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Deutschland und die Weltwirtschaft

Aufschwung auf tönernen Füßen

Markus Lehner, Infomail 558, 29. Mai 2011

Angesichts sinkender Arbeitslosenzahlen und Rekorderträgen aus dem Export ist für die Apologeten des Kapitals die „Krisenhysterie“ überwunden. Tatsächlich lag die Weltproduktion schon Ende 2009 wieder auf Vorkrisenniveau, dasselbe wird für 2011 auch für den Welthandel prognostiziert.

Doch die Entwicklung ist global äußerst unterschiedlich. In einigen Regionen ist die Krise noch lange nicht vorbei. Zudem sind in der wirtschaftlichen Erholung jede Menge Faktoren und Risiken eingebaut, die eine jähe Rückkehr der Krise wahrscheinlich machen.

Weltwirtschaftliche Situation

Jene Länder der halbkolonialen Welt, die weder bedeutende Rohstofflieferanten, noch Ziele des großen industriellen Investments sind, bleiben weiterhin schwer von der Krise getroffen. Verschuldung, Währungskrise und v.a. Stagflation führen zu einer Spirale des Niedergangs, die wachsende Verelendung nach sich zieht. Die Lebensumstände in vielen afrikanischen und asiatischen Ländern haben sich für die Arbeiterklasse und die Masse der Armen extrem verschlechtert. Auch die arabischen Revolutionen wurden nicht zuletzt durch diese wirtschaftliche Notlage ausgelöst.

Die USA und Britannien waren im Epizentrum der Finanzmarktkrise. Die neoliberale Umverteilungspolitik dort wurde lange durch extrem hohe private Verschuldung zur Sicherung der Binnennachfrage verdeckt. Die enormen Finanzspritzen konnten dort das Finanz- und Monopolkapital wieder stabilisieren, doch der Aufschwung dort bleibt weit hinter den Raten der letzten Jahrzehnte zurück. Zudem geht er einher mit einer weiterhin prekären Lage großer Teile der Arbeiterklasse und der Mittelschichten. Für die Weltwirtschaft bleiben diese Länder zwar als Zentrum des Finanzkapitals weiter essentiell, sie fallen aber als die großen Importeure für die Exportindustrien stark zurück.

Zentral für die weltwirtschaftliche Erholung war das rasche Wiederanspringen der Konjunktur in China, Brasilien und Indien (mit Russland die „BRIC-Länder“). Geschah dies zunächst durch massive Konjunkturprogramme, so folgte bald ein Zustrom von sichere Anlage suchenden Kapitals aus den Finanzzentren. Inzwischen wird durch z.T. stark kreditfinanzierte Binnennachfrage speziell in China und Brasilien ein neuer weltwirtschaftlicher Nachfragepol geschaffen. Starke Wachstumsraten sind aber jetzt von ebenfalls stark steigenden Inflationsraten begleitet. Noch dazu kratzt der durch Kapitalzufluss und Handelsbilanzüberschüsse bedingte Aufwertungsdruck auf deren Währungen an den Wettbewerbsvorteilen dieser Länder.

In der EU hat sich das Gefälle zwischen schwachen Netto-Importeuren und Netto-Kreditnehmern und den Ländern mit „produktiveren Kapitalen“ zu einer permanenten Krise verfestigt. Das deutsche Kapital betreibt seit Jahren eine Lohndumping-Politik. Seit den 1990ern verschafft es sich durch ständig steigende Produktivität bei dahinter zurückbleibender Lohnentwicklung (sinkende Lohnstückkosten) große Konkurrenzvorteile gegenüber anderen EU-Kapitalen. Die Stellung als Mega-Exportkapital verteidigt Deutschland besonders durch seine Stellung in der EU. Die Kehrseite davon ist eine wachsende Verschuldung schwächerer EU-Staaten. Die Rettungsaktionen gegenüber Griechenland und Irland, aber auch der „EU-Rettungsschirm“ sind so auch Stützungsaktionen für die deutsche Exportkonjunktur.

