Osten des Landes konzentriert, da sie Anfang der 1990er Jahre aus den Bergarbeiterprotesten entstanden ist. Sie organisiert weniger als 300.000 ArbeiterInnen. Dazu kommen etliche neue Vereinigungen wie Sahyst Pratsi, die unter den Erwerbstätigen in den Supermärkten internationaler Großhändler wie Metro und Auchan Fuss gefasst hat, die aber meist nur wenige AktivistInnen umfassen.

Die ukrainische Linke ist sehr schwach. Die Anarchisten und die Anarcho-Syndikalistische Organisation sind Teil der Oppositionsbewegung gegen den drohenden oder schon etablieren „Faschismus“ der Regierung. Andere, wie Gruppierungen wie „Borotba“ wenden sich mit der Losung „Nein zu einem Bürgerkrieg! Gegen das unmögliche Verhalten der Regierung und der Rechten!“ und beanspruchen, sich keiner der bürgerlichen Fraktionen anzuschließen. Sie haben jedoch selbst - jedenfalls bislang - kein positives Programm für die Situation und die weitere Entwicklung.

Dabei ist die Lage in der Ukraine von wichtigen inneren Widersprüchen gekennzeichnet. Der politische Machtkampf spiegelt eine tiefe gesellschaftliche Krise wider. Einerseits kann es nicht so weitergehen wie bisher, andererseits ist keine wirkliche Lösung in Sicht.

Bemerkenswert ist die innere Widersprüchlichkeit der Lage auch in anderer Hinsicht. Die  Demonstrationsbewegung und die tiefe Spaltung der herrschenden Klasse haben das Land in eine Situation gebracht, wo selbst Bürgerkrieg und Zerfall möglich sind. Andererseits ist die Arbeiterklasse, ist die große Mehrheit nicht als eigenständige gesellschaftliche Kraft in Erscheinung getreten.

Das ist natürlich nur möglich, ohne jede politische Konzession an die verschiedenen bürgerlichen Kräfte. Aber die Arbeiterbewegung muss sich auch zum Sachwalter der Nöte und Sorgen der Massen machen.

Das schließt ein, dass ein Aktionsprogramm erarbeitet und vertreten wird, das die zentralen demokratischen und wirtschaftlichen Probleme der ArbeiterInnen und Bauern lösen kann.

Dazu braucht die Arbeiterklasse eigene Kampforganisationen. Das bedeutet zum einen unabhängige, gesamtstaatliche Gewerkschaften auf einer demokratischen und klassenkämpferischen Basis. Zum anderen bedeutet es die Schaffung einer Arbeiterpartei, deren Programm die wichtigsten Probleme an ihren Wurzeln fasst, die sich auf ein revolutionäres Aktionsprogramm zur Schaffung einer Arbeiter- und Bauernrepublik stützt.

Eine solche politische Organisation sollte für folgende Forderungen eintreten:

Aufhebung aller anti-demokratischen Gesetze, die die Versammlungsfreiheit und politischen Rechte einschränken! Aufhebung aller Einschränkungen des Rechts auf gewerkschaftliche Betätigung und des Streikrechts! Bruch aller Bindungen der Gewerkschaften an „ihre“ Unternehmen!

Nein zur möglichen Verhängung eines Ausnahmezustandes! Auflösung von Berkut, aller polizeilichen Sondereinheiten und der Geheimdienste! Offenlegung aller Befehle und Anweisungen an die Sicherheitskräfte! Nein zum Einsatz der Armee - Bildung von Soldatenkomitees!

Aufbau von Selbstverteidigungsgruppen der ArbeiterInnen aller Nationalitäten gegen mögliche Übergriffe der Polizei wie gegen faschistische Kräfte!

Offenlegung aller Abkommen und Verbindungen der bürgerlichen Parteien mit der EU und Russland, aller Abmachungen und finanziellen Verstrickungen von Regierung und Opposition mit ihren imperialistischen Verbündeten wie mit den verschiedenen Oligarchen!