Mit der Erholung der Weltwirtschaft wurde auch die Konjunktur in den großen Rohstoff-Exportländern stabilisiert, v.a. in Russland, Brasilien und den Golfstaaten. Damit einher ging allerdings auch eine starke Spekulationswelle von nach Anlage in Rohstoffwerten suchendem Kapital. Stark steigende Rohstoffpreise sind ein wesentlicher Inflationstreiber und eine der Gefahren für die Weltkonjunktur.

Japan drohte nach einer kurzen Erholungsphase nach langer Wirtschaftskrise gerade wieder in die Rezession zu stürzen, als es von den Folgen des schweren Erdbebens, des Tsunamis und dem Nuklearunfall von Fukushima getroffen wurde. Das bewirkte Produktionsausfälle, die zu kurzzeitigen Problemen auf den Weltmärkten wegen der Bedeutung japanischer Zulieferindustrien führen. Insgesamt wird der Wiederaufbau allerdings eher wie ein gewaltiges Konjunkturprogramm wirken. Auch damit sind langfristig aber Probleme für die Weltwirtschaft verbunden: japanisches Finanzkapital - heute einer der großen Player in internationalen Investments - wird nach Japan zurückfließen; außerdem werden die Rohstoffpreise durch die gestiegene Nachfrage eher anziehen.

Krisenverlauf

Mit dem Ausbruch der Finanzmarktkrise 2007 setzte in mehreren Stufen eine Deflationsspirale ein:

Anleger flohen in Panik aus riskanten Finanzprodukten und bauten möglichst viele ihrer Verbindlichkeiten ab. Dadurch stürzten die Preise auf den Finanzmärkten ab, ein Finanzinstitut nach dem anderen kam an die Grenzen der Zahlungsfähigkeit.

In einer zweiten Phase, im zweiten Halbjahr 2008, führten die Liquiditätsprobleme der Banken unmittelbar zum Einbruch des Welthandels und der Kreditvergabe an Unternehmen der „Realwirtschaft“. Handels- und Industrieunternehmen reagierten mit panischen Kostensenkungsprogrammen, was wiederum zu Preisverfall und noch stärkeren Gewinneinbrüchen führte. In dieser Phase schlitterte die Weltwirtschaft als Ganzes in die Rezession.

Ende 2008 / Anfang 2009 erreichte die Krise die Nachfrage (Investitionen und Konsum), womit die Deflation in die Depression überzugehen drohte.

Politisches Krisenmanagement

Die Reaktion der politischen Führungen war zunächst von der davor jahrelang gepredigten Ideologie geprägt, nachdem die Märkte sich selbst regulieren und wieder ins „Gleichgewicht“ kommen. Danach ist es sinnlos, z.B. ein Unternehmen zu retten, weil der Eingriff in den Markt nur die anderen „gesünderen“ Marktteilnehmer schädige. Nachdem man dies sogar an einer der weltgrößten Investmentbanken (Lehmans) ausprobiert hatte - und danach de facto am Rand des Abgrunds stand -, agierten die kapitalistischen Staaten plötzlich wieder ganz „ideologiefrei“ als ideelle Gesamtkapitalisten. Sie akzeptierten, dass die (nach neoliberaler Ideologie einzig erlaubte) Interventionsmöglichkeit durch die Zinspolitik der Zentralbanken (die Senkung der Zentralbankzinsen gegen Null war ohne Effekt geblieben) nicht ausreichte, sondern erstens die Geldpolitik gelockert werden musste, Milliarden durch staatliche Maßnahmen zur Rettung der Finanzinstitute aufgebracht und schließlich sogar staatliche Konjunkturpakete aufgelegt wurden.

Die deutsche Politik war da besonders zögerlich. Zwar wurden für die Bankenrettung  rasch 450 Milliarden bereitgestellt und sogar Banken verstaatlicht (HRE, Comerzbank), als in der EU jedoch koordinierte Konjunkturpakete in Höhe von mindestens 1% des BIP geplant wurden, lehnte die Bundesregierung dies ab. Es dauerte jedoch nur wenige Wochen, da war die Große Koalition angesichts der drohenden Katastrophe unter lautem Gejammer gezwungen, zwei Konjunkturpakete aufzulegen, die sogar mehr als 2% des BIP umfassten. Natürlich diente der Katzenjammer nur dazu, die Kosten der Krise den Lohnabhängigen aufzuhalsen.

Dies wurde dadurch flankiert, dass man eine absurde „Schuldenbremse“ für Bund und Länder in die Verfassung einbaute. Diese wird heute als Peitsche für Kürzungsmaßnahmen im Bund und als Disziplinierungsmittel gegen Länder und Kommunen benutzt.

Mit der Zuspitzung der Krise nach dem Lehman-Zusammenbruch, brach die Kreditvergabe dramatisch ein. Bankenrettungspaket und Konjunkturpaket 1 zeigten gewisse Wirkung, aber erst das zweite Konjunkturpaket führte wirklich zu einer Beruhigung.

Ist Deutschland aus der Krise?

Finanzmarktkrise, Kreditklemme für die Realwirtschaft und weltweiter Nachfrageeinbruch führten im zweiten Halbjahr 2008 auch in Deutschland zu einem massiven Einbruch, v.a. im Industrie- und Handelssektor. Durch die staatlichen Maßnahmen bedingt, war absurderweise der Einbruch im Finanzsektor weniger spürbar! Auch der öffentliche Sektor war zunächst wenig betroffen.

Besonders der industrielle Absturz (Exportwirtschaft) führte zu einem Absturz der Gesamtkonjunktur um 5% (Nachkriegsrekord!). Von daher waren die staatlichen Konjunkturpakete, so bescheiden sie im internationalen Vergleich auch waren, für das deutsche Kapital überlebenswichtig. Insbesondere Investitionsförderungen (KfW-Kredite, Abschreibungen etc.) erwiesen sich langfristig als wirksam.

Als zentrale Konjunkturstütze und als Vorbereitung des Aufschwungs erwies sich die mehrmals verlängerte Kurzarbeiterregelung. Diese verhinderte Massenentlassungen, stabilisierte die Konsumnachfrage (auch durch flankierende tarifliche Regelungen) und erzeugte eine für das Kapital langfristig niedrige Lohntendenz.

Die speziell von Ökonomen viel geschmähte Abwrackprämie erwies sich durch die Stützung der zentralen deutschen Exportindustrie als sehr wirksam. Damit konnte gerade die Autoindustrie 2009 wieder voll von der anziehenden Konjunktur profitieren. Diverse Bau- und Verkehrsprojekte leiteten auch für den Bausektor eine zeitweise Erholung ein.

Entscheidend für das Anspringen der Konjunktur im zweiten Halbjahr 2009 war jedoch die massive Nachfrage nach deutschen Industrieprodukten aus Asien (China) und Lateinamerika (Brasilien). 2010 machten diese Regionen zwei Drittel der weltweiten Erholung aus! Im ersten Halbjahr 2010 stieg die Warenausfuhr Deutschlands (gegenüber dem Vorjahr) nach Brasilien um 61,3%, nach China um 55,5% und nach Russland um 18,3%. Insgesamt hat sich die Bedeutung der BRIC-Länder für den deutschen Export in den letzten 10 Jahren mehr als verdoppelt (auf etwa 10% des Gesamtexports), wenn auch der EU-Raum weit wichtiger ist. Vom Aufschwung profitieren vor allem Auto-, Investitionsgüter- und Chemieindustrie. Insgesamt wuchsen die deutschen Exporte 2010 um 14,1% und haben damit den Einbruch des Vorjahres (-14,3) fast wettgemacht.

Insgesamt schien sich die Entwicklung im zweiten Halbjahr 2010 wieder abzukühlen. Die Effekte der Asien-/Lateinamerika-Nachfrage ließen nach, die Krise im Euroraum (v.a. die Schuldenkrise in Griechenland und Irland), aber auch ein einsetzender weltweiter „Währungskrieg“ deuteten auf ein Double-Dip-Szenario des Abgleitens in eine erneute Rezession hin. Wesentlich dafür war die überraschende Fortsetzung einer expansiven Geld- und Finanzpolitik in den USA, die dort die Erholung gestützt hat (+2,8% in 2010), und die Stabilisierung des Euroraums bei weiterhin expansiver Geldpolitik.