Bildung eigener Untersuchungskommissionen durch die ArbeiterInnen und Bauern - gewählt auf betrieblichen bzw. örtlichen Versammlungen!

Progressive Besteuerung von Vermögen und Besitz! Entschädigungslose Enteignung der Oligarchen und Konfiskation ihres Privatvermögens! Enteignung ukrainischer und ausländischer Großunternehmen und Banken! Fortführung und Restrukturierung dieser Unternehmen unter Arbeiterkontrolle und gemäß den Bedürfnissen der ukrainischen lohnabhängigen und bäuerlichen Massen! Ausarbeitung eines Notplans, der sich an diesen Bedürfnissen orientiert!

Günstige Kredite für die Bauern, um die Produktivität zu erhöhen, Ermutigung der Bildung von Genossenschaften, Enteignung großer Agrarbetriebe und der Agrarindustrie unter Arbeiterkontrolle!

Für ein Programm gesellschaftlich nützlicher öffentlicher Arbeiten, um die Arbeitslosen und prekär Beschäftigten in Lohn und Brot zu bringen! Gesetzlicher Mindestlohn sowie Mindestrenten in Höhe von 300 Euro/Monat, die automatisch der Preissteigerung angepasst werden!

Streichung der Auslandsschulden bei IWF, Russland und EU! Ansonsten ist ein Entkommen aus der Abhängigkeit und Rückständigkeit des Landes unmöglich. Schaffung eines staatlichen Außenhandelsmonopols! Die Arbeiterbewegung in der EU und in Russland muss dafür eintreten, dass die Wirtschaftsbeziehungen auf der Basis von Gleichberechtigung neu geregelt werden und dass alle Beschränkungen der Freizügigkeit und jede Diskriminierung von UkrainerInnen am Arbeitsmarkt aufgehoben wird!

Organisierung von betrieblichen, gewerkschaftlichen, von Stadtteil- und Dorfversammlungen sowie Versammlungen der einfachen SoldatInnen, um die aktuelle Krise zu diskutieren und gemeinsame Forderungen jenseits von nationaler Spaltung zu erheben und zu entwickeln!

Bildung von Ausschüssen und Aktionskomitees auf diesen Versammlungen, die sich lokal, regional und landesweit koordinieren!

Solche Ausschüsse könnten die Basis für Gegenmachtorgane der Arbeiterklasse sein. Sie könnten des öffentliche Leben im Fall eines Zusammenbruchs organisieren - und würden so ein Alternative darstellen zur Polizei wie auch zur den selbsternannten „Ordnungskräften“ der Opposition. Im Falle eines Ausnahmezustands müssten sie mit einem Generalstreik antworten - und könnten so zugleich die Basis für eine Arbeiter- und Bauernregierung bilden, die sich auf Räte stützt, den korrupten Staatsapparat zerschlägt, die verschiedenen Flügel der Konterrevolution entwaffnet, Arbeiterkontrolle und eine demokratische Planwirtschaft einführt.

Ein solches Programm dürfte nicht nur auf die Ukraine beschränkt sein. Es müsste in den Rahmen einer gesamteuropäischen, ja globalen Revolution, des gemeinsamen Klassenkampfes mit den ArbeiterInnen in der EU und in Russland, des Kampfes für Vereinigte sozialistische Staaten von Europa gestellt werden.

Zweifellos scheint eine solche Perspektive angesichts der politischen Ohnmacht der Arbeiterklasse in weiter Ferne. Doch umgekehrt, ist unserer Meinung nach die Errichtung einer Arbeiter- und Bauernregierung die einzig realistische Lösung der aktuellen politischen Krise. Nur so kann der permanente Niedergang des Landes gestoppt werden, der aus der Abhängigkeit von imperialistischen Mächten resultiert und zu einem ständigen Hin und Her zwischen verschiedenen Flügeln der Oligarchen, zu immer mehr Überwachungsstaat und erstarkendem Faschismus und Nationalismus führt.

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