Daher wird für 2011 insgesamt eine Fortsetzung der weltwirtschaftlichen Erholung prognostiziert. In Deutschland soll sich lt. Frühjahrsgutachten das Wachstum von 3,7 auf immerhin noch 3% abschwächen (die Prognose im Herbst lag noch bei +2,2%!), in den USA soll sich die Erholung auf 3,1% beschleunigen, das Wachstum der BRIC-Länder soll sich fortsetzen. In Europa sind Griechenland, Portugal, Spanien und Irland weiterhin in der Rezession, während Britannien durch die Attacken der konservativ-liberalen Regierung in die Stagnation getrieben wurde (negatives letztes Quartal 2010; nur expansive Geldpolitik bewahrt die Ökonomie vor der Rezession). Frankreich (+1,6%) und Italien (+1%) erholen sich nur langsam.

Ähnlich der deutschen Ökonomie sind auch andere Länder mit starken Exportwirtschaften (Skandinavien, Österreich, Benelux) auf dem Weg der Erholung. In Osteuropa ist die Lage zweigeteilt: Polen oder Slowakei sind im Aufschwung, Ungarn, Rumänien und Bulgarien stagnieren dagegen.

Doch all diese Prognosen sind sehr unsicher, u.a. wegen der Entwicklungen in der arabischen Welt. Kein Wunder, dass sich die Angst vor einer Destabilisierung der wichtigsten Ölförderländer gerade in Deutschland und den BRIC-Staaten am ausgeprägtesten zeigt. Daneben belasten auch die Lieferausfälle aus Japan und die zu erwartende Verteuerung von Atomstrom die aktuelle Konjunkturentwicklung.

„Folgeschäden“ der Finanzmarktkrise

Seit 2008 bringen die Zentralbanken der großen Wirtschaftsmächte Unmengen an Geld in Umlauf. Großteils dient dies der Rettung von Vermögenswerten, die danach wieder für neue Anlage zur Verfügung stehen. Entscheidend für die Neuanlage war bis heute die Zinsdifferenz zwischen USA/EU/J und den BRIC-Staaten. Dies führt zu einem massiven Zufluss von Investitions- und Leihkapital in die BRIC-Staaten und deren Umfeld. Es ermöglicht dort große Konjunkturporgramme (China hat 2009 sogar 13% des BIP in ein solches investiert), steigende Privat-Verschuldung zu günstigen Bedingungen und einen massiven Anstieg an Direktinvestitionen. Der die Weltkonjunktur befeuernde Aufschwung der BRIC-Staaten ist also direkt verknüpft mit der Geldflut im Gefolge der Finanzkrise.

Die Kehrseite dieses Aufschwungs ist, dass die zu erwartende Inflation speziell in den BRIC-Staaten immer deutlicher spürbar ist (2010: China und Brasilien um 5%, Indien sogar um 9%). Zusammen mit der immer stärkeren Abhängigkeit des weiteren Aufschwungs - sowohl zur Finanzierung von Investitionen als auch des Konsums von Krediten - ergeben sich daraus deutliche Anzeichen einer Konjunkturüberhitzung. Dies führt auch zu Spekulationsblasen auf dem Immobilien- und Aktiensektor. Bei einer spürbaren Abkehr von der expansiven Geldpolitik in USA/EU/J (z.B. steigende Zinsen) könnte dies rasch zu einer Implosion des Wachstums führen, wodurch das investierte Kapital ebenso rasch wieder abfließen würde (ähnlich wie bei der Asienkrise in den 1990ern). Nachdem in den USA schon lange über eine „Exit-Strategie“ aus der Dollarflut diskutiert wird, ist ein solches Szenario nicht unmöglich - und würde durch die Exportabhängigkeit Deutschland heftiger betreffen als die USA selbst.

Auch die EU und die USA sind durch die expansive Geldpolitik von neuen Spekulationswellen in Aktien, Immobilien und Rohstoffen betroffen. Nicht zuletzt ist das Niveau der Inflation (speziell bei Nahrungsmitteln und Energie) so hoch wie seit Jahren nicht mehr (Deutschland 2010: 2%, Prognose 2011: 2,3%; Preise für Energie und Nahrungsmittel 2010: +5,7%). Das deutsche Kapital selbst ist von den steigenden Ölpreisen weniger stark betroffen, da es diese durch verstärkte Exporte in die Ölförderländer „recyceln“ kann.

Durch die staatlichen Krisenmaßnahmen wurden die Schulden der Krise zur „Schuldenkrise“ der betroffenen Staaten. Die mit Steuergeldern geretteten Finanzmärkte erzeugen nun ungehemmt Druck auf die defizitären Staaten. Wer nicht entsprechende Einschnitte ins soziale Netz vornimmt, wird mit hohen Zinsaufschlägen zur Refinanzierung der Krisenlasten bestraft. Zusätzlich zu den Schulden durch Konjunkturprogramme kommen die „Altlasten“ der Bankenrettung, z.B. die Schrottpapiere in staatlichen Bad Banks.

Ob USA oder EU: Die Wirkung der Konjunkturmaßnahmen wird sich im nächsten Jahr umkehren - von Konjunkturförderung zu deren Bremsung durch die einsetzenden Auswirkungen der „Sparpakete“ (wie schon jetzt bei Griechenland, Irland und Portugal zu beobachten).

Das Bankensystem in der BRD ist vermutlich stärker angeschlagen, als es scheint. Das Verhältnis zwischen Eigenkapital und Umsatz (Einlagen) z.B. der Deutschen Bank wird von Analysten als sehr niedrig eingestuft.

Das sich nur leicht abschwächende Leistungsbilanzdefizit der USA, die widerstreitenden Konjunkturentwicklungen im Euro-Raum, die inflationäre Entwicklung in den BRIC-Staaten, wie auch der Aufwertungsdruck auf deren Landeswährungen etc. lassen erwarten, dass die Währungsturbulenzen auch 2011 weitergehen - trotz Euro-Rettungs-Fonds bzw. Euro-Stablilitäts-Mechanismus.

Doch insgesamt bleibt das größte ökonomische Risiko für das Kapital das überakkumulierte Kapital. Die Maßnahmen zur „Regulierung des Finanzsektors“ sind lächerlich und können das Problem von Spekulationskrisen ohnehin nicht lösen. Mit der Rettung der nach Anlage suchenden Vermögen, der mit der Krise sogar noch potenzierten Ungleichheit, also erhöhte Vermögenskonzentration, ist die Gefahr verbunden, dass das Abkühlen des realwirtschaftlichen Aufschwungs übergeht in eine Spekulationsblase mit unkalkulierbarerem Risiko. Der nächste Super-GAU kommt bestimmt - trotz aller Sicherheits-Regulatorien.

Diese auf der ökonomischen Seite angelegten Risiken sind eng verknüpft mit den wachsenden politischen Unsicherheiten des imperialistischen Systems. Die arabischen Revolutionen sind nicht nur Ausdruck der verzweifelten Situation von Arbeiterklasse und Armen in dieser Region. Sie markieren auch den weiteren Zerfall der US-Hegemonie. Im letzten Jahrzehnt haben die USA nicht nur sehr viel von ihrer ökonomischen Stärke verspielt. In den Interventionen im Irak und in Afghanistan zeigten sich auch deutlich deren politisch-militärische Grenzen. Die bisher relativ schwache Intervention in die Aufstandswelle im arabischen Raum bedroht die USA mit einem beträchtlichen Einflussverlust in einem ihrer „Herrschaftsgebiete“.

Aber auch die EU erweist sich jetzt nicht nur als „ökonomische Chaostruppe“, sondern auch als politischer Trümmerhaufen. Die BRIC-Staaten konnten insgesamt an politischem Gewicht gewinnen. Aber v.a. die autoritären Regime in China und Russland sind stark von einer günstigen ökonomischen Entwicklung abhängig, wollen sie ihre inneren Widersprüche eindämmen. Dabei gerät China immer mehr unter Druck einer selbstbewusster werdenden Arbeiterklasse, die sich gegen die Inflation auch mit erfolgreichen Kämpfen für Lohnsteigerungen wehrt.

Internationaler Klassenkampf

Die größte Unsicherheit für das Kapital ist jedoch der Widerstand der Arbeiterklasse. Die Lohnabhängigen zahlen die Kosten der Krise derzeit vor allem durch:

die Inflation; weltweit gibt es kaum Länder, in denen es gelungen ist, die Löhne auch nur annährend der Preisentwicklung anzupassen;

Angriffe auf Sozialstandards im Rahmen der „Schuldenbewältigung“;

Verschärfung von Arbeitsbedingungen und Erhöhung der Ausbeutungsrate (z.B. durch Leiharbeit).

Diese Kämpfe gehen oft weit über rein gewerkschaftliche Auseinandersetzungen hinaus und verbinden sich z.B. in Ägypten mit politischen Auseinandersetzungen. Immer dringender stellt sich daher die Frage der politischen Führung der Arbeiterklasse, die sich der Krisenpolitik des Kapitals mit einer revolutionären sozialistischen Antwort entgegenstellt. In etlichen Ländern kulminierten Proteste und Streiks in vorrevolutionären oder sogar offen revolutionären Situationen. Diese Tendenz wird auch die nächsten Jahre prägen und die Schaffung einer neuen revolutionären Organisation auf nationaler und internationaler Ebene mit neuer Schärfe stellen.

Deutschland als Krisengewinner

Schon im Aufschwung 2006 waren die Konjunkturforscher vom Ausmaß des Aufschwungs in der BRD überrascht. Schon damals unterschätzten sie das industrielle Potential Deutschlands. Aufgrund „verkrusteter Strukturen“, „Überreguliertheit“, „Starrheit des Arbeitsmarktes“, „zuviel Einfluss der Gewerkschaften“ etc. wurde Deutschland als „kranker Mann“ der Weltkonjunktur bejammert - dagegen wurde das finanzmarktgetriebene Wachstum in den USA und Britannien als „Zukunftsmodell“ gefeiert. Die Bedeutung der industriellen Basis auch in den imperialistischen Zentren wurde völlig unterschätzt. Tatsächlich behielt das deutsche Kapital bewusst ein starkes produktives Industrie-Kapital mit international gesehen in Wirklichkeit günstiger Ausbeutungsrate.

Tatsächlich hat sich in der deutschen Industrie schon seit Jahrzehnten das Verhältnis von Löhnen und Produktivität so verschoben, dass niedrige Lohnstückkosten ein wesentlicher Wettbewerbsvorteil geworden sind. Gute Infrastruktur und qualifiziertes Personal führen zusätzlich dazu, dass das deutsche Kapital in jeder globalen Aufschwungssituation zu raschem Wachstum in der Lage ist.

Das deutsche Kapital ist in mehrfacher Weise Krisengewinner. Zweifelsohne wurden Marktanteile von Konkurrenten gewonnen und Profite rasch wieder hergestellt (auch für das Finanzkapital). V.a. hat sich die Stellung Deutschlands in den BRIC-Staaten und deren Umfeld im Vergleich zu den G7-Konkurrenten verbessert.

Die Ausbeutungsbedingungen konnten in der Krise im Interesse des Kapitals verbessert werden. Die Produktivitätsfortschritte während der Phase mit geringer Beschäftigung, die Ausweitung von prekärer Beschäftigung, das weitere Drücken des Lohnniveaus etc. konnten aufgrund von Arbeitplatzangst und Krisenpartnerschaft mit den Gewerkschaften durchgesetzt werden. Die Konjunkturprogramme wurden zur Modernisierung von Infrastruktur und Maschinerie genutzt.

Während der EU/Euro-Krise konnte das deutsche Kapital seine Stellung ausbauen. Im Rahmen des Euro-Stabilisierungsmechanismus besteht jetzt (zusammen mit der Kontrolle über die EZB) ein noch direkterer Zugriff des deutschen Kapitals auf die Wirtschaftspolitik  anderer EU-Staaten.

Insgesamt ist hier auch die Rolle der deutschen Gewerkschaften verheerend. Trotz Inflation, verschlechterter Arbeitsbedingungen und Angriffen auf Sozialstandards bleiben sie in der Krisenpartnerschaft mit dem Kapital gefangen und erweisen sich unsolidarisch gegenüber den Arbeiterkämpfen in den Ländern, von deren Problemen das deutsche Kapital profitiert. Solange in den Kernschichten der Arbeiterklasse das Aufatmen über den Erhalt der Arbeitsplätze noch groß genug ist, wird sich an der Situation auch nicht so bald etwas ändern.

„Arbeitsmarktreformen“ und die Spaltung der Arbeiterklasse

Schon im Aufschwung 2006 zeigte sich, dass die Arbeitsmarktreformen der Schröder-Regierung (Hartz-Gesetze) ihren vorgeblichen Zweck, die Reduktion der Langzeitarbeitslosigkeit, nicht erfüllten. Zwei Effekte sind besonders offensichtlich: einerseits führen Aufschwünge des Arbeitsvolumens jetzt v.a. zu einer Ausdehnung des Arbeitszeitvolumens bei den höheren Lohnsegmenten und der prekären Beschäftigung bei den unteren Lohnsegmenten. Ersteres wurde besonders durch die tariflichen Öffnungsklauseln ermöglicht. Inzwischen werden in „guten Zeiten“ Arbeitskonten ohne Ende aufgebaut, ohne dass sich das wie früher in Überstunden niederschlägt (auch dies ein effektiver Lohnverlust). Andererseits: im „gewaltigen“ Aufschwungjahr 2010 wurden ganze 120.000 sozialversicherungspflichtige Stellen geschaffen, davon nur die Hälfte Vollzeitstellen. Zwei Fünftel des Beschäftigungsaufbaus ging in die Leiharbeit (die inzwischen 2,5% der Beschäftigung ausmacht).

Die offiziellen Arbeitslosenzahlen (Ende 2010: 3,15 Millionen) sind stark geschönt. Die Höhe der realen Arbeitslosigkeit wird auf ca. 6 Millionen geschätzt. Zudem blieb der Sockel von etwa 2 Mill. Langzeitarbeitslosen - trotz aller Reformen - erhalten. Offiziell arbeitet heute jeder fünfte Erwerbstätige, also etwa 8 Millionen, im „Niedriglohnsektor“ (unter zwei Drittel des mittleren Stundenlohns) und verdient weniger als 10 (Westen) bzw. 7 (Osten) Euro pro Stunde.

Insgesamt hat durch die Umverteilungserfolge des Kapitals (ob über den ökonomischen oder politischen Klassenkampf) die soziale Ungleichheit stark zugenommen. Dabei hat sich aber auch die Ungleichheit in der Arbeiterklasse selbst erhöht. Gegenüber dem stark zurück fallenden Niedriglohnsektor konnten die mittleren und höheren Lohnsegmente ihre Standards halten bzw. im oberen Bereich sogar ausbauen. Noch gelingt es dem deutschen Kapital, eine breite Schicht von Arbeiteraristokratie zu halten und zur Stabilität seiner industriellen Basis auch ruhig zu stellen. Insofern ist das Verhalten der (Arbeiter)bürokratie in Gewerkschaften, SPD und Linkspartei auch nicht verwunderlich.

Andererseits sind die Angriffe gerade auch auf diese Kernschichten in den letzten Jahrzehnten unübersehbar gewesen und haben zu einem Abstieg bestimmter mehr oder weniger großer Teile davon geführt. Insofern ist die Verhaltensweise „Wir halten uns ruhig und hoffen, dass es andere trifft“ auf die Dauer ein Weg ins Verderben. Wie schon immer in der Geschichte der Arbeiterbewegung gibt es nur eine Chance des Widerstands: die massiven Spaltungen der Klasse können und müssen in einer gemeinsamen, internationalen Kampffront gegen die Krisenpolitik des Kapitals überwunden werden!

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